Hightech-Kapitalismus in der großen Krise. Wolfgang Fritz Haug
href="#ulink_5d045a29-13eb-5f56-8ff5-f6163ad1f2ce">50 Individuelle Erfahrung und sozioökonomischer Sachverhalt treten hier auseinander. Für die Einzelnen hat sich je nach Lage tatsächlich etwas verändert. Ihnen haben sich neue Möglichkeitsfelder geöffnet. Man sollte jedoch Möglichkeit nicht arglos verstehen. Möglichkeit hat die Verwirklichung erst noch vor sich. Es hängt von der Klassenlage der Einzelnen ab, welche Hindernisse sie auf dem Weg zur Selbstverwirklichung überwinden müssen. Entgrenzte Konkurrenz macht es ständig ebenso möglich, dass man vom Zugang zu den neuen Möglichkeitsfeldern mangels bestimmter Ressourcen abgeschnitten wird.
Dass jene abstrakten Grundmuster aber in ihrer konkreten Ausprägung, ihrer Dynamik und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung sich ändern mit den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen, also mit den beiden ungleichen, aber interdependenten Determinanten der Produktionsweise, lässt sich gerade auch an der Finanzsphäre ablesen. Auch die »Finanzindustrie« bzw. Finanzbranche – anders als die Industrie produziert sie ja nichts –, diese auf das »imperiale Dollarsystem« gestützte und neben der Informations- und Kommunikationstechnologie zweite neue Wachstumsbranche (Gowan 2007, 156), auf welche die Vereinigten Staaten noch einmal ihre ökonomische Hegemonie gründeten, beruht ja auf dem Einsatz neuartiger Produktivkräfte, und ihre Praxisformen und Akteure ändern sich mit diesen. Wir vergewissern uns dessen am Beispiel der Börse mit Blick auf Phänomene, die sich erst nach dem Erscheinen des ersten Bandes herausgebildet haben. Man stößt dabei sogleich aufs Verhältnis des kapitalismusgeschichtlichen Allgemeinen und seiner hightech-kapitalistischen Besonderung.
Vom transnationalen Hightech-Kapitalismus zu sprechen fordert dazu auf, an der epochal dominanten, auf dem kapitalistischen Einsatz von Informationstechnologie gründenden Produktionsweise Maß zu nehmen. Wenn Marx von den bestimmenden Akteuren und Produktionsverhältnissen einer Epoche sagt, dass sie »allen übrigen Rang und Einfluss« anweisen (42/40), so bedingt in der Gegenwart die Dominanz der Weltmarktakteure Rang und Einfluss der lokal oder national, ja sogar regional begrenzt aktiven Kapitale. Wir beschreiben die Weltmarktakteure als transnationale Konzerne,51 auch wenn sie weiterhin nationalstaatlich verortet und bis zu einem gewissen Grad gesichert sind,52 weil sie »eine neue Phase des Monopolkapitalismus« prägen, »gekennzeichnet durch die Unterwerfung des Ensembles der betroffenen nationalen Produktionssysteme unter die Herrschaft dieser Monopole, die dadurch einen Gutteil des in den beherrschten Sektoren produzierten Mehrwerts absaugen« (Amin 2011, 73). Vor allem richtet »Produktionsweise […] als Begriff für die widersprüchliche Einheit von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, die [von Marx] als ›ökonomische Struktur‹ begriffen wird« (HTK I, 31), die Aufmerksamkeit auf die Widersprüche zwischen den von der Arbeit bewegten Produktivkräften und den durch diese bedingten transnationalen Produktionsverhältnissen. Die Schicksale des Wissens, die der Name der »Wissensgesellschaft« illusionär anspricht, und die bis zu einem gewissen Grad verselbständigte Bewegungsform und Macht des Geldkapitals und seiner Kreditverhältnisse, die ein Name wie »Finanzmarktkapitalismus« hervorhebt, entscheiden sich in jenen widersprüchlichen Grundverhältnissen der »ökonomischen Struktur«, wenn auch nicht unmittelbar und in jedem einzelnen Moment.
51 »Tatsache ist, dass von den hundert größten Wirtschaftseinheiten der Gegenwart 51 Konzerne und 49 Staaten sind. Walmart produziert in mehr als 161 der 191 Nationalstaaten der Welt, und Mitsubishi produziert mehr als Indonesien, das Land mit der viertgrößten Bevölkerung der Welt.« (Escudero 2011) – In Deutschland ist seit unserem ersten Band die Transnationalisierung des Eigentums am Industriekapital rasant fortgeschritten. Um 2000 gehörten noch zwei Drittel der Dax-Konzerne deutschen Anlegern. 2011 waren 17 der 30 Dax-Unternehmen mehrheitlich in ausländischer Hand. Bei Siemens, Daimler, Bayer und Allianz hielten deutsche Anleger nicht einmal mehr ein Drittel der Aktien. Auch die Eigentümer von BASF, Eon und Deutsche Bank waren mehrheitlich Ausländer. (»Ausverkauf der Deutschland AG«, FAZ, 11.5.2011, 19) Ein Geflecht von Überkreuzbeteiligungen zwischen Großunternehmen hatte zuvor die »Deutschland AG« zusammengehalten. Das entsprach der fordistischen Bindung an den Nationalstaat. Die rot-grüne Bundesregierung stellte dann Beteiligungsverkäufe von der Steuer frei und setzte damit den Entflechtungsprozess in Gang. Die Unternehmensbeteiligungen kamen auf den Markt. Der aber war dank der Liberalisierung des Kapitalverkehrs bereits Weltmarkt.
52 In Teil II wenden wir uns den Widersprüchen und Bewegungsformen der transnationalen Hegemonieverhältnisse und imperialen Strukturen zu, die für Weltmarktakteure notwendig sind.
Viertes Kapitel
Die Zeit der Spekulation
Bet’ und arbeit’!, ruft die Welt.
Bete kurz, denn Zeit ist Geld!
Georg Herwegh, Bundeslied
1. Attraktion und Repulsion von Arbeitszeit
Die Kapitalisierung des Geldes beschreibt Marx phänomenologisch als Verwandlung des von diesem dargestellten Werts in ein »automatisches Subjekt«. Und zwar erscheint der Wert hier als »das Subjekt eines Prozesses, worin er unter dem beständigen Wechsel der Formen von Geld und Ware seine Größe selbst verändert, sich als Mehrwert von sich selbst als ursprünglichem Wert abstößt, sich selbst verwertet« (K I, 169). Stellt der Wert sich in dieser Bewegung »als eine prozessierende, sich selbst bewegende Substanz« dar (ebd.), so verlangt dieser Prozess nach einem persönlichen Träger, der sich auf deren Standpunkt stellt und insofern aufhört, »sich als Selbstzweck zu behandeln, vielmehr sich jenem verselbständigten Zweck-Selbst zur Verfügung stellen, sein Ich zum Ich des sich verwertenden Werts machen« muss (KV II, 102). Sein Verhalten entspricht dem Eigentumsbegriff der bürgerlichen Moderne als »Verfügung über fremde Arbeitskraft« (3/32), sei es unmittelbar über ihre Verwirklichung als lebendige Arbeit, sei es mittelbar über deren Resultate. Ohne Arbeitskraftverkäufer würde das Kapital erlöschen zu nichts als »verstorbener Arbeit«, die sich – direkt oder indirekt – erst »belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit und umso mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt« (K I, 247). Damit kommt die Zeit ins Spiel. »Die Zeit, während deren der Arbeiter arbeitet, ist die Zeit, während deren der Kapitalist die von ihm gekaufte Arbeitskraft konsumiert.« (Ebd.) Im ›wilden‹ Kapitalismus, in dem noch keine Arbeiterbewegung die Beschränkung der Arbeitszeit erkämpft hat, »wird freie Zeit für eine Klasse produziert durch Verwandlung aller Lebenszeit der Massen in Arbeitszeit« (552). Doch auch der profitierende Betreiber dieses Prozesses entgeht nicht einer analogen Verwandlung seiner Lebenszeit, womöglich mit dem Unterschied, dass er sein Dasein als personifiziertes Kapital nicht auf geregelte Arbeitszeiten begrenzen kann und ihm das ›Abschalten‹ und ›Ausspannen‹ noch weniger gelingt als dem von Joseph Weizenbaum 1980 beschriebenen Typus des »zwanghaften Programmierers« (vgl. HTK I, 22).
Die Tendenz zur Ausdehnung der Arbeitszeit pro gekaufter Arbeitskraft als Quelle zusätzlichen absoluten Mehrwerts geht einher mit der komplementären Quelle zusätzlichen relativen Mehrwerts dank maximaler Verkürzung der Arbeitszeit pro konkretem Arbeitsprodukt, sei es durch Potenzierung der gegenständlichen Produktionsmittel, sei es durch »dichtere Ausfüllung der Poren der Arbeitszeit, d.h. Kondensation der Arbeit« (23/432). Entsprechendes gilt für die Zeit zwischen Fertigstellung des Produkts und seinem Verkauf, die Zirkulationszeit und die damit verbundenen Transport- und Wartezeiten aller Art. Vor allem bewegt das Kapital sich zwischen Attraktion und Repulsion der lebendigen, Zeit verbrauchenden Arbeit, wenngleich auf verschiedenartigen Bezugsebenen. Der »Heißhunger nach Mehrarbeit« (249) als der Zeit der Verwertung geht einher mit dem ebenso unersättlichen Bestreben, den verwertungsnotwendigen Zeitbedarf zusammenzudrängen. Zuerst Mechanisierung und schließlich auf deren vorangeschrittenste Form gestützte Taylorisierung der Arbeitskraftverausgabung, dann Automation als Erübrigung tendenziell aller lebendiger Arbeitszeit zumindest im unmittelbaren Produktionsprozess machen auf der Ebene der kapitalistischen Produktionsweise Epoche. Da auch die Spekulation ihre eigentümlichen, dabei vom allgemeinen