Hightech-Kapitalismus in der großen Krise. Wolfgang Fritz Haug
nach dem Satz von Marx auch das Wie, mit welchen Arbeitsmitteln der Naturstoff verändert wird, die ökonomischen Epochen unterscheidet, ist im Hauptstrom der kapitalismuskritischen und speziell der marxistischen Literatur unterbelichtet, wenn nicht schlicht abwesend. Das ist auf den ersten Blick erstaunlich, weil damit angestammtes marxsches Terrain preisgegeben wird. Auf den zweiten Blick treten besonders drei Gründe hervor. Der erste Grund für jene Abwesenheit ist der den Stalinismus als Begleitideologie der gewaltgegründeten Industrialisierung prägende Technikdeterminismus, der alles Gesellschaftlich-Politische und Kulturelle diesem Primat unterwarf. Der notwendige Bruch mit dieser Ideologie und Praxis hatte bei vielen die entgegengesetzte Einseitigkeit zur Folge, die den objektiven Möglichkeitsraum bestimmende Determinante der technischen Arbeitsmittel zu vernachlässigen. Ein zweiter Grund dürfte in der Abwehr der Ideologie der »Wissensgesellschaft« liegen, sofern diese vom Kapitalverhältnis schweigt. Im Eifer des Gefechts gegen die Kapitalbestimmtheit vergisst man, das vom Kapital Bestimmte, die Produktivkräfte, zu berücksichtigen. Auch in dieser Hinsicht hätten wir es mit einer reaktiven Einseitigkeit zu tun. Als dritter Grund kommt der Einfluss der nicht genuin marxistischen Regulationsschule in Betracht. Mit Recht betont sie die Notwendigkeit, durch die komplexe institutionelle46 und politisch-kulturelle Einbettung des kapitalistischen Verwertungsprozesses ein konkretes Akkumulationsregime herauszubilden, das die gesellschaftlichen Konflikte zu absorbieren und Produktion und Konsumtion aufeinander abzustimmen vermag. Mit dem theoretischen Defizit fast aller Vertreter dieser Schule, darüber die formative Bedeutung der Produktivkräfte und ihrer Entwicklung zu vernachlässigen, haben wir uns im ersten Buch auseinandergesetzt (vgl. HTK I, 29-34).
46 Institutionen »regulate our economy by coordinating its decentralized decisions and integrating its separate activities into a unified structure« (Gutmann 1994, 56).
3. Produktivkräfte und Möglichkeitsräume von Herrschaft
Der Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen darf die Entsprechungen nicht vergessen lassen. Wie jede Herrschaft stützt auch die des Kapitals sich auf Herrschaftsinstrumente. Herrschaftstechnik ist ein geläufiger Begriff. Doch er ist besetzt vom Interesse an politischer Strategie und Taktik. Dass Herrschaft und Hegemonie ihre eigene Technobasis haben, tritt für gewöhnlich dahinter zurück. Der Einsatz der Produktionsmittel des materiellen Reichtums sowie derjenigen der Gewalt- und Hegemonieapparate bestimmt das Bild. Nicht weniger wichtig sind indes die Produktivkräfte organisatorischer Rationalität und Wirkungsmächtigkeit, die zu allen Zeiten staatlich reproduzierter Klassenherrschaft eine entscheidende Rolle in der Ökonomie der Macht gespielt haben. Sie muss als Ökonomie begriffen werden, denn auch Herrschaftsmächte ›wirtschaften mit knappen Mitteln‹, was sich zumal dann bemerkbar macht, wenn sie militärisch zusammenstoßen.
Die Dispositive der Digitalisierung haben nun deutlicher als frühere Technologien hervortreten lassen, dass auch die in den Produktionsverhältnissen verankerten Herrschaftstätigkeiten der Planung, Verwaltung, Kommunikation und Kontrolle darauf angewiesen sind, sich auf eigene Produktivkräfte zu stützen, die vom allgemeinen Stand der Produktivkraftentwicklung zehren und den Möglichkeitsraum kapitalistischen Handelns epochenspezifisch determinieren.47 Auf US-amerikanischer Seite realisierte sich die erste Phase des Irakkrieges auf Basis der informationstechnischen Dispositive; nach dem Einsatz der mannlosen »Marschflugkörper« dominierte das an militärischen Massen ausgedünnte »elektronische Schlachtfeld« des Hightech-Krieges (vgl. HTK I, 227). Auch wenn es wie seit alters am Ende die Sprengstoffe waren, die das Zerstörungswerk vor Ort bewirkten, so war die satellitengestützte informatische Koordination das epochal Neue. In der zweiten Phase des Krieges, die den USA nach dem schnellen Sieg die ebenso langsam wie verlustreich sich abzeichnende Niederlage eintrug, schlug die Situation um. Auf die Fernlenkwaffen antworteten die ferngezündeten Sprengfallen, auf den hochtechnologischen Distanzkrieg der Nähekrieg der »Selbstmordattentäter«.
47 Folgt man diesem Gedanken, verweist bereits die Kategorie »Kapital« als das alte Wort für »Hauptsumme« auf die frühkapitalistische Buchführung als versachlichende Produktivkraft kapitalistischer Rationalität zurück.
»Die Produktionsweise denken« – mit dieser Überschrift, die Aufforderung und Programm in einem zum Ausdruck bringt, beginnt das erste Buch. Vereinfacht gesagt, geht es dabei noch immer um die Frage, was für eine Gesellschaft der Computer auf kapitalistischer Grundlage ergibt. Dieses Wissenwollen stößt in der kapitalismuskritischen Literatur noch immer auf die fast durchgängige Abwesenheit der Produktivkräfte und der durch ihren kapitalistischen Einsatz bestimmten Arbeit. Das Zentrum des Erkenntnisinteresses besetzt zumeist das Finanzwesen. Gewiss ist die finanzkapitalistische Dimension von großer Bedeutung, zumal in einer Phase, in der die Finanzspekulation die Staaten des Euro-Raumes vor sich hertreibt. Nicht umsonst hat die Weltwirtschaftskrise als Finanz- bzw. genauer als Kreditkrise begonnen und macht sich bei jedem Schub der »Zweiten großen Kontraktion« (Rogoff 2011) fiktiven Kapitals als solche geltend. Allerdings ist diese Ablaufform als solche kein Alleinstellungsmerkmal der aktuellen Krise. Bleibt man bei der Analyse der Finanzverhältnisse stehen, wird Vernunft zu Unsinn. Eines der Geheimnisse dieser Verhältnisse scheint in den Worten des ehemaligen »Research«-Leiters der DZ-Bank auf: »Die jüngste Wirtschaftskrise ist keineswegs mit dem Begriff Finanzkrise hinreichend erklärt. […] Die amerikanische Immobilienblase, übrigens die fünfte in den letzten sechs Rezessionen, war eine der realwirtschaftlichen Ursachen, die Subprime-Krise die finanzwirtschaftliche Übertreibung dazu. […] Für eine konsumgetriebene Volkswirtschaft sind Wohnungsbau und Autos die wichtigsten zyklischen Faktoren. Wenn der Bau 2007 in die Krise gerät und die Autobranche ölpreisbedingt im Frühsommer 2008, braucht man sich nicht zu wundern, wenn die amerikanische Wirtschaft in eine Rezession fällt.« (Holzschuh 2010)48 Ungeachtet des »astronomischen Umfangs« von Konsumkrediten49 werden wir dennoch nicht von konsumgetriebener Volkswirtschaft statt von finanzgetriebener Akkumulation reden (vgl. Kap. 5). Was fürs mächtige Finanzkapital gilt, dürfte für die Konsumenten, die am schwächeren Hebel sitzen, allemal gelten. Wohl aber werden wir dem Wink folgen, dass der finanzielle Treiber selbst getrieben ist. Es sollte uns nicht wundern, wenn wir im politisch-ökonomischen Getriebe auf eine systemische Verkettung getriebener Treiber stoßen würden. Mit dem Bauplan dieses Getriebes werden wir uns zu befassen haben.
48 Thomas Sablowski hebt hervor, dass es im »globalen Akkumulationsregime«, wie wir es unter dem Titel des transnationalen Hightech-Kapitalismus beschreiben, noch »keinen adäquaten Ersatz für die fordistischen Konsumnormen gibt, die um das standardisierte Wohnen und das Automobil zentriert waren. Darüber kann auch die Ausbreitung von Computern, Handys und anderen elektronischen Konsumgütern nicht hinwegtäuschen. Anders wäre schwerlich zu erklären, dass die gegenwärtige Krise vom Immobiliensektor und vom Automobilsektor ausging.« (2009, 122)
49 »Only the astronomical volume of these liabilities has maintained the buying cycle in a context of decreased savings.« (Katz 2011)
Hier könnte eingewandt werden, dass wir uns damit auf einer ganz allgemeinen Ebene der Kapitaltheorie bewegen, die nichts hightech-kapitalistisch Spezifisches hat. Das ist insoweit richtig, als die Mechanismen des Kapitalprozesses in gewisser Hinsicht Jahrhunderte lang den gleichen Grundmustern folgen. Die hochtechnologischen Produktivkräfte im Fahrwasser der elektronischen Datenverarbeitung ändern zwar alles, doch solange Kapitalismus herrscht, ändert sich auf dessen herrschender Seite auch wieder nichts, ohne noch mehr sich selbst zu gleichen. Innerkapitalistische Veränderungen sind Übersetzungen. Jedes neu unterworfene Gebiet verändert auch die Unterwerfung, aber ändert nichts daran, dass sie Unterwerfung ist. Was sich ändert, sind die Konkretisierungsweisen.