Hightech-Kapitalismus in der großen Krise. Wolfgang Fritz Haug
Antworten auf die Frage, was da eigentlich in Krise geraten ist, fließen in der Regel als nicht eigens begründete Benennungen ein. Ganz vorsichtig ist Karl-Heinz Roth, wenn er von der »ersten Weltwirtschaftskrise des 21. Jahrhunderts« (2009, 10) spricht. Das besagt nichts über die Sache selbst. Dagegen erklärt ein Dokument von Attac: »Es handelt sich dabei um eine Krise des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus, der auf spekulativen Blasen beruht« (2011c). Das läuft auf die gewiss vernünftig klingende Perspektive hinaus, die Finanzmärkte auf eine Weise zu regulieren, die spekulative Blasen verhindere. Aber erstens sind Blasen in der Finanzgeschichte seit Jahrhunderten bekannt. Und zweitens bleibt es bei Symptombehandlung, solange wir die Prozesse ignorieren, deren Effekt die Dominanz der Finanzmärkte ist. Die These von deren Verselbständigung dichtet sich gegen die auf den ersten Blick paradox sich ausnehmende Möglichkeit ab, dass ihre anscheinende Verselbständigung etwas Unselbständiges ist, in dem sich Zusammenhänge ausdrücken, die nicht selbst schon wieder finanzieller Natur sind. So lässt sich die Macht der Finanzmärkte als Resultat einer Interessenkoalition beschreiben, in welcher das Finanzkapital mit dem Industriekapital an einem Strang zieht.38
38 »Der Finanzkapitalismus stellt ein Regime dar, in dem das gemeinsame politische Interesse von Real- und Finanzkapital an einer Schwächung von Gewerkschaften und Sozialstaat einen größeren Stellenwert hat als der Gegensatz ihrer Interessen.« (Schulmeister 2010, 29)
In diese einseitig ökonomische Diskussion bricht Wolfgang Streeck, dem sie ökonomistisch oder ›finanzistisch‹ hätte erscheinen können, mit seiner historisierten und sozial dynamisierten, die Nähe zu den Phänomenen suchenden Version einer institutionalistischen Betrachtung des Kapitalismus als konkreter Gesellschaft ein.39 Seine Diagnose verortet das Problem auf der politisch-ökonomischen Ebene, nun aber im sonst abgeschliffenen Wortsinn der Beziehung zwischen Politik und Ökonomie, genauer zwischen parlamentarischer Regierungsform und kapitalistischer Betriebsweise oder zwischen gesellschaftlicher Selbstbestimmung und kapitalistischer Vergesellschaftung. In der Frage der »Institutionalisierung von sozialer Ordnung oder Gouvernanz als solcher im Kapitalismus als einem sozialen und ökonomischen System« (2010, 10) identifiziert er eine strukturelle Inkohärenz,40 deren tektonische Basisspannung sich seit dem Niedergang des Fordismus, also seit der Strukturkrise der 1970er Jahre, in wechselnden Konfliktarenen entladen hat. Was Streeck nun vollends in Krise geraten sieht, ist nicht der Kapitalismus als solcher, sondern der »demokratische Kapitalismus«. Kurz, die aus dem Kollaps des US-amerikanischen Finanzsystems resultierende globale Krise müsse begriffen werden »im Rahmen der vor sich gehenden, inhärent konfliktiven Transformation der Gesellschaftsformation, die wir ›demokratischer Kapitalismus‹ nennen« (Streeck 2011, 5). Allgemein gesprochen, stößt in dieser Formation der demokratisch sich artikulierende Anspruch auf ein gutes Leben unversöhnlich zusammen mit dem die Kapitalsphäre leitenden Anspruch aufs ungehinderte Profitstreben. Streeck schildert den Zusammenstoß als analog zum Konflikt zwischen den Rechtsansprüchen der Arbeitskraftkäufer und denen der Arbeitskraftverkäufer. Marx hat ihn im Kapital folgendermaßen zusammengefasst: »Es findet hier also eine Antinomie statt, Recht wider Recht, beide gleichmäßig durch das Gesetz des Warenaustausches besiegelt. Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt.« (K I, 249) Es ist, als wollte Streeck durch die Anspielung auf die marxsche Antinomie zu verstehen geben, dass im aktuellen Antagonismus wieder die Gewalt, sprich etwas in der Art des Faschismus lauerte. Diese Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, zumal dann nicht, wenn Streeck Recht hat, dass es auf Dauer schlechterdings keine Versöhnung zwischen Demokratie und Kapital, zwischen den einander widersprechenden Prinzipien der sozialen Rechte und den vom Markt beurteilten Gewinnmaximierungsstrategien des Kapitals geben kann.41 Doch jener Vergleich hinkt. Demokratie und Kapital sind keineswegs »beide gleichmäßig durch das Gesetz des Warenaustausches besiegelt«. Wenn das Kapital den Charakter eines Fetischs hat, insofern es die »Macht der Machwerke« über die sie gemacht Habenden (KV I, 161f) repräsentiert, gründet die Demokratie in der konstituierenden Macht der Machenden selbst. Wir müssen Streeck nicht folgen, wo er die beiden Rechtsansprüche, den auf den Kapitalfetisch pochenden und den der Gesellschaftsmitglieder selbst, auf gleicher Ebene ansiedelt, wenn wir ihm zustimmen, dass die Akteure und ihre Politiken ebenso ins Bild gehören wie die Institutionen der sozialen Einbettung des Kapitalismus, ohne die dieser sich selbst zerstören würde, und die Kämpfe um die Regeln. Im zweiten Teil werden wir uns u.a. den Institutionalisierungsprozessen der transnationalen Kapitalverkehrsverhältnisse zuwenden und auch auf die Krise der widersprüchlichen Verbindung von Kapitalismus und Demokratie zurückkommen. Doch um diese Krise zu begreifen, müssen wir die endogene Krise des Kapitalismus ins Auge fassen und eine Sprache dafür finden. Nicht zuletzt müssen wir die epochale Spezifik erkunden, die dem aktuellen Geschehen ihren Stempel aufdrückt und die Handlungsmöglichkeiten bedingt. Daher macht es einen Unterschied ums Ganze, die Krise, wie wir es im ersten Satz des Vorworts getan haben, als Große Krise des transnationalen Hightech-Kapitalismus anzugehen.
39 Streeck verfolgt den »institutionalist approach closer to the particularities of contemporary capitalism« (2010, 7).
40 Auf den Begriff der Inkohärenzkrise kommen wir in Kap. 5.1 zurück.
41 Streeck fasst »the contradiction between social life and capitalist economic organization […] as inevitable and ineradicable« (2010, 31) und folgert: »… a lasting reconciliation between social and economic stability in capitalist democracies is a utopian project« (2011, 24).
Namen sind nicht nur Schall und Rauch. Selbst wo sie der Sache äußerlich sind, sind sie es nicht für diejenigen, die ihr den Namen geben.42 Mit ihrer Benennung zeigen sie, wo sie ansetzen. Damit tritt hervor, was geschichtlich an ihnen ist. Wer etwa die gesellschaftlichen Verhältnisse zu Beginn des 21. Jahrhunderts umstandslos als »Wissensgesellschaft« anspricht, schweigt vom herrschenden Kapitalverhältnis, wie man im Hause des Henkers vom Strick schweigt. Wer den aktuellen Kapitalismus Jahrzehnte nach dem Untergang des Fordismus noch als »Postfordismus« anspricht, ankert mit seinen Maßstäben im Vergangenen, wie wir bereits im ersten Buch »mit einer gewissen Ungeduld« (HTK I, 12) monierten. Die Rede vom »finanzgetriebenen« oder, im sprachlichen Pidgin, »finanzialisierten«43 Kapitalismus scheint wie der von Engels beschriebene »Geldmarktmensch« am Geldpseudonym der Verhältnisse gesellschaftlicher Arbeit zu kleben und das epochal determinierende Basisverhältnis von hochtechnologischen Produktivkräften und transnationalisierten Produktionsverhältnissen auszublenden.
42 Ist nicht »der Name einer Sache«, wie Marx im Kapital beiläufig sagt, »ihrer Natur ganz äußerlich« (23/115)? Das kommt darauf an. Marx bezieht sich im Kontext auf den Preis als »den Geldnamen der in der Ware vergegenständlichten Arbeit« (116). Der Geldausdruck oder die Preisform des Werts verdeckt den Wesenszusammenhang der Wertbildung durch Arbeit. Das Problem spitzt sich zu beim Lohn als ›Preis der Arbeit‹. Die wissenschaftliche Übersetzung dieses Ausdrucks durch Marx lautet ›Preis der Ware Arbeitskraft‹. Die beiden Ausdrucksformen, die alltagssprachliche und die marxsche, unterscheiden sich wie die begriffslose Kategorie vom kategorialen Begriff (vgl. HKWM 7/I, 467-86). Das Beispiel vom Lohn zeigt aber auch, dass der kategoriale Ausdruck von »Daseinsformen, Existenzbestimmungen, oft nur einzelnen Seiten dieser bestimmten Gesellschaft« (42/40) Ausdrucksformen hervorbringt, die dem gesellschaftlichen Leben, das sich in ihnen ausspricht, keineswegs äußerlich sind. Wenn sie auch scheinhaft sind, rechnen sie doch zu jener Art von Schein, der nach Hegels Wort »dem Wesen wesentlich« ist (Ästhetik, W 13, 21) und auf den