Hightech-Kapitalismus in der großen Krise. Wolfgang Fritz Haug
agierenden, unstofflichen und gleichwohl materiellen »elektronischen Metamaschinen« (HTK I, 112f), die in den Eingeweiden des menschenlosen Prozesses selbst »auf der Jagd nach Profit sind« (Strobl 2010). Sie sind die Piranhas der sog. »Latenz-Arbitrage«; sie fischen nach Wertdifferenzen, um in den winzigen Zeitintervallen »zwischen dem Eintreffen einer großen Kauforder und ihrer Ausführung«, wo Mikrosekunden zählen, »alles abzugrasen, was an Angebot zum aktuellen Kurs im Markt ist« (ebd.).
Die ›mannlose‹ Spekulation verändert das Erscheinungsbild bestimmter Börsenkrisen. Normalerweise ist sie nicht der Grund des Geschehens, wohl aber seines Modus. Sie potenziert die Ausschläge der Kurse, wie sie auf diesen Ausschlägen wiederum ihre Wellenreiterei praktiziert.54 Die eigentümliche Form, die ihr entspringt, wo der Modus zum Grund wird, ist der »Blitz-Crash«. Angekündigt im »ersten Weltbörsenkrach der Geschichte« (Mandel/Wolf 1988, 30) vom Oktober 1987,55 bei dem »die Kisten das Kommando« übernahmen, lässt der Effekt der seither fortgeschrittenen Prozess-Mikroisierung sich bei der Blitz-Baisse vom 6. Mai 2010 beobachten: Der Dow Jones verlor binnen weniger Minuten fast tausend Punkte. Ein geringfügiger Rückgang hatte quasi in Echtzeit die Verkaufsorder der Spekulationsmaschinen losgetreten. So erklärte sich der Sturz. Dass er zunächst fortdauerte, rührte nun ausgerechnet daher, dass Menschen dem mannlosen Betrieb wieder das Zepter aus der Hand nahmen, indem sie die Maschinen abschalteten. Was retten sollte, verschlimmerte den Schaden. Mangels öffentlicher Regulierung konnten die Betreiber jeder Handelsplattform nach eigenem Gutdünken entscheiden, ob (und wann) sie abschalten wollten. Nun aber schalteten viele von ihnen »ihre Computer während des Kurssturzes ab […,] nachdem andere Programme im großen Stil Verkaufsorders platziert hatten, um von den fallenden Kursen zu profitieren«. Doch damit »stießen die Verkaufsorders nicht mehr auf Kauforders. Ein Tsunami von Verkaufsaufträgen drückte die Kurse vieler Aktien auf surreal niedrige Niveaus, das Papier der weltweit tätigen Beratungsgesellschaft Accenture zum Beispiel fiel von 41 Dollar auf einen Cent. Die Situation beruhigte sich erst wieder, als Händler aus Fleisch und Blut auf den Plan traten und wie in alten Zeiten Käufe und Verkäufe untereinander abwickelten.« (Strobl 2010)
54 Ausgangspunkt und Resultat für die high-frequency traders ist »a ›new normal‹ of permanently heightened volatility« (Story/Bowley 2011).
55 Seine Erscheinungsform und die damit einhergehenden Wahrnehmungsformen habe ich festgehalten im gleichnamigen Exkurs der Neuen Vorlesungen zur Einführung ins »Kapital«, 197-200.
Am Börsenplatz Frankfurt/M generierten »Algo-Trader« im Februar 2010 über 40 Milliarden Euro Handelsaufträge, fast die Hälfte des Gesamtumsatzes. Sie »haben ihre Computer so programmiert, dass sie nach bestimmten Mustern Aktien kaufen und verkaufen, sie zwischendurch oft nur Sekunden behalten und am Ende des Tages meist keine einzige Aktie besitzen.« Der Kursmakler entfällt. »Der Computer führt Angebot und Nachfrage zusammen und errechnet daraus einen Kurs. Das passiert innerhalb einer Sekunde etliche Male für eine einzige Aktie.« (Mohr 2010a) Im Februar setzte die Börse 97 Milliarden Euro über das elektronische System Xetra und nur 6 Milliarden auf dem Parkett um. Damit waren die Tage des Parketthandels gezählt. Der Börsenrat beschloss, ihn spätestens 2012 einzustellen. Von der ›Maschinisierung‹ über Xetra versprach man sich eine viel breitere Anlegerschaft aus ganz Europa mit »Zugriff auf 10 000 Aktien und 30 000 Anleihen, die bislang nur auf dem Parkett […] und damit nur einem […] nationalen Publikum zugänglich waren« (ebd.).
Eine weitere Folge der automatisierten Spekulation ist die Zunahme des Geld- und Devisenhandels. Sie markiert eine der Veränderungen seit 2003, als Band I erschien. Laut einer Erhebung der Bank für internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) ist in den drei Jahren zwischen 2004 und 2007 der globale Devisenhandel um 71 Prozent gewachsen auf täglich 3,2 Billionen US-Dollar und zusätzlich 2,1 Billionen in Devisen- und Zinsderivaten (FAZ, 26.9.2007, 25). Beigetragen haben die bereits erwähnten spekulativen Zins-Währungsgeschäfte (Carry Trades), die Unterschiede im Verhältnis des Außenwerts einer Nationalwährung zum nationalen Zinsniveau ausnutzen, indem sie im Niedrigzinsland Geld borgen, um es im Hochzinsland anzulegen. Die Frankfurter Allgemeine erklärte die Zunahme zum anderen Teil damit, »dass elektronische Handelsplattformen Geschäfte ›per Mausclick‹ ermöglichen«. Man merkt dem Bericht noch das Erstaunen über den technologisch bedingten Systemwandel an, wenn er fortfährt: »Zum Teil werden Geschäfte sogar nur noch von Computern ausgelöst, die gleichzeitig fortlaufend mehrere Handelsplattformen auf kleine Preisunterschiede hin absuchen und ggf. – im Takt von Tausendstel Sekunden – Kauf- und Verkaufssignale auslösen, um von den Kursunterschieden zu profitieren.« Im Kassahandel stieg der Umsatz von 0,6 auf 1 Billion. Darin drücken sich die Kapital- und Warenströme aus. Die Diskrepanz zwischen dem Welthandelsvolumen in Warenpreisen und dem Welthandelsvolumen in Geld rührt zum Teil von der bis zur Großen Krise von 2008ff trotz aller US-Verschuldung kaum bestrittenen Funktion des Dollars als einer »Ersatz-Weltwährung« her.56 Sie bedeutet, dass fast alle Transaktionen zwischen anderen Währungen über ihn abgewickelt werden. »Ein Tausch von chinesischen Yuan in Euro wird also über einen Tausch von Yuan in Dollar und von Dollar in Euro ausgeführt.« Mit dem Effekt dieser Dollarfunktion einer Zwischenwährung summiert sich der Effekt des Zwischenhandels durch die Banken, da Angebot und Nachfrage auf diesem »Marktmacher-Markt« nicht direkt-zentral zusammentreffen wie an der Börse. Findet die Bank keinen Abnehmer, verkauft sie sofort an einen Großhändler. Im Schnitt entfiel in den drei Jahren ca. die Hälfte des Gesamtumsatzes am Devisenmarkt auf die an der BIZ-Erhebung teilnehmenden Großhändler untereinander.57
56 Der Dollar »amounts to a surrogate world currency« (Foster/Magdoff 2008). Den Dollar »Weltgeld« zu nennen, löscht den Widerspruch zwischen dem formellen Zahlungsmittel eines Staates und einer informellen Weltmarktwährung. Bei Marx hängt der Begriff des »Weltgeldes«, mit dem er James Steuarts »money of the world« übersetzt (23/159), an dem der Geldware, die einen Selbstwert im Unterschied zum bloßen Wertzeichen darstellt..
57 Stärker nahmen die »Devisenswaps« zu (im selben Moment Verkauf und auf später terminierter Rückkauf von Fremdwährungsbeträgen), von 0,94 auf 1,7 Bio, und die »Zinsswaps« von 0,6 auf 1,2 Bio. Bei Zinsderivaten lagen die Börsen mit 6,1 Bio vor dem Interbankenhandel aufgrund kurzlaufender Geldmarkt-Terminkontrakte wie dem Euribor-Future. (Ebd.)
5. Hochfrequenz-Werbung
Das spekulative Moment der Ausspähung von Differenzen in der Zeit erobert auf Basis der fürs Börsengeschäft entwickelten Technologie auch den Internet-Werbemarkt. Wie die Konkurrenz um günstige Kurse bei spekulativen Objekten sich an die Grenzen der Zeit herantastete, so nun die Konkurrenz um die Verwandlung von Kundenwünschen in Verkaufschancen. Das Einwerben von Internet-Werbeaufträgen ist ein hart umkämpfter Markt. Was jene Einwirkungsform für die Unternehmen attraktiv machte, war der sinkende Wirkungsgrad der Streuwerbung. Nachdem immer mehr potenzielle Käufer sich primär übers Internet über Angebote informierten, öffnete die Rechentechnologie in drei Stufen den zeitlichen Mikrokosmos für individualisiertes »Echtzeit-Bieten«.
Im ersten Schritt entwickelte Google aus »dem Unterschied zwischen Werbeausstrahlung als solcher und in tatsächlicher Rezeption realisierter Werbung« ein Geschäftsmodell: »Immer und ausschließlich wenn die kleinen Textanzeigen bei Google angeklickt werden, entstehen Werbeeinnahmen. Die Kenntnisnahme quittiert den Empfang. Die Werbung ist selbst noch einmal eingepackt. Von außen verspricht sie noch nicht den Gebrauchswert, sondern ein Gebrauchswertversprechen. Google bekommt Geld, sobald sich jemand entscheidet, sich tatsächlich etwas versprechen zu lassen.« (KdWÄ, 266) Der zweite, für den Werbemarkt nicht weniger revolutionierende Schritt gründet