Die Perfektionismus-Falle. Reinhold Ruthe
und komplett sein. In der Lexikonreihe darf kein Stück fehlen, das Gläserservice muss vollständig und die Videothek fehlerfrei sein. Die Partnerschaftsdevise heißt: Glück ist, wenn nichts mehr fehlt. Alles ist fehler- und keimfrei.
Alle Winkel werden vom Staub befreit. Jeder Bazillus wird an die Luft befördert. Die Liebe hält das nicht aus. Perfektionismus evakuiert die Liebe. Sie kommt ins Schleudern, ihr geht die Luft aus. Perfektionismus ist ein Liebeskiller. Perfektionismus ist ein radikales Desinfektionsmittel. Mit Staub und Unordnung ist auch die Liebe weggeschrubbt.
– Beide sind perfekt.
– Beide sind erschöpft.
– Beide sind überarbeitet.
– Beide kapitulieren.
Sehr schön hat der Entertainer Otto Waalkes die perfekte Hausfrau auf die Schippe genommen. Übertrieben ahmt er sie nach. Sie schrubbt und saugt, poliert und desinfiziert. Und dann hört Otto eine Stimme: »Es ist sauber, aber noch nicht rein!«
Otto stürzt sich erneut mit Feuereifer in die Arbeit. Und wieder ertönt die Stimme im Hintergrund. Endlich versteht der Zwangsneurotiker: Seine Arbeit ist unnütz, solange er selbst im Raum ist. Er ist der Unsaubere, der die Reinheit verhindert. Als er die Küche verlässt, hört er eine triumphierende Stimme: »Jetzt ist alles rein.«
Wer scheuert und putzt, desinfiziert und blank poliert, lenkt von sich ab. Er sieht den Schmutz draußen. Er projiziert seinen Schmutz in die Welt. Fanatisch stürzt er sich auf die Säuberung der Umwelt und die Innenverschmutzung bleibt im Dunkeln.
In der Partnerschaft ist das nicht anders. Mit Röntgenblicken wird der andere durchleuchtet. Alle Staubfänger werden unters Mikroskop gezerrt. Es wird geputzt, kritisiert und Staub aufgewirbelt. Zärtlichkeit und Liebe werden ausgefegt. Zurück bleibt ein steriles Paar, das keimfrei in seinen vier Wänden haust.
– Die Liebe hat das Weite gesucht.
– Die Liebe ist desinfiziert.
– Die Liebe hat dem Perfektionismus Platz gemacht.
Perfektionismus und Depression
Es ist signifikant, dass viele depressive Menschen mit Perfektionismus zu tun haben. Depressive Menschen sind geistlich tiefgründig. Sie wollen ernst und ehrlich und nicht oberflächlich ihren Glauben leben.
Der amerikanische Theologe und Seelsorger David Seamands charakterisiert diese Menschen folgendermaßen:
»Es gibt viele verschiedene Arten von Depressionen. Sie unterscheiden sich in ihrer Stärke sehr voneinander. Ich möchte unser Augenmerk auf eine Art Depression richten, die durch ein angeschlagenes Gefühlsleben entsteht, vor allem durch eine geistliche Verzerrung, die man Vollkommenheitsstreben nennt – mit einem Fremdwort: Perfektionismus. … Das Vollkommenheitsstreben ist eine Nachäffung der Glaubensvollkommenheit. Anstatt uns zu heiligen Menschen und ausgeglichenen Persönlichkeiten zu machen – das heißt, zu ganzen Menschen in Christus –, macht das Vollkommenheitsstreben uns zu Pharisäern und Neurotikern.«5
In Seamands Augen ist das Vollkommenheitsstreben das »beunruhigendste seelische Problem« unter gläubigen Christen. Woher kommt das?
▪ Viele Christen haben das Gefühl, nicht genug getan zu haben.
▪ Viele Christen haben das Gefühl, sie müssten mehr leisten und mehr können.
▪ Viele Christen haben das Gefühl, sie gelten nichts und leiden unter einem niedrigen Selbstwert.
▪ Viele Christen haben das Gefühl, sie können sich abrackern und reichen doch nie aus.
▪ Viele Christen haben das Gefühl, dass Schuld, Furchtsamkeit und Selbstverdammung ständig wie ein Damokles-Schwert über ihren Häuptern schweben.
Viele Christen, die eine depressive Struktur widerspiegeln, haben ein überempfindliches Gewissen, reagieren mit übergroßen Schuldgefühlen und neigen zur Gesetzlichkeit. In ihrer Gesetzlichkeit schwingt große Angst mit. Sie klammern sich an Äußerlichkeiten, an Gebote und Verbote, und überbetonen alle Bestimmungen. Je größer das Vollkommenheitsstreben, desto zerbrechlicher das Gewissen. Je größer der Perfektionismus, desto niedriger das Selbstwertgefühl.
Perfektionismus – Ehrgeiz – Depression
Ein Selbsterforschungsfragebogen
Hinweise für den Selbsterforschungsfragebogen
»Perfektionismus – Ehrgeiz – Depression«
▪ Füllen Sie die Aussagen ehrlich aus. Sie beinhalten Tendenzen und keine wissenschaftlich exakten Ergebnisse. Wenn Sie im Zweifel sind, ob Sie »stimmt« oder »falsch« anstreichen sollten, überprüfen Sie, wohin Ihr Gefühl stärker neigt.
▪ Perfektionismus, Ehrgeiz und Depression sind miteinander verschwistert. Die eine Persönlichkeitseigenart unterstützt in der Regel die andere. Im Grunde sind alle vorgestellten Aussagen problematisch. Sie zeigen den gestressten, ehrgeizigen und perfektionistischen Menschen. Auch wenn die Arbeit den Betreffenden auffrisst und Freude macht, sind die Gefahren nicht damit abgewendet.
▪ Je mehr Sie »Stimmt«-Antworten gegeben haben, desto eher haben Sie mit depressiven Symptomen zu tun. Wenn Sie mehr als zehn »Stimmt«-Antworten zählen, ist es ratsam, sich mit einem Facharzt bzw. mit einem Therapeuten oder einem Fachseelsorger zu unterhalten.
▪ Die Selbstüberforderung kann leicht zu körperlichen Symptomen und Krankheiten führen bzw. zu seelischen Zusammenbrüchen und zum Burn-out.
Anzeichen für eine Überforderung sind:
– das Gefühl der Erschöpfung und völlige Durchhänger;
– das Gefühl, nicht weiter durchhalten zu können;
– das Gefühl, nicht abschalten zu können;
– das Gefühl, bedroht zu werden, Angst vor Schlaflosigkeit und Albträumen;
– das Gefühl, von anderen Menschen bedrängt und eingeengt zu werden;
– das Gefühl, von unbestimmten Ängsten heimgesucht zu werden.
Perfektionismus und Zorn
Wer dem Perfektionismus huldigt, produziert im tiefsten Herzen Zorn. Wie ist dieser Zorn zu verstehen? Es ist ein Zorn, der sich schwergewichtig gegen Gott richtet. In den Augen des Perfektionisten
– ist Gott der Fordernde,
– ist Gott der mit uns Unzufriedene,
– ist Gott der Grausame, der die Messlatte höher und höher legt.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass der Perfektionist eine Karikatur von Gott aufgestellt hat. Der Perfektionist terrorisiert sich selbst und schiebt dem lebendigen Gott die Verantwortung in die Schuhe.
Da aber perfektionistische Christen nicht zornig sein dürfen, unterdrücken sie ihren Zorn und schieben ihn ins Unbewusste ab. Es entstehen seelische Störungen, der Stress schädigt das Organsystem und der innere Druck entlädt sich in schwachen Körperteilen.
Der Franziskanerpater Richard Rohr hat in seinen Erfahrungen mit dem »Enneagramm« sich selbst charakterisiert:
»Es ist für mich als EINS am leichtesten, meine eigene Sünde zu beschreiben. Irgendwann in unserem Leben haben wir die Überzeugung gewonnen, dass nur Vollkommenes liebenswert ist. Man muss das Recht, geliebt zu werden, verdienen. Es ist für EINSer schwer, sich vorzustellen, dass Unvollkommenes und Gebrochenes Liebe verdienen. … Die EINS ist fortwährend von der