Wenn ich das geahnt hätte. Anne Christina Mess

Wenn ich das geahnt hätte - Anne Christina Mess


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getroffen.

      Bei dieser (geschätzten) Zahl von 60 000 bis 80 000 Menschen, die jährlich von Suizid betroffen werden, ist zu berücksichtigen, dass sich diese Zahl nur auf ein Jahr bezieht. Nicht-Betroffene gehen meist davon aus, dass die Trauer nach einem Suizid in ähnlichen Bahnen verläuft wie bei anderen Todesarten. Auch von Suizidtrauernden wird erwartet, dass nach dem Ablauf des ersten Trauerjahres eine Veränderung eintritt und die Normalität des Alltags sich wieder einstellt. Aber Trauer nach Suizid kann auch ein Jahr nach dem Tod ähnlich heftig erlebt werden wie direkt in den Tagen nach dem Suizid. Die tatsächlich vergangene Zeit muss dabei kein Maßstab sein.

      Der Schmerz und die Trauer um einen durch Selbsttötung verlorenen nahestehenden Menschen kann sogar über viele Jahre hinweg ein lebensbestimmendes Thema bleiben. Die starke Einschränkung der eigenen Lebensqualität durch den Verlust dauert bei manchen Hinterbliebenen bis zum eigenen Tod an.

      Jeder Todesfall ist mit Kummer und Trauer für die Hinterbliebenen verbunden. Allerdings hat die Art des Todes einen wesentlichen Einfluss auf die Trauer und die Lebensgestaltung der Menschen, die ohne den Verstorbenen weiterleben müssen. Bei Tod durch Suizid drängen sich den Hinterbliebenen Fragen und Gefühle auf, die bei anderen Todesarten gar nicht oder nur abgeschwächt vorhanden sind. Sie erschweren die Trauer manchmal unsagbar. Je nachdem, wie ein Hinterbliebener mit diesen inneren Dialogen umgeht, versucht er, sie für sich zu verarbeiten, oder aber sucht sich Hilfe bei der Bewältigung. Im Gespräch mit Trauernden finden sich typische Gedanken, Selbstzweifel, Schuldgefühle usw. Sie können bei den einzelnen Suizidtrauernden in individueller Ausprägung und in unterschiedlichem zeitlichen Abstand vom Tod auftreten. Häufige Inhalte der inneren Dialoge sind Schuldgefühle: Eine Mutter könnte sich sagen: »Ich muss eine schlechte Mutter gewesen sein.« Auch Versagensgedanken finden sich oft bei Hinterbliebenen von Suizidtoten: »Ich konnte es nicht verhindern, ich habe es nicht bemerkt.« Ein Suizid kann bei einem nahestehenden Menschen einen Einbruch des Selbstwertgefühles herbeiführen: »Ich bin es nicht wert, dass mein Mann meinetwegen weiterlebt.« Im Rückblick über das bisherige Leben kann dies nun infrage gestellt werden: »Hat er mich und die Kinder überhaupt wirklich geliebt?« Manche Suizidtrauernde schlagen sich mit Scham und Verleugnung herum: »Niemand darf erfahren, dass meine berühmte Frau sich das Leben genommen hat.« Zu ganz normalen Reaktionen bei Menschen, die einen Suizid zu verarbeiten haben, gehören Wut oder Ärger auf den Verstorbenen: »Wie konnte er mir das antun?!« Leider verlieren manche Menschen in der Folge eines Suizids eines ihnen sehr nahestehenden Menschen ihren inneren Halt im Leben und fragen sich: »Wie soll ich damit weiterleben«, um sich später selbst zu suizidieren.

      Weitere Erschwernisse in der Trauerarbeit sind oft die Reaktionen des Umfeldes von Hinterbliebenen. Der Tod durch Suizid ist auch im Zeitalter der Postmoderne vielerorts noch ein gesellschaftliches Tabu. Es wird entweder nicht darüber gesprochen oder aber man weiß nichts dazu zu sagen. Möglicherweise hat dieses Tabu seine Wurzeln auch in der jahrhundertelangen Tradition, Selbsttötung als Todsünde zu verurteilen. Diese Verurteilung geht zunächst einmal hinweg über die tiefe Verzweiflung eines Menschen, der sich das Leben nimmt, und beeinflusst im nächsten Schritt manchmal noch die distanzierte Haltung gegenüber den Trauernden. Etwas polarisierend zum Zwecke der Verdeutlichung lässt sich sagen, dass Trauernde einen Mitleidsvorschuss haben und demgegenüber Suizidtrauernde einen Schuldvorschuss.

      Durch diese gesellschaftliche Tabuisierung und durch mangelnde Information kommt es oft zu Unsicherheit im Umgang mit den Hinterbliebenen und zur Vermeidung des Themas. Suizidtrauernde sehen sich häufig von einer »Mauer des Schweigens« umgeben, was ihnen ihr Trauertal unnötig erschwert.

      Nach »geglückten« Selbstmorden wird von den Hinterbliebenen häufig die Nachricht verbreitet, dass die Person einen Unfall hatte. Damit erreichen sie, dass sie weniger in den Brennpunkt der Aufmerksamkeit geraten und so vielleicht dem befürchteten Tratsch entgehen können. Schließlich geht es auch darum, den Ruf als »ganz normale Familie« nicht aufs Spiel zu setzen, denn diese Gefahr ist natürlich in dem Fall größer, wenn ein Familienmitglied sich umgebracht (oder es versucht) hat, als wenn es verunglückt ist. Neben diesen Bemühungen, nach außen dem Gerede der Nachbarn und Bekannten zu entgehen, gibt es auch noch die innerseelisch ablaufenden Prozesse. Die menschliche Seele ist in der Lage, sich gegenüber aversiven, also unerwünschten oder unangenehmen Gedanken und Vorstellungen zu schützen, indem sie sie ausblendet, quasi beiseiteschiebt. Im Fachjargon spricht man auch von Verdrängung. Für Hinterbliebene eines Selbstmörders ist die Tragödie vielleicht erträglicher, wenn sie annehmen, es habe sich um einen Unfall gehandelt. Natürlich funktioniert diese Annahme nur dann, wenn es kein offensichtlicher Selbstmord war, wie z. B. beim Erhängen oder beim Sprung aus dem Hochhaus. Wenn man sich in die Lage eines Angehörigen oder eines engen Freundes hineinversetzt, kann man sich vorstellen, dass einen der Gedanke entlasten würde, der Selbstmörder hätte »nur« einen tragischen Unfall gehabt. Allerdings kann es zu einem späteren Zeitpunkt befreiend sein, die Wahrheit über den Tod anzusehen, statt psychische Energie darauf zu verwenden, die beschönigende Variante mit sich zu tragen. Kurzfristig mag die Unfall-Version dazu beitragen, dass ein Hinterbliebener das Unfassbare besser aushält, aber die menschliche Seele entwickelt mittel- und langfristig häufig Symptome, um Tabus und

      Geheimnisse an die Oberfläche zu befördern. Schrittweise und behutsam lässt sich die Wahrheit verkraften und eine Vertrauensperson kann dabei wertvolle Begleitung und Schutz bieten.

      Es kann also für einen Menschen zunächst hilfreich sein, einen Suizid nicht als solchen verarbeiten zu müssen – wenn es nicht ganz offensichtlich einer war! Dadurch fühlt die Seele sich möglicherweise erst einmal weniger belastet, quälende Fragen an eigene Versäumnisse gegenüber dem Verstorbenen bzw. demjenigen, der einen Selbstmordversuch überlebt hat, stellen sich dann weniger stark ein. Dennoch gehört es zu unserer Seelenhygiene, dass wir der Wahrheit eines Tages – evtl. mit fachlicher Hilfe – ins Auge sehen und anerkennen, dass Selbstmorde oder auch Selbstmordversuche grundsätzlich nicht einfach nur Unfälle oder tragische Schicksalsschläge sind, sondern vorsätzliche Handlungen in der Absicht, sich umzubringen bzw. einen massiven Hilferuf zu senden.

      Selbsttötungsversuche lösen bei nahen Bezugspersonen immer Schuldgefühle aus. Sie fragen sich, was sie verkehrt gemacht haben, und schämen sich für die Tat. Dennoch sollte man zumindest im Freundeskreis ehrlich sein und den Selbstmord oder Suizidversuch trotz des weitverbreiteten Tabus beim Namen nennen. Es kann sehr entlastend sein, zu merken, dass auch andere Menschen schon in vergleichbaren Situationen waren.

      Selbstmord bedeutet für die nächsten Angehörigen ein massiv einschneidendes Lebensereignis, das ihr Leben stark beeinträchtigt und meistens auch verändert. Man spricht im Zusammenhang mit der nach einem Tod folgenden Traurigkeit und Trauer sehr treffend von Trauerarbeit, die ein Mensch zu leisten hat.

      Zu Tod und Sterben gehört Trauerarbeit, die jedoch unterschiedlich verläuft, je nachdem, ob jemand z. B. nach einer längeren qualvollen Krankheit, nach einem Unfall oder aber durch eigenes geplantes Dazutun stirbt. Im letzteren Fall fragen Angehörige und Freunde, nicht selten auch Arbeitskollegen oder Nachbarn, wie weit sie mit am Geschehen schuldig sind. Diese Gewissensbisse sind umso stärker, je konflikthafter die Beziehung zur suizidierten Person war. Auch wenn beispielsweise eine Scheidung oder Trennung, die dem Suizid vorausgegangen ist, mit zum Entschluss, dem eigenen Leben ein Ende zu bereiten, beigetragen haben, ist dies zwar eine mit auslösende Bedingung, aber keine hinreichende. Es gehört stets der Entschluss des Menschen dazu, einen Schlussstrich zu ziehen. Damit räumt er der derzeitigen Krise keine Entwicklungschance mehr ein.

      Es gibt selbstverständlich real begangene Schuld und Schuldigwerden am anderen. Menschen haben unterschiedliche Strategien, mit dieser Schuld umzugehen. Jedoch ist und bleibt es jeweils die Aufgabe des »Opfers«, sich dafür oder dagegen zu entscheiden, diese Schuld immer wieder hervorzuholen, sie dem anderen anzukreiden und nachzutragen. Derjenige, der nachträgt, erschwert sich das Gehen selbst. Wenn ein Hinterbliebener durch eigene Erkenntnis oder einen Abschiedsbrief auf begangene Schuld stößt, muss er entscheiden, wie weit die Vorwürfe gerechtfertigt sind und er sich mit ihnen identifizieren möchte. Manchmal entlastet es Hinterbliebene,


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