Das Evangelium nach Homer. Sebastian Moll

Das Evangelium nach Homer - Sebastian Moll


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zwischen Altem und Neuem Testament. Wenn es im Alten Testament „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ heißt, im Neuen Testament aber gefordert wird, die andere Wange hinzuhalten, so haben wir es mit einem klaren Gegensatz zu tun. Diese Gegensätze sind aber mitnichten ein Versehen, sondern im Plan der göttlichen Offenbarung angelegt. Für uns Christen bildet die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus den Höhepunkt dieser Offenbarung. Daher ist die gesamte Bibel, auch und gerade das Alte Testament, auf ihn hin bzw. von ihm her zu lesen. Wenn also Christus spricht: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar“ (Matthäus 5,38 - 39), so stellt er ganz bewusst sich selbst als das lebendige Wort Gottes über die Autorität der alttestamentlichen Überlieferung. Ebenso verhält es sich beispielsweise mit den alttestamentlichen Speisevorschriften, die Jesus mit seinen berühmten Worten „Es gibt nichts, was von außen in den Menschen hineingeht, das ihn unrein machen könnte; sondern was aus dem Menschen herauskommt, das ist“s, was den Menschen unrein macht“ (Markus 7,15) für nichtig erklärt. Wenn Ned Flanders also sagt, er habe koscher gelebt, um auf Nummer sicher zu gehen, dann hat er in seinem Übereifer, alle Gebote der Bibel gleichermaßen zu erfüllen, das Entscheidende übersehen, nämlich, dass Christus ihn von dieser Notwendigkeit befreit hat. Paulus spricht von solchen Menschen sogar als den Schwachen im Glauben (Römerbrief 14). Ironischerweise offenbart Ned durch sein Verhalten also keine Glaubensstärke, sondern eher Züge eines Pharisäers.

      Die zweite Gruppe von Widersprüchen bilden solche, die sich aus dem Charakter der Bibel als Schriftensammlung ergeben. Die Bibel ist kein in einem Mal von einer Person durchgeschriebenes Buch, sondern eine riesige Bibliothek verschiedener Bücher, zwischen deren Abfassung mitunter Jahrhunderte liegen. Aber nicht nur das: Manchmal sind auch einzelne Bücher aus verschiedenen Texten zusammengesetzt worden. Ein gutes Beispiel hierfür findet sich gleich zu Beginn der Bibel. Ursprünglich handelte es sich bei der Schöpfungsgeschichte um zwei voneinander unabhängige Erzählungen, die erst später zu einer einzigen zusammengefügt wurden. Die erste berichtet von der Schöpfung der Welt in sechs Tagen (Genesis 1 - 2,4a), die zweite beschreibt den Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradies (2,4b-3,28). Die zweite Erzählung ist eigentlich die ältere der beiden, wurde aber hinter die andere platziert, da sich nur so ein Übergang von der Erschaffung des Menschen innerhalb des Sechstagewerks zu den Ereignissen im Paradies herstellen ließ. Tatsächlich lassen sich gewisse Brüche trotzdem nicht leugnen, so zum Beispiel der Umstand, dass die Tiere in der ersten Erzählung vor dem Menschen geschaffen werden, in der zweiten aber erst nach ihm. Auch der Schöpfungsakt ist ein völlig anderer. Während Gott im ersten Bericht durch das Wort die Dinge erschafft, legt er in der zweiten Erzählung persönlich Hand an.

      Es ist völlig offensichtlich, dass nicht beide Versionen korrekt sein können. Deshalb sollte man sich auch davor hüten, von der Irrtumslosigkeit der Bibel zu sprechen. Die Bibel ist nicht irrtumslos im wissenschaftlichen Sinne, sie enthält ganz zweifellos Texte, die selbst mit großer Kreativität nicht glaubwürdig unter einen Hut zu bringen sind – was bedauerlicherweise nicht heißt, dass es nicht immer wieder versucht würde. Beim Lesen dieser Versuche hat man zuweilen allerdings den Eindruck, als befände man sich mitten in einer Folge der Simpsons!

      Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass sich die Schöpfungsberichte vor allem in ihrer Chronologie unterscheiden. Zwar sind beide Erzählungen auf den Menschen ausgerichtet, doch während er in der ersten als Krönung am Ende geschaffen wird, geht die zweite vom Menschen als Mittelpunkt aus, um dessentwillen die übrige Schöpfung (Pflanzen, Tiere etc.) erfolgt. Diejenigen, die solche Widersprüche nicht anerkennen wollen, argumentieren nun beispielsweise, dass es sich bei den Pflanzen, die Gott laut zweitem Schöpfungsbericht nach dem Menschen wachsen ließ, nicht um die laut erstem Schöpfungsbericht am dritten Tage geschaffene Vegetation handele, sondern dass damit Kulturpflanzen gemeint seien, die nicht zur ursprünglichen Schöpfung innerhalb der sechs Tage gehörten. Nun, das ergibt zweifellos Sinn – nicht für mich, aber anscheinend für andere. Meiner Ansicht nach sollte man, anstatt seine Zeit mit fragwürdigen Glättungsversuchen zu verschwenden, sich lieber an der theologischen Tiefe der Erzählungen erfreuen. Die Erkenntnis von Gut und Böse, durch die sich der Mensch von allen übrigen Geschöpfen abhebt und sich von der Herrschaft Gottes emanzipiert, durch die er aber zugleich des paradiesischen Urzustandes verlustig geht und die schwere Bürde ethischer Verantwortung auf seine Schultern lädt – diese existentzielle Erfahrung wird in der Schöpfungserzählung in sonst nie erreichter Schönheit und Einfachheit beschrieben.

      Auch beim Umgang mit den gelegentlichen Ungereimtheiten des Neuen Testamentes sollte man auf ähnliche Weise verfahren. Die Evangelisten waren nicht die Stenographen Jesu, die mit Notizblock hinter ihm herrannten, um seine Predigten und Gleichnisse wortgenau mitzuschreiben. Was wir heute in den Evangelien an Worten Jesu finden, entspringt zum Teil der eigenen Erinnerung der Autoren, zum Teil der Überlieferung, zu der sie Zugang hatten. Dass es dabei zu Unterschieden in ihren Darstellungen kommt, sollte wenig überraschen. Da darüber hinaus keiner von ihnen bei der Geburt Jesu dabei war, kommt es insbesondere in dieser Frage zu großen Unterschieden. Markus verzichtet gänzlich auf eine entsprechende Erzählung, bei Matthäus finden wir die Weisen aus dem Morgenland sowie den Kindermord des Herodes, Lukas berichtet von der Volkszählung des Augustus, und das Evangelium des Johannes beginnt mit einer kosmologischen Betrachtung.

      Auch wenn sich die Berichte nicht direkt widersprechen, sondern eher Einzelaspekte berichten (oder eben nicht), ist es dennoch nicht ganz leicht, etwa die Wiedergaben von Matthäus und Lukas in Einklang zu bringen. Wir haben es hier also mit einer ähnlichen Situation zu tun wie bei den unterschiedlichen Schöpfungsberichten des Alten Testaments.

      Betrachtet man hingegen beispielsweise die Gleichnisse Jesu, so finden sich bei ihnen nur geringe Unterschiede zwischen den einzelnen Evangelisten, sodass hier nicht von echten Widersprüchen gesprochen werden kann. Große Künstler wie Vincent van Gogh, der sich sein gesamtes Leben lang von Jesu Gleichnis vom Sämann inspirieren ließ, haben sich an solchen Abweichungen bei der Wiedergabe dieser wunderschönen Geschichte jedenfalls wenig gestört. Anstatt also auf den Abweichungen herumzureiten und diese zu Tode zu analysieren, sollten auch wir wieder lernen, die Schönheit der Worte zu genießen.

      Bei der dritten Art von Widersprüchen, die immer wieder gegen die Autorität der Bibel ins Feld geführt werden, handelt es sich nur um scheinbare Widersprüche. Sie werden deshalb auch nur von solchen Leuten vorgebracht, die nicht zwischen verschiedenen Arten von Texten unterscheiden können. Nicht alles, was in der Bibel geschrieben steht, gehört in die Kategorie ethischer Anweisungen. Deshalb ist auch ein Satz wie „Das steht aber in der Bibel“ für sich genommen völlig bedeutungslos. Vielfach werden einfach nur Geschehnisse berichtet, die aber nicht unbedingt zur Nachahmung empfohlen sind. Das gilt insbesondere im Hinblick auf Beziehungen und Sexualität, wie das folgende Beispiel von den Töchtern Lots (Genesis 19,31 - 36) beweist:

       Eines Tages sagte die Ältere zur Jüngeren: Unser Vater wird alt und einen Mann, der mit uns verkehrt, wie es in aller Welt üblich ist, gibt es nicht. Komm, geben wir unserem Vater Wein zu trinken und legen wir uns zu ihm, damit wir von unserem Vater Kinder bekommen. Sie gaben also ihrem Vater am Abend Wein zu trinken; dann kam die Ältere und legte sich zu ihrem Vater. Er merkte nicht, wie sie sich hinlegte und wie sie aufstand. Am anderen Tag sagte die Ältere zur Jüngeren: Ich habe gestern bei meinem Vater gelegen. Geben wir ihm auch heute Abend Wein zu trinken, dann geh und leg du dich zu ihm. So werden wir von unserem Vater Kinder bekommen. Sie gaben ihrem Vater also auch an jenem Abend Wein zu trinken; dann legte sich die Jüngere zu ihm. Er merkte nicht, wie sie sich hinlegte und wie sie aufstand. Beide Töchter Lots wurden von ihrem Vater schwanger.

      Es wäre mehr als fatal, aus dieser Begebenheit nun einen Widerspruch zum biblischen Inzestverbot zu konstruieren, ebenso wenig, wie man aus dem Bericht, dass König Salomo 700 Hauptfrauen und 300 Nebenfrauen gehabt habe, einen Gegensatz zum Gebot der Monogamie sehen sollte. Denn wer die Geschichte zu Ende liest, weiß, dass diese Frauen Salomo zum Verhängnis wurden. Auch die Geschichte von Tamar, die sich als Hure verkleidet, um ihren Schwiegervater zu verführen, sollte besser nicht als Aufwertung der Prostitution verstanden werden. Diese Art von vermeintlichen Widersprüchen löst sich also bei genauerem Hinsehen in Luft auf. Aber


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