Die heimliche Geliebte. Ilka Sokolowski

Die heimliche Geliebte - Ilka Sokolowski


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Merkwürdigerweise hatte ihre Freundin diese Regel nie auf sich selbst bezogen; sie hasste körperliche Betätigung.

      Leo griff nach Onkel Ludwigs Adressbuch und schlug die Seite mit dem Eselsohr auf. Sie sah sich noch einmal die Karte an. Der Ort, wo Katie jetzt lebte, war gar nicht weit von Wiedensahl entfernt. Katarina Singer hatte vor zwei Jahren die Leitung eines Heimes für geistig verwirrte Senioren übernommen. Es war in einem alten Forsthaus untergebracht, wie Leo von gemeinsamen Bekannten erfahren hatte, und lag irgendwo im Schaumburger Wald.

      Leos Finger fuhr suchend die Karte ab. Tatsächlich, es war eingezeichnet. Die Wald-Residenz musste es sein.

      Ob es das war, was die mondäne und lebenshungrige Katie sich erträumt hatte?

      Ich könnte sie besuchen, dachte Leo. An der Gesamtstrecke gemessen wäre es nur ein kleiner Umweg. Zwei lange Jahre hatten sie sich nicht mehr gesehen. Vielleicht war genug Zeit vergangen, um einen neuen Anfang zu machen. Sie und Katie hatten schließlich eine gemeinsame Geschichte. Dummerweise kam auch der gleiche Mann darin vor.

      Leo verbot sich jeden weiteren Gedanken daran und holte sich noch eine Portion Kartoffeln. Nach dem Essen stellte sie zusammen, was sie für den nächsten Tag brauchte. Sie steckte die Karte ein, stellte eine Thermoskanne für Tee bereit, füllte ein kleines Fläschchen mit Rum ab und packte es zusammen mit der Schokolade in den Rucksack. Regenjacke, Regenhose, Flickzeug, Fahrradblinklicht. Alles da, gut. Zum Schluss steckte sie noch die Digitalkamera ein. Ursprünglich hatte an der Wand neben Onkel Ludwigs |46|Schreibtisch ein Bild von Wilhelm Busch gehangen, der Nachdruck eines Ölgemäldes, das eine Dorfstraße mit windschiefen Bauernkaten zeigte. Leo hatte es abgenommen, weil sie die düsteren braunen und grauen Farben so deprimierend fand, und es hinter den Schreibtisch geschoben. Die Pinnwand, die sie stattdessen aufgehängt hatte, war voll mit Fotos und Farbausdrucken: Steingärten, japanische Gärten, Naturgärten, Wassergärten, verwilderte Gärten, englische Gärten, Bauerngärten. Eine optische Erinnerung, damit sie nicht aus den Augen verlor, was sie eigentlich wollte: grüne Lebenswelten schaffen.

      Sie musste früh aufbrechen, wenn sie sich in Ruhe umsehen wollte. Bis fünfzehn Uhr sollte sie es auf jeden Fall nach Wiedensahl schaffen. Ein Weilchen brütete sie noch über Jablonskys Notiz. War diese Backstube ein Café, in dem ein Treffen stattfinden sollte? Eine Galerie, in der um fünfzehn Uhr eine Ausstellung eröffnet wurde? Andererseits: Eine offizielle Einladung war diese Kritzelei wohl kaum. Leo sah dem kommenden Tag mit einiger Neugier entgegen. Sie überlegte, ob sie sich einen Schluck Rum als Schlummertrunk gönnen sollte, doch auf halbem Weg in die Küche wurde sie von der Türklingel gestoppt. Jemand läutete einmal zaghaft, dann etwas beherzter.

      Leo hatte das letzte Mal noch in unguter Erinnerung. Wer oder was würde jetzt vor ihrer Tür liegen? Sie hatte weder Lust auf Leichen noch auf späten Besuch.

      Trotzdem öffnete sie und wich unwillkürlich zurück, als sie sich Ostermann gegenübersah, der sich mit einer Hand die Nase putzte und in der anderen einen regennassen Blumenstrauß hielt.

      »Als Entschuldigung, auch im Namen von Rufus. Und als Willkommensgruß, sozusagen«, schnorchelte er. »Ich hoffe, Sie sind uns nicht mehr böse. Ich …« Und schon wurde er von einer neuen Niesattacke unterbrochen.

      Einen Cent für jeden Idioten, der ihr in den nächsten zehn Tagen noch über den Weg lief, und sie wäre reich. Leo packte Ostermann |47|am durchnässten Ärmel seines Mantels und zog ihn in die Wohnung.

      »Sind Sie lebensmüde? Bei diesem Wetter und in Ihrem Zustand draußen herumzulaufen!«

      »Nur bis zum Blumenladen«, krächzte er. »Mein Auto ist nicht angesprungen, und deshalb …«

      »Wollten Sie sich den Tod holen. Es gibt zuverlässigere Methoden, als sich zu Tode zu niesen.« Sie nahm ihm die Blumen und den Mantel ab.

      »Ich möchte Ihnen keine Umstände machen«, protestierte er.

      »Sie tropfen aber alles voll, wenn Sie so stehen bleiben.«

      Sie warf den Mantel über einen Küchenstuhl und reichte ihm ein Handtuch. »Für Ihre Haare.«

      Ostermann lächelte und setzte seine beschlagene Brille ab.

      »Das haben Sie nett gesagt.«

      Ostermann hatte ein glattes, altersloses Gesicht, doch sein Schädel war nahezu kahl. Dabei war er vermutlich noch gar nicht so alt, Leo schätzte ihn auf Anfang vierzig. Als er sich trocken rieb, bemerkte sie, wie gepflegt seine Hände waren, die Nägel rosig und kurz geschnitten. Wenn Ostermann lächelte, wirkte er sehr sympathisch. Lächelte er nicht, hatten seine Augen einen leicht besorgten Ausdruck, als würde er sich ständig fragen, ob auch alles in Ordnung sei.

      Ganz der freundliche Nachbar von nebenan, dachte Leo. Einer, dem man mit Freuden die Wohnungsschlüssel aushändigte, um unbesorgt in Urlaub zu fahren und der auch immer ausreichend Kaffee oder Zucker da hatte, wenn man mal gerade welchen brauchte. Ein schrecklich netter Typ eben. Der einem irgendwann furchtbar auf die Nerven ging, wenn er sich mitfühlend erkundigte, ob man schlecht schlief, weil das Licht die ganze Nacht brannte oder zum tausendsten Mal die Post mitbrachte – sehen Sie nur, meine Liebe, Tante Hilde hat Ihnen wieder geschrieben! –, weil der Briefträger ihm zufällig gerade begegnet war.

      Ostermann setzte seine Brille wieder auf.

      |48|»Es tut mir wirklich leid, dass Rufus Sie belästigt hat, und ich …«

      »Ist gut jetzt, ich glaub’s Ihnen ja.«

      Leo goss ihm einen Becher mit Tee ein und gab einen Schuss Rum dazu. »Hier, trinken Sie das. Das wärmt Sie auf.«

      »Oh, danke.«

      Sie bemerkte, wie aufmerksam er sich umsah, während sie nach einer Vase für die Blumen suchte. Es waren verschiedene Rosen in satten Gelb-, Rot- und Orangetönen.

      »Wirklich schön. Vielen Dank.«

      Sie stellte die Vase auf den kleinen Wohnzimmertisch und setzte sich. Ostermann nahm in einem der beiden Sessel ihr gegenüber Platz und blies in seinen dampfenden Becher.

      »Nett haben Sie’s hier«, sagte er. »Aber insgesamt haben Sie nicht viel verändert, oder?« Er beugte sich ein Stück über den Tisch. »Um ehrlich zu sein – vorhin hatte ich für einen Moment das Gefühl, Professor Heller würde noch leben. Halten Sie mich bitte nicht für neugierig, aber …«

      Für was denn sonst, dachte Leo.

      »Haben Sie das alles hier übernommen?«

      »Ja.«

      Er wartete einen Augenblick. Leo sagte nichts weiter und Ostermann räusperte sich.

      »Also … ich habe von Wang Li gehört, dass es gestern Ärger gab. Und heute Mittag war die Polizei bei mir. Der Tote vor Ihrer Tür muss ein grauenvoller Schock gewesen sein!«

      »In der Tat recht unerfreulich.« Es bereitete Leo ein unerklärliches Vergnügen, ihn zappeln zu lassen.

      »Kannten Sie Herrn Jablonsky?«, wollte Ostermann wissen.

      »Nein. Sie?«

      »Flüchtig. Ich war einige Male in seinem Antiquariat.«

      »Ich nehme an, er wollte zu meinem Onkel.«

      Ostermann war verblüfft. »Sie sind eine Verwandte von Professor Heller?«

      »Die Nichte.«

      |49|Leo hatte sich bislang nicht namentlich vorgestellt, und an ihrer Tür befand sich noch kein Schild. Allerdings hätte sie doch vermutet, dass zumindest gerüchteweise ihr Name im Haus schon einmal gefallen wäre.

      »Dass ich nicht gleich darauf gekommen bin! Ihr Onkel hat oft von Ihnen gesprochen. Er hat Sie sehr gern gehabt.«

      Leo konnte es nicht ausstehen, wenn die Leute mehr über sie wussten als sie selbst über diese. Katie hätte das vermutlich als zwanghaften Wunsch nach Kontrolle bezeichnet, Professor Irschinger hätte ihr wohl zugestimmt. Leo konnte nichts


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