Die heimliche Geliebte. Ilka Sokolowski
Erstkontakt angeht. Wie das eben beim Studieren so passiert. Du schreibst eine Hausarbeit, in dem du jemanden erwähnst, weckst das Interesse deines Professors, der regt an, dies und jenes eingehender zu untersuchen – und schon steckst du mittendrin. Aber dass ich dabei geblieben bin, das liegt an Buschs persönlicher Geschichte. Wilhelm Busch ist nicht nur der, den alle zu kennen glauben, er ist mehr.«
Ungeduldig wedelte Leo eine Fliege weg, die ihr beständig um den Kopf schwirrte. Das war doch bloß kryptisches Gerede, nichts als heiße Luft.
»Was soll er denn sonst sein«, sagte sie gereizt. »Jeder ist so, wie er ist. Du bist Ludwig Heller und ich Leo.«
»Klare Verhältnisse, ja? Du bist so geradlinig, Leo. Das mag ich an dir. Aber das ist auch dein Problem.«
»Ich sehe nicht, was daran problematisch sein soll. Mein Leben ist schon kompliziert genug. Ich muss sowieso langsam los, Mama ist bestimmt schon unruhig.«
Es war eine Scheißidee gewesen, an einem Tag wie diesem herzukommen. |33|Die Hitze machte sie verrückt und bissig wie die verdammten Fliegen.
Onkel Ludwig jedoch hatte seelenruhig die Hände auf seinem Bauch gefaltet, über dem sich die helle Leinenweste merklich spannte, und deutlich gemacht, dass Hanna, wenn sie denn auf Leos Rückkehr wartete, sich noch ein Weilchen gedulden musste.
»Was fällt dir zu Wilhelm Busch ein? Du hast ein fertiges Bild im Kopf, nicht wahr?«
Leo antwortete mit einem Schulterzucken und scharrte missmutig mit ihrer Schuhspitze in der staubigen Erde herum.
»Ein Bild, das alle kennen«, fuhr Onkel Ludwig fort. »Das von dem einsiedlerischen alten Junggesellen, der in seinem Dorf hinter dem Ofen hockt, Pfeife schmaucht und Bildergeschichten kritzelt. Das ist die eine Geschichte.«
Er wischte sich erneut mit seinem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Sein Atem ging schwer, und Leo warf ihm von der Seite heimlich einen besorgten Blick zu.
»Die andere geht so: Ein Teenager setzt sich gegen den Willen seines Vater von der Schule ab, um Kunst zu studieren. Aber dann gibt er es auf, den alten Meistern nachzueifern. Er zieht in die Welt hinaus – ich würde mal sagen, München ist schon eine ganz hübsche Herausforderung für jemandem vom flachen Land –, schlägt sich als Zeichner durch, hat unverhofft Erfolg. Er erweist sich als scharfzüngiger Beobachter, entdeckt, dass er ebenso gut mit Worten wie mit dem Kohlestift umgehen kann. Er genießt das Münchner Nachtleben, die Gunst der Frauen, die Eindrücke von Reisen, anregende Briefwechsel. Und das tut er zeitlebens. Aber immer wieder kehrt er zurück in die provinzielle Einsamkeit.«
Onkel Ludwig nahm seinen Strohhut ab und drehte ihn in den Händen. Auf seiner Stirn zeichnete sich ein roter Streifen ab, wo das Hutband zu straff gesessen hatte. Er hielt die Augen auf den Teich vor ihnen gerichtet und wandte kein Auge von den Enten, während er weiterredete.
»Weltbürger hier, Einzelgänger da, Maler, Dichter, Hagestolz, |34|Provinzler, Rosenliebhaber, Bienenzüchter, es sind zahllose Etiketten, die ihm aufgeklebt wurden, du kannst sie dir aussuchen. Aber wer ist der wahre Wilhelm Busch, Leo?«
»Weiß ich doch nicht.« Es interessierte sie ungefähr so sehr wie die neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet der Quantenphysik. Sie wusste ja nicht einmal, wer sie selbst war.
»Ich möchte, dass du begreifst, dass es immer noch eine andere Version von den Dingen gibt als die, die wir kennen«, sagte Onkel Ludwig. »Die eine Geschichte ist für die Öffentlichkeit bestimmt. Manchmal wäre es angenehmer, die andere nicht zu erfahren. Aber irgendwann drängt sie doch hervor.«
Leo ahnte, dass sie gar nicht mehr von Wilhelm Busch sprachen.
»Was soll das? Worum geht es hier eigentlich?«
Ihr war heiß, sie war nervös und angespannt bei dem Gedanken, dass ihre Mutter wahrscheinlich schon auf sie wartete.
»Es geht darum, dass du und deine Mutter eigentlich in der Heller’schen Villa wohnen und ein sorgenfreies Leben führen solltet.«
Leo warf ihrem Onkel einen ungeduldigen Blick zu. »Ich weiß. Die alte Leier. Sie wird ja nicht müde, das ohne Ende zu wiederholen. Aber vielleicht verrät mir endlich mal jemand, warum das nicht der Fall ist.«
»Ja«, sagte er, »ich denke, es wird Zeit. Wenn sie es nicht tut, tue ich es.«
Leo rückte unwillkürlich ein Stück von ihm ab. Sie wollte es lieber doch nicht wissen.
»Deine Großeltern, Leo, führten ein Handelskontor. Im Krieg hatten sie zwar alles verloren, aber danach schafften sie es mit hanseatischer Nüchternheit und Strenge in kürzester Zeit, ihr Vermögen wieder aufzubauen. Sie hinterließen Hanna und mir beachtliche Werte in Form von Grundbesitz und Wertpapieren.«
Er schwieg einen Moment und ließ zwei Spaziergänger passieren. Einige Enten flatterten schnatternd auf, zogen in einem flachen Halbkreis dicht über dem Wasser dahin und ließen sich in einiger Entfernung nieder. Als wieder Ruhe eingekehrt war, fuhr er fort:
|35|»Man kann sagen, dass wir ziemlich wohlhabend waren. Und naiv, oh mein Gott! Ich hatte da so einen Traum, weißt du, von einer Privatschule, die sich zu einem Institut mausern sollte und dann, in goldener Zukunft, zu einer kleinen, aber feinen Privatuniversität. Es war gar nicht schwer, Hanna zu überreden, unser gemeinsames Erbe in ein riskantes Immobiliengeschäft zu stecken.«
»Und dann?«, fragte Leo gegen ihren Willen, obwohl sie die Antwort kannte. Onkel Ludwig reckte den Hals, als gäbe es hinten bei den Enten etwas sehr Interessantes zu beobachten.
»Es ging den Bach runter. Gründlich. Wir mussten die Villa verkaufen und hatten trotzdem noch einen Haufen Schulden am Hals. Das heißt, ich hatte sie am Hals, denn ich war schließlich schuld an dem Dilemma. Allerdings brach es nicht unvermittelt über uns herein. Unser Schiffbruch zog sich über zwei Jahre hin. In dieser Zeit lernte deine Mutter einen viel versprechenden jungen Mann aus Diplomatenkreisen kennen.«
»Meinen Vater«, warf Leo ein. Ihr Onkel nickte.
»Er war begeistert von Hanna und der vermeintlich aussichtsreichen Zukunft. Leider nur so lange, bis unser Ruin nicht mehr zu verheimlichen war. Dann löste er vorsichtshalber die Verlobung und verschwand. Später bekam ich heraus, dass er die erstbeste Möglichkeit genutzt und sich nach Ceylon hatte versetzen lassen.«
»Sie war schwanger mit mir«, stellte Leo nüchtern fest. Diesen Teil der Geschichte kannte sie bereits, nur der Grund für das Verschwinden ihres Erzeugers war immer verschwiegen worden. Hanna hatte sich in tränenreiche Ausbrüche geflüchtet, wann immer Leo nachfragte.
»Und? Warum habt ihr ihn nicht unter Druck gesetzt? So etwas wie Unterhaltspflicht gab es doch auch damals schon.«
»Deine Mutter ist stolz«, sagte Onkel Ludwig nur. »Sie hätte standesgemäß heiraten und einem gepflegten großen Haushalt vorstehen sollen. Niemand hatte sie auf das Leben vorbereitet, das sie nun führen musste. Sie gehört zu einer anderen Generation, Leo. |36|Frauen wie deine Mutter wurden nicht dazu erzogen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.«
Hanna musste zumindest aus der Ferne die 68er miterlebt haben, und da klammerte sie sich immer noch an der Rolle der höheren Tochter aus gutem Hause fest? Leo konnte es nicht begreifen. Aber ihre Familie war ja schon immer irgendwie anders gewesen.
»Unsere Rettung damals war mein Lehrauftrag hier an der Hochschule«, schob sich Onkel Ludwigs Stimme in ihre Gedanken. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich war, als ich ihn bekam. Wir zogen in die Mietwohnung, die ihr beide euch jetzt teilt.«
Leo erinnerte sich an ihre ersten Kinderjahre, an die Zeit zu dritt, und dachte, dass die Situation nach ihrer Geburt bestimmt nicht einfacher geworden war. Von da an war für ihre Mutter erst recht nicht daran zu denken gewesen, sich eine Arbeit zu suchen, und es blieb ihr unangenehm viel Zeit, sich auf ihre Tochter zu konzentrieren.
»Es war schöner, als du noch bei uns warst«, sagte Leo leise. Sie nahm Onkel Ludwigs Hand, und er erwiderte ihren Händedruck.
»Deine