Lufthunde. Burkhard Müller

Lufthunde - Burkhard Müller


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intensivste Umgang mit dem kindlichen Selbst damals wirklich bedeutet hat, für die Kinder und für die Erwachsenen, die aus ihnen hervorgingen. Eine ganze Epoche scheint sich darauf verständigt zu haben, dass dies »noch keinem geschadet hat«. Jedenfalls konnte Busch auf breite Zustimmung rechnen, wenn er den Umkreis des gesellschaftlich Üblichen und Akzeptablen hier so weit wie möglich dehnte, damit auch die von ihm erfahrene Gewalt noch darin Platz fand und seine Biographie sozusagen ein Dach über dem Kopf bekam. Die Welt muss wesenhaft bös sein, auch und gerade die Kinder (die von ihnen kaum geschiedenen Tiere sowieso): Sonst nämlich wäre ihm, dem einzelnen Kind, ein beispielloses, ihn gänzlich vereinsamendes Unrecht widerfahren; und das wäre schlimmer, als sich selbst für verworfen erklären müssen. »Es saust der Stock, es schwirrt die Rute./​Du darfst nicht zeigen, was du bist./​Wie schad, o Mensch, dass dir das Gute/​Im Grunde so zuwider ist.« Die Rettung naht hier in der Anrufung der anthropologischen Konstante. »O Mensch«, da scheint er sich mit vorsätzlicher Komik im Ton zu vergreifen; aber es ist ein echtes De Profundis, das bei aller Schwärze seine tröstliche Wirkung entfaltet, indem der persönlich Verkümmerte sämtliche Sterblichen als seine Schicksalsgenossen erkennen darf.

      Diese Hornhaut musste sich der Künstler Busch zulegen, damit sie die alten Striemen bedeckte und vor schmerzender neuer Berührung schützte; hier liegt die Wurzel seiner Lustigkeit, wie auch (denn da befindet er sich in breiter Gesellschaft) des elenden Humors des ganzen 19. Jahrhunderts. Wo Wilhelm Busch diese Dinge, die er unausgesetzt gestaltet, leibhaftig tut, da sind sie nicht lustig, sondern verbreiten um sich den peinlichen Schrecken: Als er 1881 seine Münchner Freunde besucht, zieht er der Schwester Franz Lenbachs den Stuhl weg, dass sie auf den Hintern fällt, und wirft über die Köpfe der Anwesenden plötzlich einen Käse an die Wand. Danach geht er und kehrt nie wieder. Er muss sich in Grund und Boden, er muss sich zu Tode geschämt haben. Solchen vernichtenden Gefühlen antworten die Todesarten, die er für seine Figuren findet. Nicht zufrieden damit, ihnen das Leben zu nehmen, tilgt er die erkennbare Gestalt vom Angesicht der Erde, sie wird mit einem wahren Ingrimm von Mühlsteinen zermalmt wie Max und Moritz, platt ausgewalzt wie die bösen Buben von Korinth, zu Asche verbrannt wie die fromme Helene, zu zackigen Eisgebilden transformiert und dann amorph zerschmolzen wie der Eispeter. Dies unterscheidet Busch grundsätzlich vom Comic, als dessen Ahnherr er verdientermaßen in Anspruch genommen wird. Wenn dem Koyoten Karl ein Amboss auf den Kopf fällt, ist er im nächsten Panel, trotz einiger Heftpflaster, wieder wohlauf. Bei Busch aber bleiben die Toten tot. Der Tod bei Busch stellt den Grenz- und Testfall des Lustigen dar, auf den er mit Entschiedenheit hinarbeitet.

      Zum Furchtbarsten der kindlichen Kälteschäden gehört es, dass ihr Opfer nicht einmal mehr zu einer klaren Vorstellung des möglichen Anderen, des Glücks, imstande ist. Bei Busch zeigt sich das krass beim einzigen Gegenstand, wo man ihm wirklich zeichnerische Mängel nachsagen kann, beim Bild der schönen Frau. Erkennbar sucht er sie in ihrer Lieblichkeit aus dem karikaturistischen Umfeld inselhaft herauszuheben. Man betrachte die Portraitbüste der Christine Dralle in »Schnurrdiburr«: Wie hier Anmut als Kindchenschema vonstatten geht, wie der angestrebte Silberblick zum Ausdruck des bekümmerten Schwachsinns gerinnt! Alle anderen Figuren um sie herum sind sozusagen karikaturistische Skelette; sie allein hat vor lauter Holdseligkeit keinen einzigen Knochen im Leib und ähnelt in der Durchführung dem ungebackenen Brotteig, der in Buschs Geschichten eine so auffallende Rolle spielt.

       Knochenlose Schönheit

      (Auszunehmen wäre hier allein die Fromme Helene, die es wohl verdient, Buschs »erwachsenstes« Werk genannt zu werden. Auch sie freilich folgt dem Muster der sinkenden Biographie, das für so viele der längeren Bildergeschichten gilt; aber hier springt Busch einmal über seinen Schatten, er identifiziert sich feinfühlig mit dem andersartigen Wesen Frau; und so ist es, was bei Busch nicht oft vorkommt, ein Buch voll sozialen Takts geworden – ein Eindruck, den er durch die abschließende Höllenfahrt allerdings soweit wie möglich wieder verwischt. Soweit auf deutschem Boden eine Madame Bovary erblühen konnte: Das ist sie.)

      Über Busch und die Frauen ist viel geschrieben worden; es hat für ihn zweifellos hier viel Angst, Enttäuschung und Demütigung gegeben, auch, wie es scheint, einiges an Ausflucht und Verrat von seiner Seite. Die Ehe stellt das große ungelöste Problem in seinem Leben und Werk dar. Wenn man den »Tobias Knopp« liest, speziell den ersten Teil der Trilogie, worin er suchend die Welt durchreist und auf mancherlei beweibte und unbeweibte Lebensmuster stößt, fühlt man sich an Buschs älteren Zeitgenossen Kierkegaard und dessen sehr ernst gemeintes Wort erinnert: Heirate, und du wirst es bereuen; heirate nicht, und du wirst es auch bereuen. Als Knopp, desillusioniert und wie aus einer verlorenen Schlacht, heimkehrt, macht er schließlich seiner Dienstmagd einen Antrag: »›Mädchen‹, spricht er, ›sag mir, ob … ‹/​Und sie lächelt: ›Ja, Herr Knopp!‹« Ein kleinmütigeres Happy-End lässt sich nicht gut vorstellen. Auch wo Busch das ausdrückliche Liebesglück graphisch festzuhalten strebt, erscheint eine zwiespältige Hieroglyphe: das küssende Paar im Profil, deutlich geschieden, wobei die rüsselförmig vorgeschobenen Lippen zu einer Art gemeinschaftlich genutzter Pipette werden, die sprödestmögliche Verschmelzung der Geschlechter. Zu guter oder schlechter Letzt läuft es für den Menschen Busch auf das Junggesellentum hinaus, ein Leben ohne »tugendsamen Vorgesetzten«, wie er die Gestalt der Hausfrau mit Schalkheit und Argwohn fasst. Dazu singt er sich, wie ein Wiegenlied, einen Refrain, »Schön ist’s, Junggeselle sein!« Die letzte Strophe lautet, in einer Resignation, die erschreckend wüste Züge annimmt: »Heut stolziert er auf und ab,/​Morgen scheißt der Hund aufs Grab,/​Dies ist dann sein Leichenstein –/​Schön ist’s, Junggeselle sein!«

       Der Pipettenkuss

      Hier ist guter Rat teuer. Schopenhauer hatte sich das Gleichnis der Stachelschweine in einer Winternacht ausgedacht; zwischen den beiden gleich unangenehmen Extremen des isolierten Frierens und des wechselseitigen Piekens finden sie schließlich einen Mittelabstand, in dem sie nur ein bisschen frieren und einander nur ein bisschen pieken müssen. So wählt Busch zwischen den Übeln des familiären Erstickungstods und der völligen Vereinsamung die Onkelschaft – sowohl in seinem Privatleben als auch für viele seiner Geschichten. Onkel sein ist das mittlere Übel und das mittlere Gut; es inhäriert schon dem bloßen Wort eine gewisse und von Busch weidlich genutzte Komik wie etwa auch der Nase. Seine Onkelpflichten nahm Busch so ernst, wie er den Vaterpflichten aus dem Wege ging. »Vater werden ist nicht schwer,/​Vater sein dagegen sehr«, lautet eins seiner geflügelten Worte, die selbst in der zitatarmen heutigen Zeit noch kursieren; und doch gilt ebenso: »Onkel heißt er bestenfalles,/​Aber dieses ist auch alles.«

      In einem umfassenden Sinn ist Wilhelm Busch unser aller Onkel geblieben. Als ein glückliches Resultat wird man das nicht bezeichnen wollen, eher als eine typisch familiäre Notlösung (mehr Not als Lösung, möchte man sagen). Der Preis, den er für die Duldung im Schoß seiner Lieben zu zahlen hat, liegt in der Anmutung der Lustigkeit, die er seiner doch eigentlich traurigen Existenz zu geben hat; aufs Lustige kommt man bei Wilhelm Busch immer wieder zurück. Es eignet dieser pläsierlichen Haltung eine ansteckende Kraft, fast wie einem Gähnen, die bis heute zu spüren ist: Die Mechanismen, an denen Busch sich formte und von denen er verformt wurde, können nicht gänzlich verschollen sein. Man muss schon sehr kämpfen, um sich da nicht einfach kongenial gehen zu lassen. Noch Gerd Haffmans schreibt 2004 in seinem Nachwort: »Sollte der unmögliche Fall der Fall sein, dass jemals jemand alkoholische Getränke in ein wenig reichlicher Form zu sich genommen hat, so wird er bei Betrachtung dieser Bilder nur ebenso bitter wie beifällig in sich hineinmurmeln: ›Jaja, genau so isses.‹« Dabei liegt es auf der Hand, dass diese Bilder – gemeint sind vor allem die Rausch-Episoden der »Haarbeutel« – das Werk eines schwer alkoholkranken Mannes sind. Indem Haffmans Busch den Gefallen tut, diese Tatsache schmunzelnd zu verharmlosen, tut er ihm zuletzt keinen Gefallen; er verweigert ihm das erlösende Wort, das hier so dringend nötig wäre wie im »Parsifal«: Oheim, was ist Euch?

      Und so hat man bei der Busch-Rezeption oft den Eindruck, auch nach hundert Jahren, dass hier weniger die Nachwelt als eine verschleppte


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