Lufthunde. Burkhard Müller
anders, mit anderen Mitteln und anderen Zwecken, bekämpft werden. Das Christentum respektiert das Böse (und eben dieses erkennt sie im Egoismus) als Gegner eigenen Rechts, statt es als bloßen Defekt herausschneiden zu wollen. Die antike Philosophie hingegen (die vor allem eine Ethik ist) verfehlt das Böse kategorial und wird darüber, in ihrem übertrieben optimistischen Menschenbild, selber dumm. Das Christentum erst machte mit der furchtbaren Seichtheit des antiken philosophischen Denkens ein Ende, es zerstieß die Wand dieses allzu heiteren Nichtschwimmerbeckens zum Ozean aus Heil und Verdammnis – nicht ohne bald in seiner eigenen Dummheit zu versacken, wie Nietzsche anzumerken nicht unterlässt. – So also erliegt Nietzsche der vorsprengenden Wucht seiner Assoziationen. Auf Höhe des Wortes »Dummheit« liegt eine dünne Stelle, der Funke springt falsch über, und der Gedankenblitz zündet als Kurzschluss.
Vierter Stich: Jenseits von Gut und Böse: Unsere Tugenden, Nr. 231
»Das Lernen verwandelt uns, es tut das, was alle Ernährung tut, die auch nicht bloß ›erhält‹–: wie der Physiologe weiß. Aber im Grunde von uns, ganz ›da unten‹, gibt es freilich etwas Unbelehrbares, einen Granit von geistigem Fatum, von vorherbestimmter Entscheidung und Antwort auf vorherbestimmte ausgelesene Fragen. Bei jedem kardinalen Probleme redet ein unwandelbares ›das bin ich‹; über Mann und Weib zum Beispiel kann ein Denker nicht umlernen, sondern nur auslernen – nur zu Ende entdecken, was darüber bei ihm ›feststeht‹. Man findet beizeiten gewisse Lösungen von Problemen, die gerade uns starken Glauben machen; vielleicht nennt man sie fürderhin seine ›Überzeugungen‹. Später – sieht man in ihnen nur Fußtapfen zur Selbsterkenntnis, Wegweiser zum Probleme, das wir sind – richtiger, zur großen Dummheit, die wir sind, zu unserm geistigen Fatum, zum Unbelehrbaren ganz ›da unten‹. – Auf diese reichliche Artigkeit hin, wie ich sie eben gegen mich selbst begangen habe, wird es mir vielleicht eher schon gestattet sein, über das ›Weib an sich‹ einige Wahrheiten herauszusagen: gesetzt, dass man es von vornherein nunmehr weiß, wie sehr es eben nur – meine Wahrheiten sind.«
Ein eigentümlich umwegiger Text. Man weiß erst gar nicht, was er will, merkt bloß etwas befremdet, wie hier das Pompöse – »Fatum«, »Granit«, »vorherbestimmt«, »ausgelesene Fragen«, »kardinales Problem« – Hand in Hand geht mit dem Herumdrucksen des »ganz ›da unten‹«, dieses auch noch, zum Zeichen des schlechten Gewissens, in Gänsefüßchen gesetzt. (Es gibt hier allgemein sehr viele Gänsefüßchen.) Das, worum es sich in Wahrheit handelt, wird in einem Understatement, das an Falschmeldung grenzt, mit einem ›zum Beispiel‹ hereinbugsiert. Das Weib also. Seine Angst davor und sein Unglück, das daraus entspringt, kann Nietzsche nicht zugeben, am allerwenigsten aber seinen Mangel an Erfahrung mit diesem imaginierten Wesen. Es ist lustig und traurig zugleich, wie er hier zwischen Umlernen und Auslernen den Unterschied macht, wo er doch kaum zum Anlernen gekommen ist, und mit was für miserablen Exemplaren: seiner Mutter, seiner Schwester und der schlimmsten von allen, der Sammlerin bemerkenswerter Männer Andreas-Salomé. Auf dieses vampirische Terzett lassen sich keine verallgemeinerungsfähigen Aussagen gründen. Aber um sein höchstpersönliches Pech zu maskieren, muss Nietzsche tun, als hätte er unter keinen Umständen was Besseres gekriegt, weil die anderen nämlich auch alle so sind. Die Brüste sind ihm viel zu sauer. Er flüchtet sich, was er mit seiner feinen Psychologie bei einem anderen sofort durchschaut hätte, aus der Scham in den Trotz. Wenn einer mit dieser Geste sagt »meine Wahrheiten«, dann kann man Gift drauf nehmen, dass es noch nicht mal seine Wahrheiten sind. Interessant ist die Sache mit den Fußtapfen zur Selbsterkenntnis, die man nach einiger Lebenszeit aus seinen verschiedenen und scheinbar ganz getrennt-zufälligen Erlebnissen lesen kann. Damit dieser Gedanke aber Wahrheit erlangte, müsste er mit mehr Freiheit entwickelt sein und nicht so völlig aus dem unfruchtbaren Geist der Defensive.
Fünfter Stich: Menschliches, Allzumenschliches,
Erster Band: Von den ersten und letzten Dingen, Nr. 32
»Ungerechtsein notwendig. – Alle Urteile über den Wert des Lebens sind unlogisch entwickelt und deshalb ungerecht. Die Unreinheit des Urteils liegt erstens in der Art, wie das Material vorliegt, nämlich sehr unvollständig, zweitens in der Art, wie daraus die Summe gebildet wird, und drittens darin, dass jedes einzelne Stück des Materials wieder das Resultat unreinen Erkennens ist, und zwar dies mit voller Notwendigkeit. Keine Erfahrung zum Beispiel über einen Menschen, stünde er uns auch noch so nah, kann vollständig sein, so dass wir ein logisches Recht zu einer Gesamtabschätzung desselben hätten; alle Schätzungen sind voreilig und müssen es sein. Endlich ist das Maß, womit wir messen, unser Wesen, keine unabänderliche Größe, wir haben Stimmungen und Schwankungen, und doch müssten wir uns selbst als ein festes Maß kennen, um das Verhältnis irgendeiner Sache zu uns gerecht abzuschätzen. Vielleicht wird aus alledem folgen, dass man gar nicht urteilen sollte; wenn man aber nur leben könnte ohne abzuschätzen, ohne Abneigung und Zuneigung zu haben! – denn alles Abgeneigtsein hängt mit einer Schätzung zusammen, ebenso alles Geneigtsein. Ein Trieb zu etwas oder von etwas weg, ohne ein Gefühl davon, dass man das Förderliche wolle, dem Schädlichen ausweiche, ein Trieb ohne eine Art von erkennender Abschätzung über den Wert des Zieles existiert beim Menschen nicht. Wir sind von vornherein unlogische und daher ungerechte Wesen und können dies erkennen: dies ist eine der größten und unauflösbarsten Disharmonien des Daseins.«
Die hier angewendete Art, Texte auszuwählen, führt dazu (und das darf man nicht nur als einen Nachteil buchen), dass auch solche zum Vorschein kommen, die sonst kaum jemand der näheren Betrachtung gewürdigt hätte. Einige der vorherigen Stücke waren problematisch; dieses darf man mit Fug und Recht als schwach bezeichnen. Es hält sein Thema nicht. Zunächst scheint es um den Wert des Lebens überhaupt zu gehen, man vermutet eine Abrechnung mit den pessimistischen Theorien; auf sehr pedantische Weise wird auseinandergesetzt, warum wir keine vollständigen Daten zum Wert des Lebens gewinnen können, was wenig zur Sache tut. Dann aber, wiederum gelockt von nur einem Wort (»ungerecht«) und unter dem Vorwand des Beispiels, springt Nietzsche in eine völlig andere Bahn über: Plötzlich geht es darum, ob wir unsere Mitmenschen billig beurteilen können. Das können wir natürlich nicht. (Übrigens schließt das die Weiber ein – man sollte Nietzsche öfters mit sich selbst konfrontieren.) Wo, bitte, steckt hier das Problem? Sollte es je eins gewesen sein, so hat es sich jedenfalls nicht bis in unsere Zeit gehalten und ist verdunstet. Auch die beklagte »Disharmonie« wurde nicht aufgelöst, sondern ist verklungen, so ähnlich wie manche andere, die sich auf Nietzsche zurückführt, z. B. der Antagonismus von Künstler und Bürger im »Tonio Kröger« von Thomas Mann. Dass der Mensch ein grundhaft unlogisches Wesen sei, darf man getrost verneinen. Nicht folgerichtig bis in jenes Letzte, in dem doch zumeist auch ein geheimer Fehler steckt, der, wenn man nicht einschreitet, monströse Irrtümer zeitigt, unterwirft er sich doch von Sekunde zu Sekunde den einströmenden Daten und mittelt seine Stellung dazu aus, die so gut wie immer eine sehr vernünftige Näherung ans je Erforderliche mit sich bringt. Ein Individuum ist er halt, in jedem seiner ungezählten Exemplare, dem die Justierung auf das ihn umgebende Allgemeine nicht erlassen wird. Gerechtigkeit ist seine geringste Sorge. Übrigens kann jeder, der sich umhört, feststellen, dass das, was die Leute so übereinander sprechen, abgesehen von einer gewissen spitzen Neugier, die aber selten bösartig wird, einander sehr große Gerechtigkeit widerfahren lassen. Und wo sie aus konventioneller Gedankenlosigkeit ihre Einwände zu Protokoll geben, etwa wenn eine ältere Frau und ein sehr viel jüngerer Mann zusammenfinden, dann genügt meist eine einzige lenkende Bemerkung – Bedenkt, das Glück der beiden hängt auch davon ab, was ihr davon redet! –, um sie zur Besinnung zu bringen. Das Gerechtigkeitsgefühl waltet in den Meisten wie ihr Gleichgewichtssinn: rein subjektiv, aber doch mit einer blitzschnellen praktischen Unfehlbarkeit begabt, die verhindert, dass irgendwas kippt und stürzt. Selbst die Ungerechtigkeit kann man, mit jener erheblichen Lust, die dem Ausübenden von seiner besonderen Kunst gewährt wird, ins Joch der Gerechtigkeit zwingen. Dazu braucht man allerdings Übung. Man kann es lernen, sein Ressentiment als Leitspur zu gebrauchen. Hier stimmt was nicht, das sagt mir meine Nase – doch was? Hier muss man dann vom Geruch zum nachweislichen Augenschein übergehen. Und Gerechtigkeit, auch das sollte nicht vergessen werden, ist nicht alles; in den besten, wichtigsten, fruchtbarsten menschlichen Beziehungen kann ihr immer karges Kalkül vor lauter Großmut gar nicht Fuß fassen.