Lufthunde. Burkhard Müller
das?
240. Am Meere. – Ich würde mir kein Haus bauen (und es gehört selbst zu meinem Glücke, kein Hausbesitzer zu sein!). Müsste ich aber, so würde ich, gleich manchem Römer, es bis ins Meer hineinbauen – ich möchte mit diesem schönen Ungeheuer einige Heimlichkeiten gemeinsam haben.
241. Werk und Künstler. – Dieser Künstler ist ehrgeizig und nichts weiter: zuletzt ist sein Werk nur ein Vergrößerungsglas, welches er jedermann anbietet, der nach ihm hinblickt.«
Hier ruhte die Spitze der Nadel eigentlich nur auf der Nummer 237, das heißt der unergiebigsten in weiter Runde (denn dazu, die Höflichkeit aus berechnender Furcht zu deduzieren, gehört nicht eben viel Erkenntnis); und ich habe mir die kleine Schummelei gestattet (kein Orakel und kein Aberglaube ohne kleine Schummeleien, von denen ihre Autorität merkwürdigerweise jedoch nie angetastet wird), die nächsten Nummern noch dazuzunehmen – auch darum, weil es einzeln eben wieder bloß ein Aphorismus wäre und Werk und Künstler als das erscheinen müssten, was Nietzsche in Nr. 241 sagt; dieses Stück soll um seines warnenden Inhalts willen die zitierte Strecke abschließen. Es ist in der »Fröhlichen Wissenschaft« doch ein anderes Bauprinzip vorhanden als die Selbstverliebtheit, nämlich der Wille, aus hingestreuten Mosaiksteinen ein Ganzes zu fügen. Es ist ein heiteres Prinzip. Nietzsche aber muss es sogleich übertreiben und spricht statt von einer heiteren von einer fröhlichen Wissenschaft. Damit senkt sich auf das Lichte etwas Schwüles herab, von dem das Gemeinte zu Boden gedrückt wird. So ähnlich steht es damit wie mit seiner, des hilflosen Nichttänzers, Rede vom Tanz, die peinlich berührt.
Man beachte, wie in den Stücken 238 und 240 das Personalpronomen verwendet ist, wie es hier einmal »er« und einmal »ich« heißt, obwohl es sich bestimmt beidemale um niemanden als Nietzsche selbst handelt. Leichter liefert er seine bürgerliche Existenz aus, die in der Frage nach dem Immobilienbesitz tangiert wird. Seine Antwort: grundsätzlich nein, aber wenn ja, dann nur in größtem Stil. Ein bisschen Protzerei ist bestimmt auch dabei. Es schwingt außerdem noch etwas anderes mit, das sich, altphilologisch codiert, für den heutigen Leser so ziemlich verbirgt: Dieses Hinausbauen der Villen ins Meer stellt im philosophischen und poetischen Diskurs der römischen Kaiserzeit das klassische Beispiel für maßlose Verschwendung dar; kaum ein Autor, der sich dieses offenbar stark auffällige Motiv entgehen ließ, um zu demonstrieren, was an der Entwicklung seiner Zeit schiefläuft. Nietzsche schlägt hier, uns kaum mehr erkennbar, dem ethischen Konsens der Antike ins Gesicht. Es handelt sich um eine verkappte Polemik gegen die stoische Forderung nach Wahrung des rechten Maßes. Maßlos will er sein in der Wendung ans Elementare! Freilich so verklausuliert, dass es sein Maß doch wieder in der geringen Zahl jener trägt, die es wirklich verstehen können.
Daneben steht eine andere und noch viel größere Vorsicht in Nr. 238. Es gehört nicht zu den Geheimnissen, dass unter Künstlern, Schriftstellern und Intellektuellen Neid, Hass und Eifersucht gedeihen wie kaum sonst irgendwo, einfach deswegen, weil erstens jeder, was er leistet, nur allein leisten kann, zweitens jeder andere als Konkurrent erscheint und es drittens keine ein für allemal ausgemachten Ränge gibt, damit auch keine Beilegung des Wettstreits, der tendenziell nie endet. Dichter, herrlich wie Möwen im Flug und wie Möwen abscheulich untereinander, sagt Elias Canetti. Hier vom Neid nichts wissen, heißt aus der Art zu schlagen und muss inniges Misstrauen wecken. Wie kann sich da jemand erlauben, nicht neidisch zu sein? Ist er so dumm? oder so größenwahnsinnig? oder gar wirklich so groß? Natürlich letzteres, wie Nietzsche von sich selber weiß, nicht weil er etwas Größeres hätte als die anderen, sondern weil er es will. Auf das, was dem anderen seinen höchsten Stolz bedeutet, nicht neidisch sein, ist für ihn die tiefste Kränkung; diese muss man, egal was man denkt, unbedingt vermeiden. Sonst bräche Neid auf die Neidlosigkeit hervor; und wenn generell gilt, dass der Neider unglücklich werden muss, weil er so selten kriegt was er will, so sähe der Neid sich in diesem Fall in eine spezielle Paradoxie und Sackgasse hineingedrängt, die ihn hochschlagen ließe wie eine Brandungswelle in einer engen Felskehle; der gewissermaßen gutmütige Normalneid würde zu völlig neuen Dimensionen der Bosheit gepeitscht. Und darum: Pst! und: »er«.
In Nr. 239 unterläuft Nietzsche eine kategoriale Verwechslung. Als Gegenpart der Freudlosigkeit setzt er nicht etwa die Freude – die steckt nämlich durchaus an –, sondern das Glück, das nun freilich immer ein sehr persönliches ist und nicht ohne weiteres überspringt. Das gilt allerdings fürs Unglück auch. Und so fällt eigentlich bei näherer Betrachtung das ganze Stück dahin.
Zehnter Stich: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert: Streifzüge eines Unzeitgemäßen, Nr. 25
»Mit Menschen fürlieb nehmen, mit seinem Herzen offen haushalten, das ist liberal, das ist aber bloß liberal. Man erkennt die Herzen, die der vornehmen Gastfreundschaft fähig sind, an den vielen verhängten Fenstern und geschlossenen Läden: ihre besten Räume halten sie leer. Warum doch? – Weil sie Gäste erwarten, mit denen man nicht ›fürlieb nimmt‹…«
Die Gleichsetzung von Herz und Haus ist ein schönes Bild. Sonst aber bin ich mit diesem Stück recht unzufrieden. Mit Menschen fürlieb nehmen und mit seinem Herzen offen haushalten, das sind doch wohl zwei sehr verschiedene Dinge. Das Fürliebnehmen bedeutet so ziemlich das Gegenteil eines offenen Herzens, denn man darf den anderen um keinen Preis die darin schwingende Geringschätzigkeit spüren lassen, er wäre sonst – und zu Recht – tödlich beleidigt. Das offene Herz wendet sich dem anderen zunächst als Menschen zu, er mag sonst sein was er will, und ehrt ihn als solchen; es sieht trotz aller manifesten Unterschiede davon ab, die Menschen wie die Eier nach Handelsklassen zu sortieren. Walter Benjamin hat diese – seltene – Fähigkeit als den Takt beschrieben; und Nietzsche tut ihr Unrecht, wenn er sie als »bloß« liberal einschränkt und auch schon schmäht (wobei man immerhin vermuten darf, dass er als Lateiner nicht an die verschiedenen neuzeitlichen Begriffsnuancen von »liberal« denkt, sondern an die ursprüngliche Bedeutung: »was eines freien Mannes würdig ist«). Dem »Vornehmen« misstraue man immer, da es sich ganz grundsätzlich mit nichts als der eigenen Abgrenzung und der Wahrung seines Privilegs beschäftigt; es schließt immer eine rohe Arroganz in sich, noch mehr als die verwandte Rede von der Elite, die sich ja immerhin funktional auf die Totalität beziehen könnte, während das Vornehme es immer nur für sich selbst ist. Das Vornehme ist in Wahrheit das Pöbelhafte, besonders wenn es sich seinerseits beim Namen des Vornehmen zu nennen geruht, und am allermeisten in der vulgären Kursivierung, die Nietzsche hier setzt. Man sieht hier förmlich eine neureiche Dame mit ihrem teuren Hut im Geschmack der 1880er Jahre promenieren. Auch beachte man das Gestrüpp im Bild des letzten Satzes: Wir haben hier direkt hintereinander eine Kursivierung, ein Paar Gänsefüßchenund drei weiterführende Pünktchen. Diese Räume sind in Wahrheit nicht leer, sondern komplett vollgerümpelt.
Elfter Stich: Menschliches, Allzumenschliches,
Erster Band: Der Mensch mit sich allein, Nr. 621
»Liebe als Kunstgriff. – Wer etwas Neues wirklich kennen lernen will (sei es ein Mensch, ein Ereignis, ein Buch), der tut gut, dieses Neue mit aller möglichen Liebe aufzunehmen, von allem, was ihm daran feindlich, anstößig, falsch vorkommt, schnell das Auge abzuwenden, ja es zu vergessen: so dass man zum Beispiel dem Autor eines Buches den größten Vorsprung gibt und geradezu, wie bei einem Wettrennen, mit klopfendem Herzen danach begehrt, dass er sein Ziel erreiche. Mit diesem Verfahren dringt man nämlich der neuen Sache bis an ihr Herz, bis an ihren bewegenden Punkt: und dies heißt eben sie kennen lernen. Ist man so weit, so macht der Verstand hinterdrein seine Restriktionen; jene Überschätzung, jenes zeitweilige Aushängen des kritischen Pendels war eben nur der Kunstgriff, die Seele einer Sache herauszulocken.«
Hier musste auch ich einen Kunstgriff zu Hilfe nehmen: Das Orakel wies erst auf die Nummer 619, sie überging ich, ebenso 620, um mich erst mit der 621 zufriedenzugeben. Der elfte sollte nämlich der letzte Stich sein – elf, die klare Zahl der Schiefe, des Abbruchs und der Untererfüllung. Aber dann durfte dieses elfte Stück eben kein belangloses sein. – Was Nietzsche hier, übrigens selbst für ihn, den großen Stilisten, in besonders schwungvoller Sprache, beschreibt, sollte eigentlich die normale Vorgehensweise eines jeden Kritikers darstellen. Was gibt mir dieses Buch, das ich vorher nicht kannte?