Verehrte Denker. Henning Ritter

Verehrte Denker - Henning Ritter


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Damals konnte ich nicht durchschauen, welch geniale Menschenfängerei eines alten Mannes darin lag. Der Eindruck dieser ersten Begegnung war so stark, daß ich noch während meiner Schulzeit auf Bücher von Carl Schmitt zu achten begann. Eine Nachwirkung jener ersten Begegnung war auch, daß ich während meines vierten Semesters – ich war inzwischen von Marburg nach Berlin gewechselt und hatte dort Philosophie zu studieren begonnen – eine Einladung von Carl Schmitt erhielt, ihn in Plettenberg zu besuchen. Für die Übernachtung in einem Dorfgasthaus hatte er gesorgt. Ich sollte ihn nachmittags und abends in seinem Haus aufsuchen, mit Abendessen und Wein, und am nächsten Vormittag noch einmal vorbeikommen. Er wollte mich dann zum Bahnhof fahren lassen. Das tat er auch und begleitete mich.

      Carl Schmitt war ein großzügiger, unkomplizierter Gastgeber und widmete mir die ganze Zeit meines Besuchs in Plettenberg. Ich wußte mittlerweile eine Menge über den Staats- und Verfassungs­rechtler, der schon in den zwanziger Jahren einen großen Ruf hatte und nach 1933 dem national­sozialistischen Regime diente. Nach einem Angriff im »Schwarzen Korps« im Jahre 1936 verlor er seine Parteiämter. Er zog sich vom Staatsrecht zurück und lehrte und publizierte auf dem Gebiet des Völkerrechts. Sein Buch »Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum«, das 1950 erschien, war aus Vorlesungen und Seminaren zu Beginn der vierziger Jahre hervorgegangen, und auch »Land und Meer« war 1942 zuerst veröffentlicht worden.

      Ich wäre damals nicht nach Plettenberg gefahren, wenn ich erwartet hätte, mit nationalsozialistischen Apologien konfrontiert zu werden. Es gehört zu den irrigen Ansichten über jene Jahre, daß man damals in dieser Hinsicht weniger wach gewesen sei als später, besonders nach 1968. Das Gegenteil trifft wahrscheinlich zu. Wer zwischen Ruinen aufgewachsen war, mit vier Jahren den Vater zum ersten Mal gesehen hatte, als er aus der englischen Kriegs­gefangenschaft zurückkehrte – »Da bist du ja endlich!« –, wer den Bemerkungen über Unbelehrbare gelauscht hatte, konnte als Zwanzigjähriger sich zutrauen, daß er Nostalgie für das untergegangene Reich sofort bemerken würde. Die Gewißheit, daß Carl Schmitt seinem nationalsozialistischen Engagement keineswegs nachhing, ist mir seit dieser Begegnung geblieben. Mehr noch, daß er von seiner geistigen Herkunft und seinen intellektuellen Loyalitäten her keine substantiellen Beziehungen zum Nationalsozialismus hatte. Seine Affinität zum reaktionären Denken hatte ihre Wurzeln im neunzehnten Jahrhundert, im Kulturkampf und im Frankreich der Dreyfuskrise. Léon Bloy war der Kopf, zu dem er über die Jahre immer wieder eine besondere Affinität bekundete.

      In seiner mit Büchern vollgestopften Bibliothek ließ er sich von einem vielleicht zufälligen, aber traumwandlerisch sicheren Griff zu Büchern leiten, von denen er annahm, daß sie mich in ein Gespräch ziehen könnten. Wie konnte er, als er Lucien Goldmanns Buch über Racine, »Le Dieu ­caché« herauszog, wissen, daß der französische Literatur­soziologe, ein führender Kopf der Linken, mir nicht unbekannt war? Woher wußte Schmitt, daß der Kunsthistoriker Erwin Panofsky einer meiner Lieblingsautoren war? Auf wundersame Weise zog er dessen jüngste Publikation, »Pandora’s Box«, aus einem Bücherstapel hervor. Panofsky, der von ­seinen Freunden »Pan« genannt wurde, hatte es zusammen mit seiner Frau Dora geschrieben, nicht zuletzt um des Effekts willen, der sich aus der Verbindung ihrer beiden Namen in dem mythischen Namen »Pandora« ergab. Carl Schmitt erledigte nun dieses so gelehrt wirkende Buch als ein oberflächliches Spiel mit einem großen mythischen Thema. Mit wenigen Sätzen hatte er einen meiner akademischen Heroen demontiert.

      Woher schließlich konnte Carl Schmitt von meiner intensiven Beschäftigung mit Walter Benjamin wissen? Durch den Band »Illuminationen« hatte ich ihn zuerst kennengelernt, und die beiden von Friedrich Podzus herausgegebenen Bände der »Schriften« hatte ich mir damals aus der Universitätsbiblio­thek entliehen und Aufsatz für Aufsatz studiert. Nun trat ein anderer Benjamin hervor. Carl Schmitt erwähnte den Brief, den Benjamin ihm 1930 über seine Abhandlung »Politische Theologie« geschrieben hatte und der heute in der Ausgabe der Briefe Benjamins nachzulesen ist, nachdem er von deren Herausgebern zunächst unterschlagen worden war. Für mich war die Erwähnung des Kontaktes zwischen Benjamin und Carl Schmitt eine aufregende Neuigkeit. Carl Schmitt sprach mit großer Hochachtung von Benjamins ästhetischen Forschungen. In seinen Augen war Benjamin weder Marxist noch Materialist, vielmehr stand seine intensive Beziehung zur Romantik und zum Mythos im Vordergrund.

      Was mich bei dem Besuch bei Carl Schmitt am meisten beeindruckte, mindestens ebenso stark wie die instinktive Sicherheit, mit der der alte Herr das Gespräch auf Themen brachte, die auf mich wirkten, als hätte er meine geheimen Vorlieben erraten, war seine Fähigkeit zuzuhören. Er wußte sicher, daß junge Menschen am leichtesten zu fassen sind, wenn man sie für voll nimmt, also genau darauf hört, was sie sagen, und darauf antwortet. Da war, wie mir nicht verborgen bleiben konnte und sich wenige Jahre später weltweit zeigen sollte, ein Mann, dessen Ruhm noch längst nicht aus­geschöpft war, der darauf wartete, daß die Dinge sich zurechtrückten und er den Platz einnehmen würde, der ihm zustand. Diese Erwartung, die den ungeheuer ehrgeizigen Mann bis in alle Fasern durchdrungen haben mochte, war es wohl auch, die ihn auf so einzigartige Weise aufmerksam sein ließ und zu einem Zuhörer machte, wie ich noch keinen erlebt hatte und auch später nicht erlebte. Denn der junge Mann, dem er aufmerksam zuhörte, war ein Gefäß jenes Nachruhms, auf den er zuversicht­lich hoffte.

      Aus den Notizen, die ich mir nach meinem Besuch bei Carl Schmitt machte – sie beginnen am 2. Januar 1964 –, ist nicht viel zu gewinnen. Es fiel mir nicht leicht, meine Eindrücke zu fixieren. Aber ich fühlte mich magisch berührt von Schmitts Art zu sehen, zu denken, fasziniert von der Spannung, die er zu erzeugen vermochte. So gewann das Gespräch eine lange nachwirkende Intensität. Einer seiner Sätze, der sich mir besonders einprägte, lautete: »Entfesselung ist nicht schwer.« Er könne sich die Kleider vom Leib reißen, sagte er mit einer ­heftigen Geste: »Dann bin ich nackt, das ist eher komisch: Der Mensch ist nicht nackt.«

      Das waren unumstößliche Sätze. Wir waren die Treppe zum Obergeschoß hinaufgestiegen, wo der Tisch gedeckt war, und vor einem Bild des deutschen Romantikers Reinhardt stehengeblieben. Es stellte den Ausblick aus einem Hafen auf das offene Meer dar, ein Segelschiff fuhr hinaus. Ein Mädchen mit einer leuchtend roten Bluse hatte den Satz über die Entfesselung ausgelöst. Es »drohte«, wie Carl Schmitt sagte, mit Entfesselung. Aber der Maler beschränkte sich darauf, deren Möglichkeit anzudeuten. Erst viel später sei es zu dieser Explosion gekommen, bei Nolde zum Beispiel – gewiß ein großer Maler, aber doch einer, der die schon von früheren Malern angedeutete Möglichkeit lediglich vollstreckte. Wollte man begreifen, was geschah, dann müsse man, so Carl Schmitt, auf jene Maler zurückgehen, die vor der Lizenz zur Entfesselung gelebt hatten.

      Es scheint im Gespräch eine Heidegger-Stimmung aufgekommen zu sein, der alte Herr rezitierte eine Gedichtzeile von Mörike, »die Magd am morgendlichen Herd«, und es fiel auch der Name Richard Wagner, wohl eine Erinnerung an seine Jugend, als er Klavier spielte, sich für Wagner begeisterte und bald auch in den »Bayreuther Blättern« publizierte.

      Malerei war für ihn vor allem spanische Malerei – die Malerei des zweiten Weltreichs nach dem römischen. Welche Formen entwickelte die Kunst dieses Weltreichs nach seinem Ende? Es war kein Zufall, daß die große Malerei Spaniens am Ende zur Karikatur hin tendierte. War sie ihr Schicksal? Zwei große Namen mußten hier fallen, Goya und Manet, der nicht nur die spanische Malerei für sich entdeckte, sondern dessen »Erschießung Kaiser ­Maximilians« Spanien sogar direkt betraf. Zu seinen Bildern meinte Carl Schmitt, sie nähmen sich neben der Malerei Goyas wie Stilleben aus.

      Es konnte schließlich nicht ausbleiben, daß die Rede auch auf den spanischen Schelmenroman kam und auf die Gestalt des Picaro, auf Quevedos abenteuerlichen Buscón. Was ist der Picaro? Carl Schmitts Antwort auf diese Frage bediente eines seiner ältesten Ressentiments: Thomas Mann ist der Picaro. Das sollte wohl heißen, daß das Schicksal einer Welt, die die Geschichte verloren hat, von Spanien nach Deutschland gewandert sei.

      Schmitts Bemerkungen zur Malerei waren obsessiv an die Frage »Woher?« fixiert. Woher kam diese lichtgebende Kerze bei Georges de la Tour, woher, sollte dies heißen, erhielt sie ihre Bedeutung? Ein parodistisches Element, bezogen auf die Bedeutungs­obsession der Kunsthistoriker, war nicht zu überhören. Die Gewißheiten der Ästhetik waren ihm fragwürdig.

      Natürlich war auch von Theodor Däubler


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