Der stumme Raum. Herbjørg Wassmo

Der stumme Raum - Herbjørg Wassmo


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und Kleider haben mussten. Sol hatte nicht genug Kraft, um herauszufinden, wie schlimm es eigentlich um die Mutter stand. Sie sah nach vorn. Bis Weihnachten. Die Handelsschule begann gleich nach Neujahr. Bis dahin würde sie genug haben, für das Schulgeld und alles, was sie brauchte. Sie würde in der Fischfabrik Schluss machen. Ihr wurde schon schlecht, wenn sie an die grauen Frauen dort und an die Packhalle nur dachte. Der Vater musste mit den Geldproblemen allein fertigwerden. Sie würde sich um die vernachlässigten Kleinen kümmern und zu Hause bleiben. Und sie würde lernen. Und bei Ottar putzen. Aber einmal würde sie von allem hier loskommen.

      Inzwischen hatte Elisif ihre Gebete beendet und die Bibel von der Kommode genommen. Sie strich liebevoll über die abgegriffenen, weichen Ecken des Einbandes. Der lag wie ein schützender Schild über den glatten Goldrändern. Sie strich über das Kreuz auf der Vorderseite und streckte den runden, runzligen Hals vor. Dann lächelte sie. Sie fühlte, wie durch ihre Finger die Kraft von außen in sie hineinströmte. Ihr Gesicht leuchtete einen Moment auf. Sie hatte den Blick an die fleckige Decke gerichtet. Aber es war nicht die schmutzig weiße Farbe, die sie sah. Ihr Blick drang durch die ärmliche Decke hindurch zu Herrlichkeit und Freude empor. Sie feuchtete die Lippen an und öffnete den Mund zu einem Lobgesang. Er erklang laut und ungezwungen und schlicht. Elisif war für mehrere Stunden mit ihrem Gott allein. Hörte ab und zu den Jüngsten unter dem Fenster wimmern. Aber sie konnte nicht verstehen, dass das sie anging. Hatten nicht auch die Jünger alles verlassen, um Ihm zu folgen?

      »Jesus«, flüsterte sie und sah zur Decke hinauf. Elisif zog die Tageslosung aus der Glasschale auf der Kommode, während die Kartoffeln auf dem Herd blubberten. 3. Buch Mose 21.21: »Wer nun unter Aarons, des Priesters, Nachkommen einen Fehler an sich hat, der soll nicht herzutreten, zu opfern die Feueropfer des Herrn; denn er hat einen Fehler. Darum soll er sich nicht nahen, um die Speise seines Gottes zu opfern.« 3. Buch Mose 21.14: »Keine Witwe oder Verstoßene oder Entehrte oder Hure, sondern eine Jungfrau soll er zur Frau nehmen.« Sie flüsterte die Wörter über den gefalteten Händen. Das strähnige Haar war gescheitelt und stramm nach hinten gekämmt und endete im Nacken in einem borstigen Knoten. An der Strickjacke fehlten mehrere Knöpfe. Die Bibel lag aufgeschlagen vor ihr auf dem Tisch. Und ihr Gesicht strahlte vor Freude. Die hauchdünnen, goldumrandeten Bibelseiten vibrierten unmerklich unter ihrem Atem. Ihre Augenlider zitterten leicht, als sie die Augen schloss und flüsterte: »Der Herr sei gelobt in alle Ewigkeit, Amen.«

      Sol ließ die Hand mit dem Messer einen Augenblick sinken, als sie Mutters Stimme drinnen im Zimmer hörte. Dann schnitt sie schnell und ungeduldig weiter. Und das rotbraune Fleisch mit weißen Hautfasern fügte sich widerstandslos unter ihrem Willen in Würfel.

      12

      Die Männer standen in Ottars Laden und hatten Weihnachtsvorbereitungen zu treffen. Sprachen allwissend und friedlich über die Atombombentests im Stillen Ozean. Die USA kämpften darum, die Führung zu behalten. Aber die Russen zögen wohl nach, meinten einige. Einar wusste zu berichten, dass noch über hunderttausend Deutsche in russischen Gefangenenlagern seien. Seine Stimme störte den allgemeinen Frieden wie eine Drohung.

      »Ach was, die lügen doch alle zusammen, damit die Leute die Zeitungen kaufen«, meinte Almar. Er erhob sich und bezahlte seine Einkäufe.

      »Nein, Mann, das will ich dir nur sagen, das tun sie nicht«, antwortete Einar schroff und sah Almar verächtlich an. »Die die Macht haben in der Welt kennen doch nur eins, pressen doch nur immer mehr Scheiß aus sich raus. So ist das nämlich. Sie sind falsch wie Judas. Sieh dir die Russen an: Die warnen vor dem Atomkrieg und beschwören den Gemeinschaftsgeist von Genf.«

      Die Männer rückten von ihm ab. Sie wussten kaum etwas über den Geist von Genf. Aber es war wohl etwas dran. Der Einar war gar nicht so dumm. Das hatte er schon früher bewiesen, auch wenn Ottar ihn gern wie einen Dummkopf behandelte. Und Einar war in Fahrt gekommen, hieb seine Mütze mehrmals auf den Ladentisch und ließ sich darüber aus, dass die Amerikaner bereit seien, eventuelle Angriffe des Ostblocks mit einer schwimmenden Atombombenflotte zu vergelten! Augenblicklich! Es wurde still um ihn herum.

      Einar schleuderte ihnen sein Wissen über viele Dinge direkt ins Gesicht. Das saß dann. Wie ein wohlgezielter Treffer im Spucknapf. Er brachte die Männer dazu, sich wegen anderer Dinge an ihn zu erinnern als wegen des Gerüchts, das der neue Pastor in die Welt gesetzt hatte. Dass Einar ein Dieb sei, den man nicht in Dienst nehmen dürfe.

      Ottar machte nicht viele Worte an diesem Nachmittag. Seine Haare waren in Ordnung, und er trug ein sauberes Hemd. Es war Freitag, kurz vor Ladenschluss. Er packte die Waren in Tüten und Schachteln und stapelte sie auf dem Ladentisch auf. Da die Männer nicht gingen, fing er an, die Namen aufzurufen, deren Waren er fertig eingepackt hatte. Er war nervös und geschäftig. Das irritierte die Männer allmählich.

      »Was drängelste denn? Du lebst ja schließlich von uns.« Håkon war mit seiner spitzen Zunge vorneweg.

      »Hier muss gleich geputzt werden. Die Sol hat heut viel zu putzen.« Ottar versuchte vergeblich, sich Respekt zu verschaffen. Die Männer hatten Einars Joch abgeworfen und steckten bereits mitten in einer Diskussion über den Kabeljau bei Senja und den Vesterålen und waren nicht von der Stelle zu bewegen. Sie diskutierten die Garantieordnung für die Fischer in einer Fangbeteiligungsgemeinschaft, während der Pfeifenrauch sich undurchdringlich unter die Decke legte. Sie redeten lang und breit über den Heumangel und den verdammt kalten Sommer, der schuld daran war, dass »die Mandelkartoffeln in diesem Jahr ganz flach sind, weil sie nur drei Zentimeter lockere Erde über dem gefrorenen Boden hatten«. Ottar sah keine Möglichkeit, ihren Redefluss zu stoppen. Er trat von einem Bein aufs andere. Klirrte mit den Schlüsseln. Machte sich im Lager zu schaffen und nickte Sol zu, die energisch den Boden fegte.

      Er seufzte und sah geistesabwesend auf die Regale, während er erklärte, dass sie einfach anfangen solle, den Laden zu putzen. Er nannte keinen Grund. Das war auch nicht nötig. Es sollte volles Vertrauen zwischen ihnen herrschen. Sol wusste, dass es Ottar nie einfallen würde, sie zu dem anderen in das kalte Lager zu bitten, ehe sie nicht mit der Arbeit fertig war.

      Sie stellte den Besen weg und füllte gehorsam den Putzeimer. Wusste, dass sie am ersten Montag nach Neujahr abends in die Handelsschule gehen würde. Sie hatte in der Fischfabrik gekündigt. Ihr Geld reichte für Schulgeld und Bücher. Ottar hatte ihr versprochen, dass sie weiter bei ihm putzen könne, abends, nach der Schule. Die Entscheidung war schnell gefallen. Kostete sie nicht viel in Anbetracht dessen, was sie dafür erhielt. Sie hatte die Bedingungen für sie beide vorgeschlagen. Von Worten Gebrauch gemacht. Er hatte ausgesehen, als ob er gleich ersticken würde. Sie hatte am selben Abend den »Lohn« bekommen. Es war eine seltsame Vorstellung gewesen. Sol kannte die menschliche Unzulänglichkeit. Und sie nahm die Erbärmlichkeit des erwachsenen Mannes mit dankbarem Herzen und unerfahrenem und neugierigem Gemüt hin. Nun wusste sie so viel, und das gab ihr Macht.

      Sol merkte, dass sie Ottar nur anzusehen brauchte, dann fiel er gleichsam vor ihren Augen in sich zusammen. Er folgte ihr immer mehr wie ein Schatten. Er half ihr beim Fegen, indem er Tonnen und Kisten für sie wegrückte. Sie verstand es und verstand es auch wieder nicht. Sie sah, dass er sich eine neue Joppe und eine neue Hose angeschafft hatte. Er trug beides werktags!

      Sol sammelte Erfahrungen und beobachtete menschliches Verhalten, ohne dass sie sich dessen bewusst war. Wenn ihre Arme und Beine sich bei irgendeiner Arbeit langsam, aber stetig bewegten, registrierte sie Ottars Theaterspiel – und dass es alles ihr zu Ehren geschah. Sie sah der Zukunft heiter entgegen.

      Sie wollte es sich erlauben, in den Weihnachtstagen tanzen zu gehen. Konnte sich unten bei Tora umziehen, so dass die Mutter nichts merkte. Dann würde sie vorm Spiegel stehen und wie zufällig ein paar Worte darüber fallenlassen, dass sie an der Handelsschule anfangen wolle. Sie, die eine »Verrückte« zur Mutter hatte, einen Trottel zum Vater, im Tausendheim wohnte und putzen gehen musste, anstatt weiter die Schule zu besuchen. Was war ein lumpiges achtes Schuljahr gegen die Handelsschule.

      Sol fing unbekümmert an, zwischen den Beinen der Männer den Boden zu putzen.

      Erst machten sie widerwillig Platz und redeten unaufhörlich von ihren Angelegenheiten, aber dann zogen sie sich zur Tür zurück und ließen Elisifs Mädchen in Ruhe wirken. Sie


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