Der mondhelle Pfad. Petra Wagner
wir haben nichts davon mit nach Hause gebracht! Wo ist das ganze Zeug hin? Hat wohl alles unser Hochkönig eingeheimst!?“
„Nein, natürlich nicht!“, entrüstete sich Loranthus und warf Medan einen tadelnden Seitenblick zu. „Alles wurde euren Kriegsgöttern geopfert!“
„Alles? Alles geopfert?!“
„Alles.“
„Auch die Pferde?“
„Auch die Pferde.“
„Und wieso haben wir welche dabei, meine Schwester mehr als alle anderen zusammen?“
„Ach so, die! Die meisten sind von den Spähzügen, da haben sie ihre erbeuteten Pferde angebunden, sodass sie ausreichend grasen konnten und sie später geholt. Nach der Schlacht hat euer ranghöchster Druide auch bestimmt, dass nur die Pferde geopfert werden, die sowieso schon verwundet waren. Tödlich verwundet, wohlgemerkt! Er sagte, solange er der höchste Druide der Hermunduren ist, wird kein lebendes Wesen geopfert. Es sei denn, es ist dem Tode schon näher als dem Leben.“
„Weise gesprochen …“, lobte Medan und nickte beifällig. „ … und den verwundeten Pferden hat er damit ein gnädiges Ende verschafft. Aber …“ Er kniff die Augen zusammen. „ … wo haben sie alles geopfert? Ich meine, diese ganzen Dinge …“
„Ich weiß schon, was du meinst, Medan“, verkündete Loranthus im Brustton der Überzeugung. „Also, das war so: Die Körper der toten Chatten wurden auf Hochgerüsten angebunden und ihre Köpfe darum auf Pfähle gesteckt, damit sie jeden, der vorbeikommt, an die Schlacht gemahnen. Alles andere haben sie kaputt gemacht und im Moor versenkt.“
„Kaputt gemacht und im Moor versenkt?“
„Ja. Damit das Böse, das die Chatten euch antun wollten, auf sie selbst zurückfällt.“
„Verstehe“, murmelte Medan nachdenklich vor sich hin.
Loranthus betrachtete seinen jungen Freund wehmütig und flüsterte heißer: „Das ganze Moor hat sich rot gefärbt. Ein rotes Moor! Kannst du dir das vorstellen? Selbst als die Leiber der Pferde mit ihrem herrlichen Zaumzeug schon längst untergegangen waren und die verbogenen Schwerter, die zerbrochenen Torques, Streitäxte, Speere, Lanzen, Pfeile, Bögen, Messer, Armspangen, Ringe mitsamt …“
„Ist gut, Loranthus“, sagte Medan schnell. „Denk nicht mehr dran. Schau! Die Bauern beugen sich unter dem letzten Steintor und steigen nacheinander die Stufen zum Heiligtum hinauf. Die ersten Krieger sind schon oben angekommen und stellen sich im Kreis auf.“
„Ihr immer mit euren Kreisen …“
„Du weißt, das ist symbolisch gemeint. Der äußere Kreis ist das Symbol für die Menschen in dieser Welt, der innere Kreis, in diesem Fall von einem Scheiterhaufen gebildet, ist das Symbol für die Seelen der Verstorbenen in der Anderswelt. Es gibt aber noch einen anderen Grund, einen ganz simplen, irdischen: Sie können gleichberechtigt warten, bis Afal das Zeichen gibt.“
„Ach so.“
„Siehst du Afal? Er schreitet gerade mit dem vergoldeten Schädel auf den Scheiterhaufen zu.“
„Ja, ich kann euren obersten Druiden gut sehen. Er hat wieder diesen seltsamen Fellmantel mit den Rabenfedern um, den er schon zu Beltaine getragen hat. König Gort geht neben ihm und dieser Druide … wie heißt er noch mal? Hört sich irgendwie nach Gärtner an … Ach ja! Gardan.“
„Gut gedacht, Loranthus. Jetzt dauert es nicht mehr lange.“
„Aha! Afal winkt! Die Kämpfer treten der Reihe nach in den Kreis und knien sich nieder. Der erste ist Amaturix, danach kommt gleich Viviane.“
„Das liegt an ihrem hohen Rang – Druiden des Drachenbundes. Danach kommen alle, die unter ihnen stehen. Zuerst Wahedon, der erste Krieger. Silvanus wird auch als Krieger geehrt, danach die Handwerker, Dorfvorsteher und die anderen Bauern, als letzte die Sklaven. Kannst du sie gut sehen, Loranthus? Wie sie um Afal knien?“
„Nicht besonders. Ich kann mich aber auch nicht noch weiter zur Seite beugen, sonst falle ich vom Ast. Siehst du es von deiner Warte aus besser, Medan? Was macht Afal mit dem Schädel?“
„Er gießt jedem geweihtes Wasser über die Hände. Natürlich nur ein bisschen. Es ist ja symbolisch gemeint. Das Wasser hat Afal heute Morgen selbst mit seinem Sklaven, Luis, bei Pauline geholt.“
„Den kleinen Luis kenne ich. Aber wer ist Pauline?“
„Pauline ist die Quellgöttin auf dem Uhsineberga.“
„Aha. Ich verstehe. Ihr habt drei Quellen: Pauline oben auf der Burg und die Quellgöttinnen unten im Tal heißen Sünna und Uhsine. Oh! Was macht Gardan dort hinter Afal?“
„Er füllt den Schädel immer wieder nach.“
„Dieser Gardan war auch mit im Tross dabei und kennt sich in eurer Götterwelt aus. Er ist von der Bruderschaft der Wanderdruiden. Ich habe gehört, dass er drei Tage lang eine Geschichte erzählen kann und zwar mit dem exakten Wortlaut, wie sie schon vor zweitausend Jahren erzählt wurde. Stell dir das mal vor! Was der sich alles merken kann!“
„Das ist die Grundvoraussetzung, wenn man ein Druide werden will. Sie nehmen einen nur auf, wenn man ein starkes Gedächtnis hat, sonst braucht man sich gar nicht bewerben. Das beste Buch ist das Gedächtnis und gelehrt macht nicht, was man liest, sondern behält.“
„Tja, wer sein Wissen auf mündliche Art weiter gibt, der muss sich schon auf sein Gedächtnis verlassen können! Das habe ich begriffen, wenn ich auch weiterhin für Aufschreiben bin. Aber was ich absolut nicht verstehe … Gardan besitzt nichts, absolut nichts! Kannst du dir das vorstellen, Medan?! Alles, was er braucht, bekommt er geschenkt. Das wäre kein Leben für mich!“
Medan nickte bedächtig vor sich hin.
„Er muss ein sehr reicher Druide sein.“
Loranthus’ Kopf ruckte herum und er sah Medan an, als würden dem gerade Eselsohren wachsen.
Medan lächelte prompt mit gebleckten Zähnen zurück, in seinen Augen war allerdings Loranthus der Esel, er hatte sogar ein paar Ahornblätter an den richtigen Stellen.
„Na, stell dir doch mal vor, Loranthus: Überall, wo du hinkommst, wirst du mit offenen Armen empfangen. Ausnahmslos alle Menschen schenken dir Essen, Trinken, Kleidung, Unterkunft und sogar das eigene Weib oder die eigene Tochter. Glaube mir, es ist die höchste Ehre für eine Maid, bei einem Druiden zu liegen. Du brauchst dir also in deinem ganzen Druidendasein nie Sorgen machen, ob die Ernte gut ausfällt, ob dein Vieh gesund bleibt, ob dein Haus dem Sturm standhält oder das Dach kaputt geht, oder der Lehm abbröckelt … und nachts wird auch noch dein Lager angewärmt, ohne dass du werben musst. Geschweige, dass du dich um die eventuellen Auswirkungen kümmern musst.“
Loranthus überlegte. Ein interessanter Glanz bemächtigte sich seiner Augen und er sah in weite Ferne.
„Wahrlich, das wäre ein göttliches Leben …“, lallte er mit verschleierten Blick, doch plötzlich packte er einen Ast und keuchte: „Ha! Was ist denn das für ein riesiges blaues Feuer?!“
„Genial, nicht war?! Die Flammen züngeln extrem schnell hoch. Afal macht das. Schau genau hin! Sie halten ihre Schwerter oder Messer in die Flammen, schneiden sich damit ein paar Haare ab und werfen sie ins Feuer. Das ist die Buße dafür, dass sie einen Menschen getötet haben.“
„Aha. Und was machen die, die mehr als einen getötet haben? Müssen die sich dann auch mehr Haare abschneiden?“
„Hm, keine Ahnung. Aber wir gucken uns nachher Viviane und Silvanus mal genauer an.“
„Beim Zeus! Jetzt wird das Feuer grün!“
„Ja. Das machen die obersten Götter der Anderswelt, Hall und Ogmios. Sie haben die Opfergabe angenommen und versöhnen nun die