1918 - Wilhelm und Wilson. Magnus Dellwig

1918 - Wilhelm und Wilson - Magnus Dellwig


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ihre Untersuchungsergebnisse berichten können. Und ebenso besorgt aufmerksam verfolgen Käte und Joachim meine knappe Schilderung über die Visite vom Vormittag. Doch ich rede mich ein wenig damit heraus, dass ich noch sehr müde, wenig erholt und mit nur mäßiger Auffassungsgabe den Ausführungen des Herrn Professors Kraus habe zu folgen vermocht. Wolfgang nickt daraufhin mit sichtlich zusammen gekniffenen Lippen und schlägt vor, dass er sich gleich nach dem Besuch mit der Ärzteschaft konsultieren werde. Ich bin dankbar dafür, kein weiteres Krankenbulletin abgeben zu sollen, und frage so munter wie es mir möglich ist nach dem Alltag, nach Kätes Mutter, nach Joachims Studium in Heidelberg und nach Wolfgangs neuer Tätigkeit als Assessor beim Regierungspräsidenten in Küstrin. Eine schöne Stadt mit der herrlichen Festung, die Friedrich der Große schon unfreiwillig zur vorübergehenden Haft von innen kennen lernen durfte. Meine Familie scheint überrascht über meine Geselligkeit, der selbst die Mattigkeit des Krankenlagers fürs Erste nichts anhaben kann. Doch es mag eine halbe Stunde gewährt haben, da pocht erneut die Schläfe und der Kreislauf sinkt in sich zusammen. Joachim holt die Schwester. Der Stationsarzt misst den Puls und den Blutdruck, dann verordnet er dem Patienten strikte Ruhe. Käte und die Jungen drücken mich zum Abschied. Im Hinausgehen wirft mir Joachim noch aufgeräumt entgegen.

      „Bis morgen, Papa. Wieder auf eine halbe Stunde. Aber spare dir die Kraft noch für einen weiteren Besuch auf! Ich sage dir: Seine Majestät wird sich wohl nicht mehr länger abwimmeln lassen.”

      Mit einem zufriedenen Lächeln um die Lippen und einem laschen Wink der rechten Hand verabschiede ich meine geliebten drei “Stresemännchen“. Ich entspanne wieder im frisch aufgeschüttelten Bett. Die Schwestern schließen das Fenster und gehen. Es herrscht Ruhe. Ich genieße das. Ich möchte einschlafen. Und doch gelingt es mir nicht. Wilhelm, Seine Majestät der Kaiser, kommt morgen zu mir ins Krankenhaus. Das ist Freundschaft. Die ist gewachsen in nunmehr über zehn Jahren. Meine Erinnerungen werden wach an den großen Krieg, an die wechselvollen Zeiten, bevor uns der Tod Seiner Majestät, Wilhelms II., aus so vielen gewohnten, eingeschlagenen Pfaden riss. Doch bevor es dazu kam, durchlebten wir das große Vorspiel, das unglaubliche Jahr 1917!

      2 1917 - Das große Vorspiel

      Lenin reist auf Geheiß der deutschen Reichsregierung nach Sankt Petersburg.

      Deutschland eröffnet erneut den uneingeschränkten U-Boot-Krieg gegen Großbritannien.

      Deshalb treten die Vereinigten Staaten von Amerika in den Krieg ein.

      Der Deutsche Reichstag verabschiedet die Friedensresolution.

      Der Kaiser entlässt während der Beratungen Reichskanzler Bethmann-Hollweg.

      In Russland bricht nach der Februarrevolution auch noch die Oktoberrevolution aus. Die Bolschewiki scheinen bereit zum Frieden.

      All das war das unglaubliche, das wahnsinnige Jahr 1917. So ein Jahr hatte ich noch nie zuvor erlebt. Und ich bin mir recht sicher: die meisten Politiker im Deutschen Reich und in vielen weiteren Teilen Europas auch nicht.

      Doch was ist in meinem Gedächtnis eigentlich das Wichtigste an jenem Vorbereitungsjahr für die Entscheidung über den weiteren Gang unseres Jahrhunderts geworden? Es waren für mich persönlich gar nicht all die eben in meine Erinnerung gefluteten großen Ereignisse. Es waren für mich selbst der Beginn meiner Freundschaft mit Walther, mit Walther Rathenau, mit dem ich fortan auf das Engste würde zusammenarbeiten dürfen, zuerst in der Friedensdelegation des Reiches und dann über viele Jahre in der Reichsregierung. Das verbrecherische, zum Glück gescheiterte Attentat auf ihn riss mich dann 1922 aus der trügerischen Illusion, alle bedeutenden Gruppen der deutschen Gesellschaft hätten ihren eigenen Frieden mit der großen Errungenschaft des Weltfriedens von 1919 gemacht. Und doch ist da eine zweite Erinnerung an 1917, denn es war das Jahr der großen Vorbereitung auf eine neue Zeit. In mir begann ein abgründiger Zweifel zu nagen, ob meine bisherigen, unverbrüchlichen politischen Überzeugungen davon, was für das Wohl unseres Vaterlandes nicht nur das Beste, sondern zugleich das allein Richtige sei, noch in Gänze Bestand hätten. Durch all die besagten großen Ereignisse der Geschichte im Inneren wie in der Weltpolitik wurde mir, Gustav Stresemann, damals 1917 noch stellvertretender Vorsitzender der Reichstagsfraktion der Nationalliberalen Partei, jedoch wegen der fortschreitenden Erkrankung des armen Bassermann schon ihr meistbeachteter Redner, plötzlich bewusst, wie weit meine eigenen, sehr persönlichen politischen Anschauungen im Sinne althergebrachter Vorstellungen von links und rechts, liberal und konservativ doch auseinander lagen. Im Äußeren passte zwischen die westdeutsche Schwerindustrie und mich kein Blatt, denn ich trat für Annexionen im Westen, für den U-Boot-Krieg als tödliche Waffen gegen England, somit gegen jedes Ansinnen nach einem Verständigungsfrieden ein. Im Inneren erkannte ich im Sommer 1917 dagegen, wie brüchig die Herrschaft der Monarchie zu werden drohte, falls es uns, Adel und Bürgertum, nicht gelänge, die einzigen beiden großen Volksparteien des Reiches, nämlich das katholische Zentrum und die Sozialdemokratie, in Gesellschaft und Staat zu integrieren und damit alle Gruppen unseres Landes mit dem Ziel großer gemeinsamer Überzeugungen zu versöhnen. Ich erinnere mich plötzlich wieder an so wichtige Gespräche, die sich in den Logen des Reichstages mit den Großen der sich am Horizont der Zukunft abzeichnenden Parlamentsmehrheit abspielten: Erzberger vom Zentrum, Ebert und Scheidemann von der Sozialdemokratie. Und außerhalb des Hohen Hauses traf ich schon seit dem Herbst 1916 immer wieder die Wirtschaftsmagnaten Albert Ballin von Deutschlands größter Schifffahrtsgesellschaft, der HAPAG, und natürlich Walther Rathenau von der AEG. Diese Begegnungen begannen mein Weltbild zu formen, und darüber veränderten sie mein politisches Denken, Fühlen und Handeln. Ohne diese tiefe Veränderung, die in mir selbst sich vollzog, wäre mein tatkräftiges Mitwirken an den bahnbrechenden Ereignissen hin zum Friedensschluss 1918 gar nicht vorstellbar geworden.

      Was war es denn noch einmal, das meine Sicht auf die deutsche Innenpolitik so deutlich verschob? Es war nicht, wie für die meisten Sozialdemokraten, der tiefe Eindruck, den die Februarrevolution im Russischen Reiche bei der öffentlichen Meinung in Deutschland hinterließ. Durchaus subtiler nahm ich bereits im Frühjahr - so ab März 1917 - wahr, wie sich der Umgang der führenden Leute des Zentrums und der SPD miteinander wandelte. Und auch nicht wenige Liberale suchten merklich den Kontakt, das Gespräch mit jenen Herrschaften. Noch 1916 waren mir selbst die Herren Erzberger und Scheidemann ziemlich, nein ich muss sagen eher vollkommen zuwider. Da gibt es nichts zu beschönigen. Beide traten als Wortführer ihrer Parteien im Reichstage offen für einen Verhandlungsfrieden und gegen die Wiederaufnahme des uneingeschränkten U-Boot-Krieges gegen England ein. Für mich bedeutete dies damals noch Verrat an unserem Vaterland, an seinen lebensnotwendigen wirtschaftlichen Interessen. Dennoch vermochte ich zu jener Zeit meine persönlichen Meinungen und Antipathien sehr wohl von den Geboten der politischen Klugheit zu unterscheiden. Wie mancher Liberaler in der Fortschrittspartei rechnete ich mir aus, dass SPD und Zentrum bei den ersten Wahlen zum Reichstag nach dem Kriege zusammen vielleicht die absolute Mehrheit erringen würden. Dann rückten sie in eine unsägliche strategische Vetoposition: Kein Haushalt mehr, kein Flottengesetz und keine Heeresvorlage, ja nicht einmal mehr ein Steuergesetz würden zukünftig noch ohne die Massenparteien zu beschließen sein. Man bedenke, es handelte sich um jene zwei Parteien, welche der ehrwürdige Fürst Bismarck noch als die Feinde des Reiches öffentlich verurteilte und auszugrenzen trachtete. - Spätestens im März/April 1917 wusste ich unwiderruflich: Die Ausgrenzung der Katholiken im Westen sowie der sozialistischen Arbeiter überall im Reich war endgültig gescheitert! Wollte die Monarchie selbst nicht am Ende dieses wahrlich großen Volkskrieges scheitern, musste sie sich bewegen: Preußen und das Reich, Adel, Industrielle und der Kaiser selbst würden entweder die deutsche Gesellschaft weit öffnen, oder aber sie liefen hohe Gefahr, in einem zukünftigen, vielleicht gar nicht all so fernen Bürgerkriege selbst von Grund auf überrollt, von der Geschichte hinweggefegt zu werden, zu großen Teilen gegen ihren Willen versteht sich.

      So wurde ich im Frühjahr 1917 vom Wolf des Annexionismus insgeheim zum Brückenbauer einer parlamentarischen Volksgemeinschaft ganz anderer Art, als die etablierten Eliten im Reich sich das damals noch vorzustellen vermochten. Das besagte indes keineswegs, dass ich zu jener denkwürdigen Zeit bereits meine Vorstellungen von den Kriegszielen des Reiches nennenswert zu ändern begonnen hätte. Nein, Nein! Davon war ich noch ein gehöriges Stück entfernt. - Doch halt! Meine Gedanken


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