Liebe und Tod im Grenzland. Ruth Malten

Liebe und Tod im Grenzland - Ruth Malten


Скачать книгу
du dir vorstellen, Unternehmer-Gattin zu sein? Mit eigenem Betrieb, eigenem Haus, einem großen Garten, in dem die Kinder spielen können, eventuell mit einem Hund?“ Gustav macht eine lange Pause. Er muss tief durchatmen, um seinen galoppierenden Puls zu beruhigen und schaut Hermine an, als könne er sie hypnotisieren. Die Kinder sehen erst die Mutter, dann den Vater mit angehaltenem Atem an. Gustavs Nerven sind zum Zerreißen gespannt. Durchbohrend fixieren die Kinder ihre Mutter. Was wird sie sagen? Hermine hat sich aufgerichtet, beide senkrecht aufgestellten Hände vor Mund und Nase gelegt und schaut nun ihrerseits mit ihren graugrünen, geheimnisvollen Augen Gustav an, als erzählte er gerade ein spannendes Märchen. Dann lehnt sie sich in ihrem Stuhl weit nach hinten, stemmt beide Hände gegen die Tischkante und schüttelt langsam den Kopf. „Das klingt schön wie ein Traum“, bemerkt sie schließlich und betrachtet entrückt Gustav und die Kinder aus ihren Zauberaugen. „Aber eben leider nur ein Traum … Denn im wirklichen Leben kostet sowas Geld … Geld, das wir nicht haben.“ Sie schüttelt wieder wie bedauernd den Kopf. Gustavs Gesicht hat sich während dieser Worte sichtlich aufgehellt, eine Verwandlung von banger Frage zu Zuversicht und Freude. Wenn die Geldfrage Hermines einziges Problem ist … denkt er, dann kriegen wir das hin.

      Gustav erzählt nun langsam und der Reihe nach seine Allensteiner Erlebnisse und Pläne. Hermine hört ihm, den Oberkörper nach vorn geneigt, aufmerksam zu. Auch die Kinder sind still und lauschen, vergessen immer wieder das Kauen, müssen von Hermine ermahnt werden.

      „Arno hat eine Tochter, Hilde, die ist so alt wie du“, sagt er zu Ilse.

      „Dann hätte ich ja gleich eine Freundin“, ruft sie begeistert. „Und den Sohn Johannes, der ist so alt wie du, Paul.“ Paul denkt daran, dass er seinen Breslauer Freund Dieter hier zurücklassen müsste. Arthur sagt nichts, war aber bei dem Thema Marienburg ganz Ohr.

      „Das Ganze lässt sich machen, wenn ihr alle mithelft. Jede Hand wird gebraucht werden. Immerhin wären wir, wenn alles geschafft ist, selbständige Unternehmer mit eigenem Betrieb, Haus, Garten und eventuell einem Hund. Sowas gibt es nicht umsonst.“

      „Wie reden die Leute dort?“, fragt Arthur.

      „Ostpreußisch. Zum Beispiel werden sie zu dir, Ilse, ‚Marjellchen‘ sagen, was so viel wie ‚Mädelchen‘ heißt. Es klingt irgendwie lieb, warmherzig, wie ich finde. Alles in allem reden sie weniger als die Schlesier. Sie werden vielleicht ‚Arthurchen‘ sagen. Sie arbeiten gern viel und reden eher wenig.“

      Gustav nimmt erneut seinen ganzen Mut zusammen, atmet tief ein und fragt mit fester Stimme: „Wer ist dafür, dass wir selbständige Unternehmer in Ostpreußen werden, dorthin ziehen und die ersten Jahre sehr, sehr viel zu tun haben werden?“ Die Kinder und Gustav heben die Hand, Hermine lässt sich einen Moment Zeit, schmunzelt und hebt dann auch ihre Hand.

      „Ich wusste, dass ich die beste Familie habe, die ein Mensch sich wünschen …“, sagt Gustav und ist so gerührt, dass ihm die Stimme versagt und ihm Tränen in die Augen steigen. Er nimmt zuerst Hermine in die Arme, Ilse hängt sich an die beiden, dann kommen auch Arthur und Paul und machen das Menschenknäuel komplett. „Wir werden es schaffen“, sagt Gustav aus der Mitte des Knäuels noch.

      6. Kapitel

       Unternehmen Ostpreußen

       1913

      Im Juni hatte Gustav das Anwesen in Allenstein zum ersten Mal gesehen und fachmännisch in Augenschein genommen. Tief hatte er Atem geschöpft und entschieden, den großen Schritt zu tun, Anfang September mit seiner Familie nach Ostpreußen überzusiedeln. Sein Arbeitsverhältnis in Breslau kündigte er beizeiten. Bis zur Auszahlung der ersten Kreditrate sollten die Ersparnisse reichen.

      Der alte vormalige Hausbesitzer hatte das Anwesen verlassen und lebte nun im Haus seiner jüngsten Tochter am anderen Ende der Stadt.

      Arno hatte Gustav Matratze, Kissen und Decken gebracht, für die kommenden Wochen Schlafstätte des Freundes.

      Gustav prüfte den Bestand an Farben, Lacken, Pinseln, Spachteln und Werkzeug für die Renovierung, bestellte im Ort das Fehlende und begann sein Werk.

      Um die achtzehn Stunden war er täglich auf den Beinen, seine Arbeit nur für ein Schmalzbrot und ein Glas Wasser, der Pumpe im Hof entnommen, unterbrechend. Abends trank er Bier, das er aus einer Gastwirtschaft in der Nähe in einem Siphon herbeiholte, einziger Luxus in diesen Wochen. Danach schlief er tief und erquickend. An den Rhythmus aus sechs Stunden Schlaf und achtzehn Stunden straffer Arbeit gewöhnte er sich bald.

      Er schleifte Fensterrahmen, reparierte, baute aus und bestellte neue Rahmen, Fenster und Türen. Morsche oder brüchige Dielenbretter und Bohlen ersetzte er fachkundig.

      Spinnenweben und Staub fegte er von Decken und Wänden, wusch die alte, grau gewordene Farbe ab und strich nach dem Trocknen die gereinigten Flächen mit breitem Quast, dicken und dünnen Pinseln in gebrochenem Weiß. Fensterrahmen und Fassungen sowie die alten, noch verwertbaren Türen bemalte er in drei Brauntönen und lackierte sie später. Keller und Boden entrümpelte er bis auf ein altes, rostiges Fahrrad ohne Kette und Gummibereifung sowie einen rostigen Roller und sammelte im Hof den Abfall: angeschlagene Gläser, altersschiefe Regale, zerbrochenes Kinderspielzeug und undefinierbare Blechteile. Mit seinem Firmenlieferwagen, vom Vorbesitzer des Hauses günstig übernommen, beförderte er den Müll zur Kippe außerhalb des Ortes. Die Innenseiten des Daches sowie die Dielenbretter des Spitzbodens fegte er mit breitem, hartem Besen.

      Staub rieselte in Augen und Nase, und er nieste prustend. Mit dem Jackenärmel wischte er Spinnweben fort, die sich wieder und wieder über Gesicht und Augen schmiegten. Sein blauer Arbeitsanzug war gesprenkelt von weißer Farbe. Sein Haar schützte er mit einem großen bunten Taschentuch, Knoten an den vier Ecken. Die alten ausgetretenen, vormals braunen Halbschuhe waren mit weißer Kalkfarbe und mit braunem Lack in den Farbtönen der Fenster und Türen bekleckert.

      Den Außenanstrich besorgte Gustav von der Leiter aus, bis zum Abend etwa zwanzig Mal die Leiter umsetzend und mit dem Farbeimer auf- und abwärts steigend. „Gut für die Linie“, befand er, in seinen blonden Wikingerbart lachend, den er hatte wachsen lassen. „Wie ein Räuberhauptmann“, würde Ilse zu seinem verwilderten Äußeren wohl sagen. Zeit wollte er sparen, gleichzeitig den prickelnden Hauch von Abenteuer verspüren, dem er sich mit Bart, Matratzenlager, Fettschnitten und Brunnenwasser verwegen-lustvoll hingab.

      Er sichtete in der Lagerhalle zugebundene, eingestaubte Papiersäcke, verschlossene Eimer und Dosen, Berge von Brettern und Bohlen, zerbrochene Dachpfannen, sonderte Ziegel und Fliesen aus, säuberte, was brauchbar und ordnete übersichtlich neu. Freier Platz für neues Baumaterial war geschaffen.

      Hin und wieder reckte sich Gustav aufstöhnend, beugte seinen Körper säbelartig nach hinten, beide Hände in die Seiten gestützt, krümmte ihn nach vorn, berührte den Boden mit den Fingerspitzen und brummte beim Aufrichten erleichtert: „Ah, Wohltat.“

      War ein Tagwerk vollbracht und Gustav konnte ausruhen, summten seine Beine und Arme wie sei der Horch-Motor seines Autos. Stets hatte er gern und ausdauernd gearbeitet. Aber so kräftezehrend, ohne Ruhezeiten, stunden- und tagelang wie hier, das war auch für ihn neu. Erlebte er anfangs Tiefpunkte, die klares Denken eintrübten, gewöhnte er sich nach und nach an die Belastung und erwachte morgens nach sechs Stunden Schlaf erfrischt und frohgemut. Auch der anfänglich beißende Muskelkater war verschwunden.

      Gustav plante, Mitte September den neuen Besitz einzuweihen und eine Feier aufzuziehen, die sowohl Werbung als auch Kennenlernen künftiger Nachbarn, Kunden und Handwerkskollegen bringen sollte.

      Mitte August bestellte er den Möbelwagen zum ersten September, sodass seine Familie das Haus vor Einweihung des Betriebes in Ruhe beziehen konnte.

      In Breslau packte unterdessen die Familie die Umzugskisten. Arthur, Paul und Ilse waren eifrig und ermutigten die vom gegenwärtigen Umzugswirrwarr zunehmend entnervte Mutter. Inmitten der Kartons empfand sie als schwierig, den Kindern Mahlzeiten zuzubereiten und eine gewisse Normalität und Ordnung aufrechtzuerhalten. Sie schob zurück, räumte aus, schaffte fort, beseitigte, sortierte, packte


Скачать книгу