Liebe und Tod im Grenzland. Ruth Malten

Liebe und Tod im Grenzland - Ruth Malten


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Abreise und das Wiedersehen mit ihrem Papa.

      Die behelfsmäßigen Mahlzeiten gefielen Arthur, Paul und Ilse. Den rauchwürzigen Schinkenspeck aus der Hand im gegenwärtigen Umzugsgewühl hätten sie gegen keinen Schmaus am Familientisch eintauschen mögen. Sie kauten das Weiche aus den Brotschnitten, hoben die Krusten auf, um sie danach genüsslich solange durchzumümmeln, bis sie süß schmeckten. Ihre Finger glänzten von Fett, sie hatten Fettbärte, schauten sich an und wieherten vor Lachen. „Ihr Ferkel müsstet euch mal sehen“, rief Ilse übermütig: „Eure Schmutzpfoten mit Fett und eure ungewaschenen Gesichter mit Speckbärten!“

      „Guck dich doch mal selber an“, maulte Arthur, der nicht immer Spaß verstand und schob seine Schmollunterlippe vor. Paul bemerkte so gelassen und erhaben über den Dingen stehend wie möglich: „Irgendwie verrückt, das alles hier, ich schmettere ein volltönendes Halleluja, wenn es geschafft ist.“ Mit dem Unterarm, die Fettfinger waren dafür nicht zu gebrauchen, versuchte er, eine blondwellige Haarsträhne aus der Stirn zu schieben. Vergeblich, sie fiel in ihre alte Lage zurück. Er schmunzelte vor sich hin und beobachtete, wie sich seine beiden Geschwister giftige Blicke zuwarfen. „Deine vollen Töne kannst du ja schon mal üben“, meinte Arthur gallig.

      „Und du kannst mal üben, ab und zu Spaß zu verstehen, alter Miesepeter.“

      „Angenehm, Arthur“, sagte Arthur zu Paul.

      Hermine, die im Hintergrund dem geschwisterlichen Geplänkel gelauscht hatte, zitierte: „Ihr Kindlein, liebet einander“ und griente belustigt.

      „Genau“, fand Ilse und streckte Arthur mit verdrehten Augen und bestätigendem Kopfnicken die Zunge raus.

      Ilse, je näher der Umzugstermin kam und die kaum abwarten konnte, ihren Papa endlich wiederzusehen, war nur noch mühsam zu bändigen.

      In diesem angespannten Gewirre erwies sich Pauls Gabe als nützlich, wie sein Vater den Überblick zu bewahren und Dinge in sinnvoller Reihenfolge besonnen zu tun. Mit stillem Einfühlungsvermögen und Takt gab er der Mutter manch nützlichen Tipp. Vor allem nahm er ihr, wie seit früher Kindheit, das Fegen und Wischen ab.

      Er hatte nicht vergessen, wie in seinen jungen Lebensjahren zahlreiche Augen-Operationen die Kräfte seiner Mutter bis an deren äußerste Grenze aufgesogen hatten. Auch wenn ihn keine Schuld traf, war er doch Ursache von viel Leid, Sorge und Mühsal gewesen. Damals gelobte er, die großen Mühen seiner Mutter, am Ende mit Erfolg gesegnet und ihm ein Mindestmaß an Sehfähigkeit für ein halbwegs normales Leben bescherend, im Gedächtnis zu bewahren und durch Gegenliebe in seinem ganzen Leben, soweit möglich, gutzumachen. Dieses Versprechen, sich selbst gegeben, trug er tief und ernst in seinem Herzen.

      Ab Anfang September enthielten die zwei wichtigsten Zeitungen der Stadt Anzeigen seines Unternehmens, der Baustoffhandlung Gustav Freund, der nicht nur Baumaterial im Groß- und Einzelhandel, sondern auch Dienstleistungen, wie Verfliesen, Kacheln und entsprechende Reparaturen anbot. Er lud die Inhaber von Handwerksbetrieben mit ihren Ehefrauen und Kindern, sowie den Bürgermeister und Pfarrer seiner Kirche zu seiner Eröffnungsfeier am 15. September mit einem persönlich gehaltenen Schreiben ein.

      Dreißig Personen meldeten sich an, einschließlich der Ehefrauen und Kinder.

      Gustav glühte vor Freude und Erregung, seine Hände zuckten in die Hosentaschen und zurück, seine Füße tänzelten eigenmächtig, als er am Bahnhof seine Familie erwartete. Immer und immer wieder schaute er angespannt in Richtung des erwarteten Zuges. Sein Haar, vom Wind zerzaust, strich er wiederholt zurück. Die leicht säuselnde Brise verwehte seine Frisur sogleich von neuem.

      Als der Personenzug mit Hermine und den Kindern eintraf, hörte er: „Mein Papi“, Ilse stürmte los und hing an seinem Hals. Hermine umarmte ihn warm und liebevoll. Arthur verzog, seinem Vater herzhaft die Hand reichend, seine Mundwinkel nur zu einem sparsamen Lächeln, von Mann zu Mann sozusagen, auszudrückend, wie das Gewirbel seiner kleinen Schwester ihm, dem mannhaften Fünfzehnjährigen, hochgradig peinlich und zuwider war. Paul mit seiner Brille lächelte seinen Vater auf seine stille Art offen und glücklich an. Gustav drückte ihn wie einen zerbrechlichen, kostbaren Schatz behutsam an sich.

      „Seid willkommen, meine Guten“, sagte Gustav, sich verdächtig räuspernd. Tief gerührt, sein geliebtes Rudel endlich wieder bei sich zu haben, bröckelte seine Stimme bedenklich.

      Mit seinem Horch fuhren sie zu ihrem Haus, dass die Familie erstmals sah.

      Er war herzensfroh, mit seiner Arbeit so vorangekommen zu sein, dass das Anwesen wie neu vor ihnen stand: Die Außen- und Innenwände strahlend weiß, Fenster und Türen erneuert und aufgefrischt, die Dielen braun und blank.

      Seine Freunde Arno und Lore hatten zur Begrüßung seiner Familie eine Girlande aus Fichtenzweigen mit Astern und Zinnien-Blüten geflochten mit einem Schild „Herzlich Willkommen im eigenen Heim.“

      Mit einladender Handbewegung stellte sich Gustav seitwärts zum Eingang, verneigte sich tief und sagte ehrerbietig: „Treten sie näher, meine Herrschaften.“

      „Oh, ich bin eine Herrschaft“, tönte Ilse begeistert, erhob ihren Kopf königinnengleich und stolzierte gravitätisch, mit ihrem kleinen Hinterteil wackelnd, an Gustav vorbei. Nur Arthur konnte darüber nicht lachen.

      Gustav durchschritt zusammen mit Hermine die Räume, die Kinder preschten voraus und musterten bereits die kleinen oberen Stuben, die wie Kinderzimmer aussahen. Sie liefen in den Keller, die Waschküche, sausten über den Hof in die offenstehende Lagerhalle, dann hinter das Haus und betrachteten den großen Garten. Sie hätten vom tagelangen Packen und der weiten Fahrt müde sein müssen, waren aber nun, nach all den Eindrücken der langen Fahrt und dem Anwesen vor ihnen vollkommen überwältigt.

      Großen Jubel löste die Wasserpumpe im Hof aus, der steinerne Trog, innen halbrund, mit klarem Wasser gefüllt. Arthur bewegte den geschweiften Eisenschwengel, ein breiter Strahl Wasser quoll aus der Traufe und ergoss sich in den Steinbehälter. Mit der Hand schöpften die Kinder von dem Wasser und schlürften es durstig. Mit nassen Händen fuhren sie sich durch ihre Gesichter, quietschten feuchtglänzend vor Vergnügen und bespritzten einander.

      „Papa, schön ist das hier“, rief Ilse mit ihrer hellen Stimme, „ganz, ganz wunderschön!“

      „Und wie gefällt es euch, meine Herren?“, fragte Gustav seine Söhne, denen Wasser aus den Haaren auf die Hemden tropfte.

      „Gut“, knurrte Arthur mit seiner Stimmbruchstimme, die noch von kinderhell zu Männerbass unkontrolliert auf und ab hüpfte und gerade wieder bei knurrigem Bass angekommen war. „Ganz gut“, steigerte er sich und seine Stimme hopste aufwärts.

      „So viel Platz“, strahlte Paul. „Der Brunnen vor dem Tore, der große Garten! Herrlich die alten Bäume, aber alles andere auch.“ Sein Gesicht glänzte nass und bezaubert, obgleich er ebenso müde war wie die anderen.

      Hinter dem Haus entdeckten sie das Häuschen mit dem ausgesägten Herzen in der Tür aus braunem Holz, glänzend lackiert und dem Duft frischer Holzfarbe.

      „Wahnsinn!“ Arthur hatte sich für eine Sache selten so begeistert. Er riss die Tür auf und gebot: „Ihr bleibt draußen!“ Die Geschwister standen vor der innen verriegelten Tür und fingen an, von einem Bein auf das andere zu treten.

      „Beeil dich, lahme Ente“, rief Ilse drängelnd und übermütig.

      Als Arthur wieder raustrat, grinste er aufgeheitert und meinte: „Das ist doch mal was!“ Die Holzbank im Inneren war in der Mitte rund ausgeschnitten, weich geschmirgelt und hatte einen abnehmbaren Holzdeckel mit Handknauf zum Anfassen. Unter dieser Bank, vorn mit Holz verschalt, stand eine Zink-Wanne, die von Zeit zu Zeit ganz hinten im Garten auf dem Komposthaufen, geschichtet mit Torf und Küchenabfällen, zu entleeren war. Aber auch Bauern der Umgebung waren am Inhalt der Wanne interessiert und holten ihn auf Wunsch ab, wie Gustav erläuterte. Dabei grinste er Hermine an, die das ganze Arrangement im Moment, besonders aber die aufgekratzte Reaktion der Kinder, zum Kringeln fand und sich buchstäblich schieflachte: Sie stand mit überkreuzten Beinen, seitlich schräg gehaltenem Oberkörper da und sauste nun ihrerseits hinter die


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