Liebe und Tod im Grenzland. Ruth Malten

Liebe und Tod im Grenzland - Ruth Malten


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      12. Kapitel

       Humboldtstraße

       1939

      Paul und Emma sitzen mit ihren Kindern an ihrem runden Wohnzimmertisch, der mit einer in zart pastelligen Streublümchen gestickten Tischdecke geschmückt ist und frühstücken. In einer bauchigen, lehmfarbigen Ton-Vase leuchten im Garten gepflückte Astern in herbstlichen Rottönen und verströmen ihren herben Duft. Dieser mischt sich mit dem Wohlgeruch von frisch gebackenem Hefekuchen und Malzkaffee mit Milch. „Es riecht nach Sonntag“, sagt Marie.

      Sonntagsfrühstück bedeutet für die Familie: Es gibt Kuchen, trotz der mageren Zeiten. Emma hat es auch dieses Mal hingedeichselt, die nötigen Zutaten für den Lieblingskuchen zu ergattern und diesen gekonnt zu backen: einen Streuselkuchen aus einem Hefeteig, nach unermüdlichem Schlagen mit dem Holzlöffel aufgeplustert wie eine duftige Septemberwolke. Wattekuchen nennen die Kinder Emmas luftiges Backwerk. Glückstrahlend lächelt sie in die Runde. Genüsslich beißen die Mädchen in ihr zuckriges Kuchenstück. Zucker krümelt von ihren Lippen. Ihre Haut, gebräunt vom Sommer, die Augen leuchtend, glühen ihre Wangen rosig vor Behagen. Paul schneidet mit einem Messer die Streuseldecke seines Kuchenstücks, stapelt dieses auf die beiden anderen Streusel-Decken, um diese zuletzt zu verspachteln. Als Krönung nach den trockneren Hefesockeln. „Obersieger in Willenskraft“, bemerkt Marie bewundernd und sagt, was auch ihre jüngeren Schwestern denken dürften: „Meine Güte, so lange auf das Beste warten zu können!“

      Da ertönt aus dem Volksempfänger die durchdringende Erkennungsfanfare, die eine Sondermeldung ankündigt. Das Signal für die Kinder, jetzt still zu sein, denn der Führer wird sprechen, und die Eltern wollen jedes einzelne Wort mitbekommen. Paul und Emma beugen sich nahe zu ihrem Radio und zeigen vorsorglich, den Zeigefinger vor dem Mund, ‚pst‘ in Richtung Kinder an.

      Die Nachricht, die nun folgt, schlägt wie eine Granate in ihre frohgestimmte Sonntag-Morgen-Frühstücksrunde ein.

      Paul ist blass geworden. Sein Messer hat er auf den Tisch gelegt. Den Bissen in seinem Mund scheint er vergessen zu haben. Emma schaut Paul mit großen, runden Augen verwirrt an. Auch der Kuchenbissen in ihrer ausgebeulten Wange scheint ihrem Bewusstsein entfallen. Mit halboffenem Mund, ernst und fragend schauen die Kinder auf ihre Eltern. Nur noch im Zeitlupentempo wagen sie weiterzukauen.

      Eine dunkle Wolke hat sich beklemmend auf die eben noch frohe Sonntags-Kaffeerunde gelegt.

      Der Führer hat gerade mitgeteilt: „Seit fünf Uhr wird zurückgeschossen.“

      Der weiteren Meldung war zu entnehmen, polnische Grenzsoldaten hätten deutsche Grenzer angegriffen, worauf nun die Deutschen zurückschössen.

      „Was hat das zu bedeuten?“, fragt Emma, um die drückende Stille zu beenden, wenngleich sie die Antwort kennt. Paul räuspert sich umständlich. Seine Stirn zuckt. Die senkrechte Falte zwischen den Brauen hat sich vertieft. Dann sagt er mit entfernt klingender, knarzender Stimme: „Krieg hat das zu bedeuten.“

      Emma, die das Gehörte weder fassen kann noch glauben will, versucht klar zu denken. Sie streicht eine blonde Haarsträhne aus ihrem Gesicht und schaut besorgt auf ihre Kinder: „Aber der erste Weltkrieg ist doch gerade mal 20 Jahre vorüber. Es kann doch nicht sein, dass der Führer einen neuen Krieg anfängt!“ Emma versucht zu erfassen, was da gerade wie eine Bombe in ihr Leben eingeschlagen ist. Entgeistert schüttelt sie wiederholt den Kopf und schaut Paul fortwährend an, gegen jede Hoffnung hoffend, alles sei nur ein böser Spuk, den Paul verscheuchen könne.

      Paul kaut seinen trockenen Bissen langsam und irgendwie zu Ende. Sein Magen hat sich zugezogen. Die feinen Teile mag er in diesem beladenen Augenblick nicht mehr aufessen. Er wischt die Hände an der Stoff-Serviette ab, legt diese neben seinen Teller, räuspert sich und sagt nach einer Weile heiser: „Hitler will den Krieg, gefehlt hat nur noch ein Anlass. Anlässe lassen sich basteln, wenn man zum Beispiel die polnischen Soldaten lange genug provoziert hat.“ Er macht wieder eine längere Pause. Sorgenvoll fährt er fort: „Wir wissen es nicht und werden es wohl auch nie erfahren. Das Erste, was im Krieg auf der Strecke bleibt, ist die Wahrheit. Die Propaganda wird uns künftig sagen, was die offizielle Wahrheit ist, die wir zu glauben haben. Der Volksempfänger hier wird das Sprachrohr der Regierung sein, wenn demnächst alle Medien und die Presse gleichgeschaltet sind. Wer was anderes denkt und sagt, tanzt auf dem Vulkan.“ Pauls Lippen sind schmal geworden. Seine Hände, zuvor entspannt mit dem Kuchen beschäftigt, liegen zu Fäusten geballt neben dem Teller. Seine Stimme hat zuletzt gereizt geklungen.

      Die Kinder schauen auf ihre Eltern. Sie verstehen nicht, wovon die Rede ist. „ Silence “, sagt Emma zu Paul und weist mit ihren Augen auf die beiden älteren Mädchen Marie und Renate. Die Eltern haben sich angewöhnt, Englisch zu sprechen, wenn die Kinder etwas nicht verstehen sollen. Marie und Renate sind Schülerinnen und hören in der Schule möglicherweise eine andere Version als zu Hause. Paul und Emma wollen die Kinder nicht in Gewissenskonflikte bringen. Nicht erst seit heut müssen Väter und Mütter achtgeben, was sie in Gegenwart ihrer Kinder sagen.

      „Ich will Herbert kurz rüberholen. Seine Meinung interessiert mich. Als Lehrer für Geschichte und Mathematik hat er mehr Ahnung als wir.“

      Sie treffen sich in Pauls Herrenzimmer, in dem er normalerweise an den Wochenenden die mitgebrachte Arbeit erledigt. Paul schließt das Fenster. „Vorsicht, nicht schwätzen, Feind hört mit“, zitiert Emma einen Spruch, der gegenwärtig allerorten auf Plakaten, an Hauswänden und Litfass-Säulen prangt. Wie immer versucht sie, mit einem Scherz eine eingetrübte Stimmung aufzuhellen, heut allerdings vergeblich.

      Die Kinder sind auf die Straße gegangen, um mit Nachbarskindern zu spielen und haben ihr angebissenes Kuchenstück mitgenommen.

      Herbert sieht aus wie Paul: Grau im Gesicht, zerfurcht die Stirn, wie gealtert. Sein Begrüßungslächeln misslingt zu einer verrutschten Larve. Mit leiser, müder Stimme stellt er fest: „Seit der Führer die Macht übernommen hat, wurde mehr und mehr deutlich, dass seine Politik auf einen Krieg zuläuft“, sagt Herbert. Er hat sich auf einen der drei dunkel- braun-grünen Plüsch-Sessel gesetzt, den rechten Ellenbogen auf ein Knie gestützt; die fünf Finger seiner Hand streichen über seine verknitterte Stirn. Grüblerisch schaut er zu Boden. „Der Führer meint, Deutschland brauche mehr Lebensraum. Kurz nach seiner Machtübernahme am 30. Januar 1933 erklärte er bereits den Befehlshabern von Heer und Marine, er wolle den Lebensraums der Deutschen nach Osten hin erweitern und sähe die Jahre 1943 bis 1945 dafür als günstig an. Machterweiterung erfordere Krieg. Da er überzeugt ist, erfolgreich zu sein, schließt er ein Risiko aus.“ Herbert nimmt seine Brille ab, hält sie in Richtung Fenster, schaut hindurch, nimmt sein Taschentuch, haucht die Brille an und putzt sie ausgiebig. Paul und Emma sehen ihm dabei zu, als hinge es von seiner blanken Brille ab, die Beklemmung dieses Sonntagmorgens zu verscheuchen.

      „Die Verschuldung des deutschen Staates ist so immens, dass diese Schulden nur beglichen werden können durch Güter und Vermögen, die bei einem Sieg den Deutschen zufallen. Das ist einkalkuliert“, sagt Herbert nach längerer Gedankenpause. „Die verdeckten Kriegsvorbereitungen, wie der Bau von Autobahnen, der Wiederaufbau der deutschen Wehrmacht, oder die Schaffung neuer Organisationen zur ideologischen Vorbereitung der Deutschen auf diesen Krieg haben Unsummen verschlungen. Die bisherigen Schulden wurden finanziert über Wechsel, die deutsche Kleinsparer kaufen in der sicheren Erwartung, ihre Ersparnisse mit hoher Rendite am Ende des Krieges zurückzuerhalten. Schaut man sich die Aktivitäten der vergangenen sechs Jahre seit 1933, dem Jahr der Machtergreifung an, fügt sich alles nahtlos zu einem Mosaik, dem geplanten Krieg.“ Je länger Herbert redet, desto hoffnungsloser klingt seine Stimme.

      Paul hat einerseits Skrupel, seinem Freund, der offensichtlich schwer durchhängt, mit weiteren Fragen zu kommen. Doch allzu viele Fragen brennen auf seiner Seele. So unterdrückt er seine Gewissensbisse und forscht weiter:

      „Was sagen die Westmächte dazu, die Verfasser des Versailler Vertrages?“ Herbert setzt sich aufrecht in den Sessel, nimmt seine Brille ab und setzt sie wieder auf, bevor er antwortet: „Das wird man sehen. Bisher haben sie sich begnügt, mit Protesten zu reagieren,


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