Liebe und Tod im Grenzland. Ruth Malten

Liebe und Tod im Grenzland - Ruth Malten


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dachte, die Deutschen müssten für alle Zeiten genug haben vom Krieg nach den Erfahrungen, die sie mit dem ersten Weltkrieg gemacht haben“, sagt Emma vorwurfsvoll und spricht lauter als sie sollte. Sie gießt Herbert einen Pfefferminztee nach und reicht ihm die Zuckerdose.

      „Danke, Emma. Der Führer hat es geschafft, zu vermitteln, er sei von der Vorsehung auserkoren, aus Deutschland etwas Großes zu machen. Die Deutschen seien das arisch-germanische Volk, berufen, die Herren über die slawischen Untermenschen des Ostens zu sein. Solch große Worte tun gut, wenn man zuvor als Deutscher durch den Versailler Vertrag und seine schmählichen Folgen moralisch am Boden zertreten wurde. Es konnte nicht gutgehen, dass 2,1 Millionen Deutsche der Autorität Polens unterstellt wurden. Andere Konfession auf der einen Seite, auf der anderen das Wissen, dass Polen niemals in der Geschichte in der Lage war, sich selbst zu regieren. Das hatten bereits die Briten David Lloyd George und der Franzose George Clemenceau nach Abschluss des Versailler Vertrages festgestellt.

      Unseren Glauben an uns selbst hat uns der Führer wiedergeben und ist inzwischen unser Heiland, dem wir zutrauen, uns in eine ruhmreiche Zukunft zu führen. Diese Zukunftserwartung blendet schleichend Dinge aus, die man nicht nur nicht gutheißen kann. Sie sind, wenn sie zutreffen sollten, unmenschlich, ja verbrecherisch!“

      Herberts Stirn gleicht einer alten Baumrinde, denkt Emma. Obgleich nur vier Jahre älter als Paul, sieht er altersmäßig mehr Pauls Vater ähnlich, der mit ihnen zusammen die andere Doppelhaushälfte bewohnt, als Paul, seinem vier Jahre jüngeren Freund.

      „Momentan muss ich meinen Schülern Dinge sagen, die ich selbst nicht glaube. Verrat an meinem Gewissen und schwer zu verkraften. Ich muss aufpassen, nicht eines Tages in mein eigenes Spiegelbild zu schlagen.“ Herbert schüttelt den Kopf, legt beide Hände aneinander und sein vergrämtes Gesicht auf die wie zum Gebet senkrecht gepaarten Hände.

      „Gibt es keine andere Wahl? Was geschähe, wenn du deine Meinung ehrlich mit den Schülern diskutiertest?“ Emma kommt sich bei ihrer Frage selbst reichlich naiv vor.

      „Ich kann auswandern, denn als Beamter habe ich die offizielle, gleichgeschaltete Meinung der einen, allumfassenden Partei zu vertreten. Oder ich kann mir eine Kugel in den Kopf schießen. Hast du Familie, musst du gegenwärtig Anwandlungen heroischen Edelmuts im Kohlenkeller vergraben. Widerlich, ich weiß. Wahl zwischen Charakterschwein oder Tod.“

      Herbert macht eine Pause, trinkt einen Schluck des frischen Pfefferminztees, bevor er mit gedämpfter Stimme nach einer Pause fortfährt: „Ich hoffe, meine Selbstachtung, mein Überlebenswille und meine Nerven-Kraft, Schülern verdrehte Fakten vermitteln zu sollen, reichen, bis dieser Spuk in nicht allzu ferner Zukunft ein Ende hat. Jede Stunde Zeitgeschichte ist für mich eine Tortur. Ich müsste meinen Schülern sagen: ‚Seid vorsichtig, ihr Jungen. Wir haben es erlebt, was aus einem kleinen Brandherd werden kann, einem einzigen Schuss aus einem Gewehr. Am Ende blieb blutgetränktes, zerstörtes Land, waren fünf Millionen Tote zu beklagen, zerstörte Familien, kranke oder tote Väter und Söhne. Gab es Hunger und Elend. Nicht nur die Deutschen waren von all dem Elend betroffen.‘ Das alles würde ich meinen Schüler sagen müssen, wenn ich den Mut hätte, für meine Überzeugung ins Zuchthaus zu gehen und wegen Verhetzens der Jugend aufgehängt zu werden. Was wäre erreicht? Meine Familie zerstört. Geändert hätte sich durch meinen pompösen Todesmut nichts. Schon, dass ich heut mit euch beiden so offen rede, könnte mich den Kopf kosten. Aber Ihr seid meine Freunde, und ich kann mich auf euch verlassen. Wohltuend, aussprechen zu können, was sonst nur Gedanken sind.“ Emma tat dieser Mann leid, der aufgewühlt vor ihnen saß und durch seinen Beruf in doppelter Zwangslage steckte.

      Auch Paul war in die Partei eingetreten. Als Führungskraft im öffentlichen Dienst hoffte er, mit diesem Schritt unangenehmen Fragen zu entgehen.

      Emma sann, auch bei ihnen galt: Unser kleines Glück ist so kostbar und schützenswert, dass jede Gefährdung vermieden werden musste. Für Heldenmut war nicht die Zeit. Ein viel zu kleines Rädchen im Getriebe waren sie, als dass eine Heldentat irgendwas Positives bewirken konnte. Ihr Haus abzustottern, bescheiden zu leben und ein Leben zu bewerkstelligen, an das sich die Kinder eines Tages gern erinnern konnten, war mühselig genug.

      Emma sagte: „Ich verstehe dich und wünsche dir alle Kraft für deinen täglichen Seelen-Spagat. Ein einziger Schüler, scharf gemacht von der Hitlerjugend, seinem Vater oder wem auch immer, könnte dir das Kreuz brechen. Dank dir für dein Vertrauen. In dieser Zeit sind vertrauenswürdige Freunde ein Kleinod.“ Emma legte ihre Hand auf den Handrücken des Freundes. Ihr kleines Lächeln war einfühlsam und zugetan. Alle schwiegen eine Weile.

      Emma sagte: „Ich wünsche mir vor allem, dass wir unseren Kindern solange wie möglich das Gefühl eines normalen Lebens erhalten können. Meine Hoffnung, vielleicht wird das kleine Feuerchen in Polen gar kein Flächenbrand, und wir haben uns umsonst gesorgt.“ Sie tranken gemeinsam ihren Pfefferminztee, den Emma immer wieder nachgegossen hatte. Pfefferminztee aus der Minze in ihrem Garten.

      Als Herbert gegangen war, sagte Emma zu Paul: „Die heutige Kriegsbotschaft ist ja nicht der erste Schrecken seit Hitlers Machtergreifung. Das Strickmuster sieht immer ähnlich aus. Denk an den Reichstagsbrand vor sechs Jahren. Es hieß, Kommunisten seien die Verursacher gewesen. Anschließend wurden scharenweise KP-Funktionäre verhaftet. Wurde wirklich bewiesen, dass sie es waren? Es gab auch Stimmen, die Zweifel am vermeintlichen Brandstifter äußerten.

      Wir werden die Wahrheit nicht erfahren. Die Rassegesetze vor vier Jahren mögen zwar gut für die blonden und blauäugigen Menschen in unserem Land geklungen haben, die plötzlich zu einer besonders schützenwerten Gattung wurden. Aber ich möchte nicht in der Haut derer stecken, die diesem Bild nicht entsprechen. Anmaßende Vorstellung, die arischen Menschen seien per se die höherwertigen. Man könnte das alles als Schnapsidee abtun, wären da nicht die ungeheuerlichen Methoden, mit denen die Juden aus unserer Gemeinschaft aussortiert werden. Auch da wissen wir ja nichts Genaues. Es sind Gerüchte. Ich hoffe, dass einige der Fantasie entsprungen sind. Die Betroffenen sind Menschen, die Familien haben, Kinder, einen Beruf. Mir graut bei der Vorstellung, wir alle, wir Deutschen, könnten eines Tages für diese Schandtaten belangt werden von einer Art höherer Gerechtigkeit.“

      Emma hatte sich in Rage geredet. Sie strich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht. Ihre honigbraunen Augen funkelten erregt. Ihre unruhigen Hände suchten nach einer Bleibe und schoben sich schließlich hinter den Latz ihrer Schürze.

      „Guter Rat deines Mannes: Solche Gedanken behältst du künftig besser für dich. Mit Sätzen wie den eben geäußerten kannst du dir ganz schnell den Mund verbrennen. Wie gesagt: ‚Vorsicht, nicht schwätzen, Feind hört mit.‘ Jeder kann das sein, ein vermeintlich ganz lieber Nachbar, der irgendwas in den falschen Hals bekommen hat und nun eine Möglichkeit sieht, dich, mich, uns beide in die Pfanne zu hauen“, sagte Paul gereizt, dem dieses ganze Thema allmählich auf die Nerven ging.

      „Ihre Judenpolitik begründen die Nazis so: Sie sitzen an den Hebeln der Macht, überall da, wo das Geld ist. Ihnen gehören Kaufhäuser, Banken …“, er atmete schwer.

      „Warum sind sie in den Geldberufen?“, wollte Emma wissen. „War es nicht so, dass man sie zu Handwerksberufen nicht zugelassen hat, dass sie vieles nicht durften, sodass nur Handel und Geld blieben? Und warum will Hitler ihnen nun an den Kragen? Wenn wirklich alles von vornherein auf einen Krieg zugelaufen ist, könnte es nicht sein, dass er bei den Schulden, die sich durch die riesige Aufrüstung angehäuft haben, einfach an ihr Geld ran will, an ihre großen Vermögen? Auch das wäre doch ein weiterer riesiger Etiketten-Schwindel, vergleichbar dem von heut Morgen mit dem angeblichen ‚zurückschießen‘, oder? Sie reden von Rasse und meinen ihr Geld. Sie reden von ‚Volk ohne Raum‘ und meinen Machtzuwachs. Oder sehe ich das alles falsch?“

      Emma ließ nicht locker. Die Verlogenheit empörte sie und die menschliche Seite, die Tatsache, dass hier Menschenleben und Menschenschicksale bei aller Politik ausgeblendet wurden, so wie am heutigen Tag in Polen, wo möglicherweise schon die ersten Frauen ihre erschossenen Männer beklagten, Kinder ihren toten Vater. Politik hatte sie noch nie sonderlich interessiert, schmutziges Geschäft, fand sie. An die sogenannte ‚Reichskristallnacht‘ durfte sie gar nicht denken. Sie schämte


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