Liebe und Tod im Grenzland. Ruth Malten

Liebe und Tod im Grenzland - Ruth Malten


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Christians Gesicht war der letzte Rest Farbe gewichen vor Wut und Zorn. Die Mutter hatte nur einen Sekunden-Blick auf die Frau geworfen, die sein Sohn liebte. Danach schaute sie wieder eisig und schmallippig geradeaus. Christian bog sich nach vorn zum Kutscher und versuchte, ihm in die Zügel zu greifen: „Halten Sie an“, zischte er mit kalter, zorniger Stimme. Der Kutscher fuhr weiter. „Sie sollen anhalten!“ Die beiden Pferde bäumten sich auf und wieherten. Die Mutter rief metallisch und durchdringend: „Sie fahren weiter!“

      Für sie hatte von vornherein die Antwort festgestanden: „Diese Heirat kommt nicht infrage.“

      Drei Tage später gebar Elise in Hannover ihre Tochter Emma. Niemand war bei ihr außer der Hebamme. Drei weitere Tage später fuhr sie mit dem Baby nach Breslau zurück.

      Christians Kampfkraft hatte sich erschöpft. Er gab auf. „Du widerlicher Feigling“, sagte er am Abend zu seinem Spiegelbild. „So wirft ein Feigling sein Glück fort.“ Er hatte keine Kraft mehr für den Kampf gegen seine Mutter.

      Elise sah Christian nicht wieder.

      Jahre später hörte sie von Emma, die ab und zu ihren Vater Christian in Hamburg besuchte, von dessen Lebensbedingungen.

      Er hatte die ihm von seinen Eltern bestimmte Louise geheiratet. Sie hatten zusammen ein Kind, Berta. Wenn Emma kam, richtete die Haushälterin für die beiden Halbschwestern Kakao und Kekse, einen Tisch mit Spielen wie Halma, Domino oder Karten. Die Mädchen taten, was man von ihnen erwartete. Berta war sehr ernst. Emmas Großmutter Adelheid ließ die Mädchen meist allein. Sie fragte Emma nicht nach ihrer Mutter oder ihrem, Emmas Leben in Breslau.

      Den Vater bekam Emma meist nur kurz zu sehen. Freudlos sah er aus, als wenn er nie lachte, dachte Emma. So freudlos, wie auch Berta war und die ganze Atmosphäre in diesem Haus mit den hohen Fenstern, den schweren samtenen Vorhängen und der dunklen Vertäfelung in allen Räumen. Düster, fand Emma. Man konnte kaum atmen, so merkwürdig war hier die Stimmung. Ernst, traditionell, gesittet, ohne Lachen. Zeit ging ins Land. Emma war um die zehn Jahre, als ihr mehr und mehr widerstrebte, zu ihrem Vater zu fahren. Ihr Empfinden, sein ganzes Inneres sei erstarrt, ohne Wärme, ohne Liebe, taten ihr weh. Sie erreichten einander nicht. Er hatte Emma nie nach Elise, ihrer Mutter, gefragt. Berta sagte, ihr Vater habe viel zu tun, daher wäre er so ernst.

      Großmutter Adelheid hatte nie den Wunsch, Emma, ihre Enkelin, näher kennenzulernen, das Kind ihres Sohnes, das Elise unter dem Herzen getragen hatte, als Adelheid zusammen mit Christian in Hannover vor dem Welfen-Schloss an ihnen vorübergefahren war ohne anzuhalten.

      3. Kapitel

       Gustav will weiterkommen und zieht nach

       Breslau um

      „Das ist ja erstaunlich“, sagt beim Frühstück Gustav zu Hermine. „Was schätzt du, wie viele Menschen gegenwärtig in Deutschland leben?“ Hermine, die selbst Zeitung liest und noch in Gedanken ist, kräuselt die Stirn, schaut ihren Mann an und schüttelt den Kopf: „Keine Ahnung, vielleicht fünfzigtausend?“ Sie streicht sich über die Stirn. Die Frage passte nicht in ihren eigenen Gedankengang. „Knapp daneben“, sagt Gustav und lacht: „Nach der jüngsten Volkszählung vom 1.12.1910 sind es 64.926 Millionen. Aber zu deiner Beruhigung, ich hätte es auch nicht gewusst.“

      „Noch eine Frage, schon schwieriger: Wie viele Schachtanlagen sind gegenwärtig im Ruhrgebiet in Betrieb?“ Hermine lächelt Gustav an: „Du wirst es mir sicher gleich sagen. Ich könnte sagen drei oder dreitausend. Keine Ahnung.“

      „Hatte ich auch nicht“, entgegnet Gustav. „Aber ich hätte mir auch nicht vorgestellt, dass es 174 sind mit 353.347 Beschäftigten und dass dort jährlich 89 Millionen Tonnen Steinkohle pro Jahr gefördert werden. Da bekommt man einen Begriff, wie wichtig das Ruhrgebiet für unsere Volkswirtschaft ist. Hab ich, ehrlich gesagt, nicht gewusst.“

      Bei seiner Post liegt ein Brief seines Freundes Otto, mit dem er gemeinsam die Ausbildung zum Fliesenleger erfolgreich durchlaufen hat. Vor einem Jahr verzog Otto nach Breslau, um in einem anderen Betrieb Neues hinzuzulernen und voranzukommen.

      „Ich kann nur sagen, komm her. Breslau hat sich gelohnt“, schreibt er. „Die Stadt begeistert mich: Die Oder, der Dom, das Schloss, das tolle Rathaus. Dann die Möglichkeiten nach Feierabend: Kino, Theater, urige Kneipen. Unser Sohn ist im Turnverein, das Mädchen in einer Flötengruppe. Ihnen gefällt’s. Das Beste: Ich verdiene mehr als zuvor und kann den kleinen Wohlstand bezahlen. Wie wär’s mit Dir und Deiner Familie?“

      Gustav und Hermine erwogen seit längerem, eine geräumigere Wohnung zu mieten. Ilse brauchte mit ihren vier Jahren ein eigenes Schlafzimmer anstelle ihres Bettes im Schlafzimmer der Eltern. Gustav hatte mit seinem gegenwärtigen Chef über mehr Lohn verhandelt. Seine beachtliche Berufserfahrung als Geselle und Meister hatten ihren Wert. Das wusste sein Chef, konnte ihn jedoch nicht höher entlohnen. So empfand Gustav die momentanen Verhältnisse für sich und seine Familie als Sackgasse.

      Da sie ohnedies umziehen mussten, konnte auch der Ort ein anderer sein, befand Gustav. Ein Umzug in die schlesische Hauptstadt mit ihren 600.000 Einwohnern hatte auch für Hermine ihren Charme.

      Im Jahre 1911 siedelte die Familie in die Breslauer Stadtmitte über in eine Wohnung mit drei Schlafzimmern und einer großen Wohnküche. Gustav machte schnell eine neue Anstellung bei der Baustofffirma Walter ausfindig als rechte Hand des Chefs, befugt zu planen, zu kalkulieren, einzukaufen und auszuliefern. Dank schneller Auffassungsgabe, dem guten Blick für das Wesentliche und seiner offenen, einnehmenden Wesensart wurde er bald ein unentbehrlicher Mitarbeiter, angesehen bei Kollegen und Kunden. Er fühlte sich in seinem neuen Wirkungsfeld wohl. Er lernte, wie eine Firma zu führen sei und sah, was ein Handwerker, einmal selbständig, wirtschaftlich erreichen konnte. So keimte sein Traum: Eine eigene Baustoffhandlung. Diesen Traum vergrub er einstweilig in seinem Herzen. Seine Familie sollte sich zunächst in Ruhe hier einleben können und nicht durch neuerliche Pläne verunsichert werden.

      Arthur besuchte die Oberrealschule; Paul das zweite Jahr der Volksschule. Beide kamen gut voran und hatten Freude am Lernen.

      Ilse mit ihren fünf Jahren schlenderte mit der Mutter zuweilen die nach und nach aufgespürten reizvollen Wege entlang: Am Ufer der Oder, zur Dom-Insel, der Sandinsel, vorbei am Rathaus, und von dort an den Markttagen zu den zahlreichen vielfarbigen Ständen mit karminrot und flaschengrün gestreiften Herrenhuter Äpfeln, südländischen Orangen und Bananen, staksigen, mit Bindfäden zusammengehaltenen Bündeln von Schwarzwurzeln, glänzenden weiß-lila Wasserrübchen, hohen Gläsern mit Salzgurken aus dem Spreewald und grünlich-weißen Senfgurken, leuchtenden Geranien, Petunien in ihren hauchzarten Violett-Tönen und Eimern mit teuren langstieligen Edelrosen. Ilse mit ihren blonden Riesellöckchen, dem langen, gebauschten hellrosa Kleid mit breitem, weinroten Taftgürtel und weißem Schuten-Hütchen passte in diese Farbsinfonie. Sie bat Hermine, ein hellblaues Vergissmeinnicht-Sträußchen, das sie besonders entzückte, kaufen zu dürfen und für den Vater mitzunehmen.

      In einem kleinen Straßen-Cafe mit roter Pergola, umrahmt von Kästen voller rosa und weißer Hängegeranien, pausierten sie und ließen sich in kleinen mit Kissen ausgestatteten Korbsesseln nieder. Ilse, die kurzen Beine in der Luft hängend, schaukelte zufrieden mit ihren in schwarzen Lack-Schnallen-Schuhen steckenden Füßen. Hermine genoss den sonnigen und warmen Frühlingstag mit ihrem Mädchen, schlürfte ihre Tasse Bohnenkaffee, Ilse einen Gerstenkaffee. Sie bewunderten die Hausfronten mit ihren fantasievollen Giebeln, mal gestuft, dann in weichen Bögen ansteigend, in sanfter Rundung oder spitz endend, alle mit gediegenem Geschmack erdacht und ausgeführt. Dazu die vielfach unterteilten Fenster mit naturweiß gestrichenen Rahmen sowie die Pastelltöne der Häuserfronten, zart wie mit Aquarellfarben getuscht. Am nahen Rathaus bewunderten sie das dunkelrote, weinrankenartig verflochtene Muster des Hauptgiebels auf hellem Untergrund, verschlungen wie eine nach oben ansteigende Stickerei, in fünf Bögen beginnend und in einer kugeligen Spitze endend.

      Ilse liebte besonders ein Handarbeitsgeschäft am Marktplatz mit gestickten Decken, gehäkelten Westen, gestrickten Pullovern im Fenster und all den herrlichen dazu gehörigen Garnen und Materialien. Hermine kaufte Ilse ein naturfarbiges Baumwoll-Deckchen


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