Unterm Fallbeil. Horst Bosetzky
Als er dann auf die Straße trat, war sie in einer Gasse verschwunden, die den komischen Namen Im Krummen trug. Er zögerte einen Augenblick, ehe er sich auf den Weg zum Güterbahnhof Findorff machte. Grete Meyerdierks wohnte am Sielwall, und es war zu Fuß ein ganzes Stück. Mit der Straßenbahn zu fahren, wagte er nicht.
Einige Stadtteile Bremens waren ein großes Trümmerfeld, denn seit dem 18. Mai 1940 gab es schwere Luftangriffe der Royal Air Force und der United States Air Force. Sie galten den Werften, auf denen Kriegsschiffe produziert wurden, und den Flugzeugfabriken. Aber bei großflächigen Bombardements wurden auch ganze Wohnviertel in Schutt und Asche gelegt wie etwa die Ostertorvorstadt. Am Pfingstsonntag 1943 hatte es 238 Tote gegeben, am 26. November 1943 sogar 270 Tote – und das bei Tagesangriffen.
Einen solchen fürchtete Eberhard Bethge auch an diesem Vormittag. Aus diesem Grund zögerte er und überlegte, wo es ihn eher treffen konnte: wenn er quer durch die Innenstadt Richtung Hauptbahnhof ging oder aber außen herum an der Weser entlang? Und wo war es weniger wahrscheinlich, dass er einer der Feldjägerstreifen in die Arme lief? Er konnte diese Fragen nicht wirklich beantworten, also folgte er seinem Gefühl und wandte sich zum Fluss. Nach wenigen hundert Metern hatte er den Osterdeich erreicht. Am anderen Ufer erstreckte sich ein ausgedehntes Laubengelände. Einen Augenblick dachte er daran, irgendwie über die Weser zu setzen und sich da drüben zu verstecken, verwarf aber diesen Gedanken sofort wieder, denn zum einen wohnten auch jetzt im Winter viele der Ausgebombten dort in ihren Häuschen, und zum anderen hatte er keine Chance, sich etwas zu essen zu besorgen. Nein, es gab nur eine Möglichkeit für ihn: das geheime Versteck im Keller seines Bruders Thomas in Mahlsdorf. Doch bis nach Berlin waren es vierhundert Kilometer. Diese Strecke Ende Februar zu Fuß zurückzulegen erschien ihm unmöglich, zumal er die Landstraßen meiden musste. Er war nicht dafür gemacht, durch die Wälder zu streifen und in Heuschobern zu übernachten. Also blieb ihm nur die Bahn. Doch wegen der andauernden Kontrollen konnte er keine Personenzüge nehmen, sondern musste auf die Güterzüge ausweichen. Da setzte er auf die vielen alten Waggons, die wegen des Krieges bei der Reichsbahn noch immer im Einsatz waren und zum Teil noch technisch längst überflüssige Bremserhäuschen hatten. In ein solches konnte er schnell hineinklettern und sich verstecken. Mit seiner Eisenbahneruniform würde er auf den Güterbahnhöfen kein Aufsehen erregen, und sprach ihn jemand an, würde er etwas von einem Geheimauftrag murmeln.
Auf dem Osterdeich war es ihm zu dieser frühen Morgenstunde zu einsam, da fiel er auf, also entschloss er sich, doch durch die Innenstadt zu laufen. Von Grete wusste er, dass der Weg zur Bahntrasse einfach war und er sich nicht verlaufen konnte: den Sielwall hinauf bis zum Ostertorsteinweg und dann immer Am Dobben entlang.
Er gab den Eisenbahner, der es eilig hatte, um pünktlich zum Dienst zu erscheinen, und niemand nahm Notiz von ihm. Das machte ihm Mut, und als er am Ende des Dobben in einiger Entfernung das Postamt sah, spielte er einen Augenblick mit dem Gedanken, hineinzugehen und sich mit seinem Bruder oder seiner Schwester verbinden zu lassen. Er musste unbedingt wissen, wie es ihnen ging. Doch nach ein paar Schritten stoppte er wieder. Nein, das war zu gefährlich, denn bei der Post musste er ihre Namen nennen, und womöglich standen sie schon auf einer Fahndungsliste, denn es war anzunehmen, dass die Gestapo bei Deserteuren alle Angehörigen streng überwachen ließ.
Rechts von ihm rollten die Züge auf einer eisernen Brücke über die Straße hinweg, und aus ihrer geringen Geschwindigkeit schloss er, dass der Hauptbahnhof nicht mehr weit entfernt sein konnte. Und gleich hinter der Bahnhofshalle sollte, so war es ihm beschrieben worden, der Güterbahnhof liegen. Er hatte Gretes Stimme im Ohr: «Du gehst unter der Bahn hindurch und dann nach links. Dort siehst du dann die Bürgerweide, und da ist es auch schon.»
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