Grenzgänge. Jan Eik
Zeit die Tür und ein gutgekleideter, beinahe athletisch wirkender Beamter mittleren Alters musterte sie aus müden Augen. «Na, dann kommen Sie mal rein!», forderte er sie auf. Seine Lustlosigkeit schien mit Händen greifbar. Am besten machte sie es kurz und erklärte alles zu einem Missverständnis, bevor es wieder um ihre Personalien ging. Für eine Flucht, an die sie seit ihrem Besuch auf dem Revier gedacht hatte, war es allemal zu spät. Bei jedem Versuch davonzulaufen würde ihr Herz sich überschlagen. Auf einer Polizeidienststelle in West-Berlin versterben – das war das Letzte, was sie Max antun wollte.
Drinnen stellte sich ihr Gegenüber als Oberkommissar Kappe vor, und sie sagte ohne nachzudenken: «Charlotte Weidner.»
Nun war es heraus und konnte nur noch schlimmer werden. Der Oberkommissar achtete nicht darauf. Vielleicht war ihm der Name Menzel vom Revier nicht übermittelt worden. Charlotte beruhigte sich selbst. Von diesem Herrn Kappe ging eine Ruhe aus, die wohl nicht nur auf seine Müdigkeit zurückzuführen war.
Er hörte sich die Kurzfassung ihrer Geschichte an, ohne Fragen zu stellen oder Notizen zu machen. «Wundtstraße, gleich um die Ecke vom Horstweg?», vergewisserte er sich schließlich.
Sie bestätigte es.
«Ihre Tochter könnte verreist sein, ins Ausland möglicherweise», gab er zu bedenken.
«Das hätte sie mir vorher mitgeteilt. Oder wenigstens eine Ansichtskarte geschickt, selbst aus Paris oder sonst woher.»
Er nickte bedächtig. «Wie lange braucht die Post wohl von Paris nach Ost-Berlin?», fragte er mehr sich selbst als sie.
Paris! Wie fremd das für Charlotte klang. Eine Karte von dort ins Städtchen – jemand würde die wohl vor ihr lesen und sie nicht der Empfängerin, sondern seiner Dienststelle weiterreichen. Aber Elke kannte diese Gepflogenheiten. So unvorsichtig würde sie niemals sein. Post nach Niederschönhausen gab sie stets im demokratischen Sektor auf. «Wahrscheinlich haben Sie recht», sagte Charlotte resignierend. Sie fühlte sich plötzlich sehr hilflos und hatte nur noch einen Gedanken: Weg hier, bevor noch mehr Porzellan zu Bruch geht!
Herr Kappe jedoch schien erst am Anfang. «Ihre Tochter ist Studentin», stellte er fest. «Eigentlich ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass sie mitten im Semester eine längere Reise unternimmt. Und welchen Grund hat dieser Herr Losinski, den Unwissenden zu spielen? Dem könnte man nachgehen. Allerdings sind wir in dieser Abteilung ausschließlich für Tötungsverbrechen zuständig.»
Ein eisiger Schmerz durchfuhr Charlotte. Fahl und schwer atmend schloss sie die Augen und sank in sich zusammen. Erst das Glas Wasser, das ihr der Oberkommissar reichte, brachte sie in die Gegenwart zurück.
«Ich wollte damit nur ausdrücken, dass für Ihren Fall andere Kollegen zuständig sind – und hoffentlich auch bleiben.» Er lächelte Charlotte aufmunternd zu und nahm ihr das Glas aus der Hand.
«Ich verstehe», sagte sie leise. Es klang hoffnungslos.
Er blieb freundlich. «Da Sie nun einmal bei uns gelandet sind, werden wir trotzdem nachforschen, wo Ihre Tochter abgeblieben sein könnte. Wir verfügen sicher über bessere Möglichkeiten als Sie.» Er ließ sich wieder hinter seinem Schreibtisch nieder. «Also gehen wir die Sache noch einmal Punkt für Punkt durch. Elke Menzel, geboren am?»
«Am 28. November 1933», antwortete Charlotte mit schwacher Stimme.
«In Berlin?»
Nun kommt es raus, dachte sie. Doch es half ja nichts. «In Moskau», sagte sie, um Festigkeit in ihrer Stimme bemüht.
Der Oberkommissar sah auf und blickte sie an. «In Moskau!», sagte er mit einer gewissen Betonung und schrieb es auf.
FÜNF
WER IN BERLIN Jazz hören wollte, der ging in die «Badewanne», wo das Rediske Quintett modernen Cool darbot, oder er fuhr zum Dixieland mit den Spree City Stompers in die «Eierschale»am Breitenbachplatz. Im «Landhaus Dahlem» spielten die Salty Dogs mit ihrem Starschlagzeuger Baby Ko, und selbst im «Haus Berlin» an der Ost-Berliner Stalinallee jamten jeden Dienstag Musikanten aus Ost und West. Als Geheimtipp galt das «Studio 22» am Stuttgarter Platz. Der Gitarrist Coco Schumann, der das KZ überlebt hatte, war hier zu Hause. Im «Studio 22» trafen sich allwöchentlich die Musiker der modernen Richtungen zur Jam Session.
Peter Kappe, der sich nach unbefriedigenden Skiffle-Übungen auf dem Banjo seit einiger Zeit auf der Gitarre versuchte, hatte schon einige Abende im «Studio 22» verbracht. Bequemer und billiger war die Art Musik, die er mochte, kaum zu haben. Eintrittsgeld wurde nicht verlangt, und nach Hause waren es nur ein paar hundert Meter. Die Hoffnung, bei der Gelegenheit mal eine Mieze mit gleichen Interessen aufzureißen, hatte sich bisher nicht erfüllt. Das «Studio»war früher eine gewöhnliche Charlottenburger Eckkneipe gewesen und machte daraus auch keinen Hehl. Wahrscheinlich verzogen die Mädchen aus seiner Klasse deshalb das Gesicht, wenn er eines von ihnen aufforderte, ihn hierher zu begleiten. Es waren eben nur stumpfe Schrammen, zu Peters Bedauern. Die schwärmten für «Schlager der Woche» oder für dürftigen Rock ’n’ Roll und Elvis, dessen Verrenkungen Peter abschreckend fand. Das war alles nur nachgemachter schwarzer Rhythm and Blues, wie er wusste. Sein augenblickliches Gitarrenidol hieß Barney Kessel. In dessen Stil versuchte gerade ein plumper Bursche mit Ami-Bürste, auf dem kleinen Podium Melodielinien nachzuspielen, die Peter bekannt vorkamen.
«Dave Brubeck», sagte der Wortführer der beiden Burschen, an deren Tisch Peter Kappe einen Platz gefunden hatte.
Ihnen gegenüber saß ein Pärchen. Sie bot einen angenehmen Anblick, ihr Macker mochte schon um die dreißig sein. Er nickte bestätigend. «Klingt aber eher wie Eddie Condon.»
Bis auf die junge Frau lachten alle. Es war nicht schwer zu erkennen, dass der Gitarrist sich ebenso dilettantisch wie vergeblich bemühte, Brubecks rhapsodische Pianoläufe auf der Gitarre nachzufingern. Der Vergleich mit dem trunksüchtigen Dixieländer Condon war boshaft, aber nicht unpassend.
Der Macker und der Brubeck-Kenner, der vermutlich nicht viel älter war als Peter, gerieten sofort in eine Diskussion darüber, ob Brubeck überhaupt noch zum Jazz gehöre, wobei der Jüngling mit Kenntnissen und endgültigen Urteilen glänzte, die Peter beeindruckten. Clemens, wie ihn sein ansonsten eher schweigsamer Gefährte einmal ansprach, war ein großgewachsener Knabe mit dunkler Lockenpracht, der seine Ansichten gegenüber dem Älteren mit größter Selbstsicherheit vertrat. Dixieland sei eine tote Musik, deren Interpretation allenfalls Altmeistern wie Sidney Bechet oder Armstrong zustünde, und auch die hätten sich längst weiterentwickelt und spielten in Wahrheit Swing.
Das einzige weibliche Wesen am Tisch fühlte sich zu Recht vernachlässigt. Vermutlich fand sie das Gespräch genauso langweilig wie das Geschehen auf dem Podium, wo inzwischen ein Trio aus Bass, Schlagzeug und Altsaxophon zwirnsfadendünne Tonkaskaden abließ, die Clemens mit einem vernichtenden Urteil kommentierte. «Klingt wie eine verstimmte Trichtervioline. Ohne Piano geht so was gar nicht!», lautete sein abschließender Befund.
Sie blickte Peter an und lächelte, während ihr Begleiter sich mit Clemens über die harmonische Bedeutung des Klavierspiels im Jazz austauschte. Meinte die Ische wirklich ihn? Sie trug ihr blondes Haar zu einem Pferdeschwanz gebündelt und wirkte trotz ihrer spitzen Nase anziehend, besonders wenn sie lächelte. Peter schätzte sie auf Mitte zwanzig.
«Spielen Sie auch ein Instrument?», fragte sie ihn quer über den Tisch hinweg.
Peter nickte ein wenig gehemmt. «Gitarre», sagte er. «Aber ich bin noch ziemlich am Anfang.»
«Meine Mutter hat mich früher immer zum Klavierunterricht gezwungen», sagte sie und ließ ihre schlanken Finger auf der Tischplatte tanzen. «Schrecklich! Das hat mir die ganze Freude an der Musik verdorben.»
Ihren Scheich schien es nicht zu stören, dass sie sich anderweitig unterhielt. Clemens und er diskutierten über Erroll Garner und Oscar Peterson. Nur Clemens’ Gefährte, ein bebrilltes Jüngelchen mit nichtssagendem Gesicht, fühlte sich plötzlich angesprochen. «Ich spiele Trompete», sagte er selbstbewusst, wobei er die erste Silbe betonte. «So