Mitternachtsnotar. Bettina Kerwien

Mitternachtsnotar - Bettina Kerwien


Скачать книгу

       Ein Herz geht an Bord

       Keine Angst vorm Fliegen

       Frühstück im Mailicht

       Leichengift

       Der Fallschirm

       Milchbrötchengefühl

       Erdbeervergiftung

       Spiel mir das Lied vom Tod

       Der König der Welt

       Die innere Weisheit der Waltraud T.

       Ausgeschnitten

       Der Besuch der jungen Dame

       Nichts und wieder nichts

       Amour fou

       Kentuckys

       Eine Hand wäscht die andere

       Hasso

       Das Ebenbild Gottes

       Vom Himmel hoch, da komm ich her

       Schrei für mich

       Leben und Sterben in Berlin

       Handspiel

       Die Frau, die den Regen liebt

       Wir kommen in Ordnung

       Vom Mehrwert der Moral

       Gute Tage

       Danke

       Ebenfalls im Jaron Verlag erschienen

      Berlin-Tegel. In den Vorgärten der Kleinhaussiedlung riecht es nach Ofenheizung und schlesischem Apfelkuchen.

      Michael Waschke streckt seine Hand aus, in der er die nächste Kündigung hält. Sie ist erstaunlich ruhig. »Ich habe hier eine Zustellung für Sie.«

      Magda Rausch wischt sich die Hände an der Kittelschürze ab. Sie setzt die Lesebrille auf und öffnet den Umschlag mit ihren dicken, roten, runzligen Fingern. Der Himmel über der Siedlung verdunkelt sich. Ein verrotteter Fensterladen knarrt im Wind. »Heute werde ich 85«, sagt sie mit ihrer Kleinmädchenstimme, während sie das Blatt Papier entgegennimmt und auffaltet. »Es gibt Apfelkuchen.«

      Es gehört zu Michael Waschkes Pflichten, die Geburtstage aller Mieter zu kennen. Jedes Jahr an Weihnachten sitzt seine Frau mit den Kindern auf dem Schoß am Küchentisch und überträgt die Daten von einem Apothekenkalender in den nächsten.

      Magda Rauschs papierene Lider zucken. Die alten Augen darunter sind veilchenblau. »Den Apfelbaum hinterm Haus hat der Otto gepflanzt, als er aus der Gefangenschaft zurückgekommen ist.«

      »Bitte unterschreiben Sie hier«, sagt Waschke. Er meint seinen eigenen Opa zu sehen, wie er plötzlich vor der Tür steht, nach acht Jahren Sibirien. Die Oma hat es ihm erzählt. Das Zustellprotokoll in der Sache Rausch flattert nervös in seiner Hand.

      Magda Rausch zeigt Waschke ihre Goldzähne. »Nichts unterschreibe ich«, entgegnet sie. »Ich habe den Krieg und die Hitlerei überlebt. Ich habe die Mauer und die Blockade überlebt. Ich habe Otto überlebt. Ich werde auch das hier überleben.«

      »Das tut mir wirklich leid.« Waschkes Stimme ist ihm tief in die Kehle gerutscht. »Die Häuser werden saniert, wissen Sie. Kamin, Swimmingpool, Wintergarten.«

      »Deshalb können Sie mir kündigen?«

      Waschke kann ihr nicht ins Gesicht sehen. »Nein, die Gesellschaft kündigt Ihnen, weil Ihr Garten vollkommen verwildert ist.«

      Magda Rausch spuckt vor ihm aus. »Wissen Sie«, sagt sie, »Sie werde ich auch noch überleben.« Sie schlägt ein Kreuz.

      Die Welt dreht sich plötzlich nicht mehr, und Michael Waschke sieht eine veilchenblaue Träne in Extremzeitlupe fallen. In der Träne spiegeln sich die Fassaden der idyllischen Kleinhaussiedlung. Steuern sparen mit Denkmalschutz-Immobilien in Bestlage, hört Waschke seinen Chef siegesgewiss schmettern. Und als die Träne neben den Krokussen auf den Plattenweg klatscht, gerät etwas in Michael Waschke ins Schlingern.

      Er sagt noch einmal, dass es ihm leidtue, mehr zu sich selbst, und vielleicht geht es ihm auch mehr um sich selbst als um Frau Rausch. Dann macht er sich davon, geht über das Kopfsteinpflaster und zwischen den Forsythien hindurch. Das Laufen fällt ihm schwer, es ist ihm nie zuvor schwergefallen. Michael Waschke schleppt sich an den Vorgärten vorbei zu seiner Hausmeisterwohnung, wie ein alter Mann. Er staunt. Wie verwundbar er doch ist.

      Martin Sanders’ zukünftige Detektei ist klein und dreckig. Der Warteraum riecht nach nassem Hund. Als er die Glastür zum Büroraum öffnet, schlägt die Jalousie gegen die Scheibe. Im Gegenlicht wirbelt ein funkelnder Staubschleier hoch und legt sich auf sein Gesicht. Plötzlich schmeckt die Luft nach schon lange verstorbenen Hausstaubmilben.

      Sanders fährt sich über die Augen. Vielleicht, dass eine unsichtbare Macht irgendwo im Himmel über Moabit ihn in diesem Moment mit einem Fluch belegt hat. Falls es über Moabit einen Himmel gibt.

      Sein zukünftiger Vermieter, ein original Berliner Schlitzohr namens Pawel Krawczyk, hat Sanders die beiden winzigen Räume im ersten Stock als seine neue »Hauptstadtrepräsentanz« verkaufen wollen – immerhin augenzwinkernd. Denn hier in dieser Ecke hat Berlin so viel Klasse wie El Arenal, ist so sicher wie Mexico City und so ruhig wie der Große Bazar von Istanbul, wenn man sich noch zwei Millionen Automatencasinos hinzudenkt.

      Bemerkenswert ist auch diese schlafwandlerische berlinische Stilsicherheit. Die Vormieterin des Büros hat die Wände mit Latexfarbe gestrichen, in einem hypnotischen Mauve.


Скачать книгу