Mitternachtsnotar. Bettina Kerwien

Mitternachtsnotar - Bettina Kerwien


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Vibrationsalarm seines Smartphones trifft ihn in die Brust wie ein Stromschlag aus einer Elektroimpulswaffe. Die Nerven. Sanders fischt das Telefon aus der Innentasche seiner Jacke. Seine Hände zittern. Er kennt die Nummer nicht.

      »Hier auch Sanders«, sagt die glatte, eloquente Stimme eines einflussreichen Dahlemer Rechtsanwalts.

      »Vater.« Sanders muss sich kurz am Schreibtisch festhalten. Er hat die Stimme seines alten Herrn eine Weile nicht gehört und hätte es gern dabei belassen. »Was kann ich für dich tun?«

      Der Vater gibt ein Geräusch des Bedauerns von sich, aber vielleicht bildet Martin Sanders sich das auch nur ein. Zu viel Schicksal kann einen Mann romantisch und wehleidig machen.

      »Du weißt, dass ich sehr viele Verpflichtungen habe«, beginnt der Vater. »Ich möchte, dass du zu mir in die Kanzlei kommst. Es ist wirklich dringend.«

      »Dringend? Um das zu entscheiden, bräuchte ich mehr Informationen.«

      Sanders senior lacht. »Ich bin dein Vater, Junge. Kein Klient. Das hier ist eine wirklich delikate Angelegenheit. Nichts, was ich dir am Telefon erklären kann. Du hast deinen letzten Fall doch abgeschlossen?«

      Sanders hat seit vier Wochen keinen neuen Fall mehr, weil sein Hauptauftraggeber in der JVA Moabit sitzt. »Es gehört zu den reizenden Seiten meines Berufs, dass kein Fall jemals vollständig abgeschlossen ist«, sagt er trotzdem.

      »Verschwenden wir unsere Zeit nicht mit Small Talk. Morgen um neun? Und bitte sei pünktlich, ich habe einen Anschlusstermin im Kanzleramt.«

      Ein guter Detektiv darf sich niemals von den Gefühlen seiner Klienten infizieren lassen. Sanders betrachtet das schwarze Handydisplay. Er wischt die eigenen Fingerabdrücke mit einem frischen Taschentuch weg. Eine halbe Stunde hat er das neue Büro, und schon ist der Papierkorb voller Taschentücher. Er denkt an die klassische Büroflasche, von der man so oft hört. Aber Alkohol hilft nicht gegen zu viel Schicksal – im Gegenteil.

      Immerhin ist der Villenvorort Berlin-Dahlem, in dem sein Vater residiert, im Frühling einen Ausflug wert. Reetdachhäuser und blühende Rosenbögen, die die Überwachungskameras verdecken. Außerdem kommt Sanders auf die Art mal wieder an die frische Luft. Und das ist ja, von Berlin-Moabit aus betrachtet, ein Wert an sich.

      Im Dunkeln berührt mich etwas. Es ist glatt und klebrig. Ich lieg im Bett und hab eine Flasche im Arm. Das passiert vielen Frauen, aber bei mir ist es eine Flasche Eierlikör. Was für ein Ausrutscher. Zugegeben, das kann sich nur jemand wie ich leisten, dessen Leben in den letzten Monaten ein einziger Exzess der Nichtigkeit gewesen ist. Zu viel gearbeitet – die Ausrede ist auch nicht neu.

      Warum bin ich eigentlich wach? Weil das Handy klingelt. Wo ist es? Keine Ahnung. Ich streck mich, meine Knie tun weh von den High Heels. Ich bin 31, ich bin zu alt für diesen Zirkus. Aber ich trag noch immer das Parfüm, das ich letztes Jahr im Duty Free aufm Flughafen Singapur gekauft habe. Guter Stoff. Er flüstert den ganzen Abend: Baby, ich gehör nur dir! Eine Menge Kerle glauben das. Weil sie es glauben wollen. Und sie zahlen cash. Denn ich bin eine Ex-Stewardess mit Escortjob-Problemen.

      Problem Nummer eins: Ich brauch die Kohle. Dringend. Also schweb ich elegant und stilsicher von Termin zu Termin, dabei immer – lyrisch gesprochen – auf der Flucht vor mir selbst. Ich versuch wie verrückt, eine bestimmte Telefonnummer zu vergessen. Da hilft es ungemein, wenn man jeden Abend ausgeht.

      Problem Nummer zwei: Escort heißt bei mir Escort – ich bin eine Gesellschaftsdame. Na ja, Dame ist vielleicht zu viel gesagt. Jedenfalls essen gehen, küssen vielleicht, aber dann ist auch fini. Oft genug sind meine Kunden Jedermänner mit Knallchargenpathos, die mich schon während der Vorsuppe nach einem Blowjob fragen und aus denen ich, wenn ich männerfeindlich veranlagt wäre, gern noch bei Tisch sechs Sorten Scheiße herausprügeln würde. Aber für ein paar Hunnis am Abend hat man über die Fürsorgepflicht hinaus auch gewisse Erziehungsaufgaben.

      Das Handy klingelt noch immer. Berlin ist unberechenbar – von wegen. Man muss nur das Unmögliche einkalkulieren, dann hat man Berlin ausgecheckt. Und das Unmögliche bin ich. Oder vielmehr, es ist in mir drin. Ich überrasch mich jedenfalls selbst damit, dass ich das Telefon aus dem Chaos auf dem Nachttisch hervorkram und kristallklar sag: »Liberty Vale.«

      »Ich rufe dich nicht freiwillig an«, sagt eine Mädchenstimme.

      Wanja, meine anadoptierte Schwester. Sie ist vierzehn, meine Mutter hat sie aus einem rumänischen Kinderheim gerettet. Da war sie fünf Jahre alt. Wanja ist unsere Familienprinzessin, und sie ist so angenehm wie eine Stielwarzenvereisung. Also sag ich erst mal nichts. Ich setz mich auf. Mein Gehirn schwankt wie ein Leichtmatrose.

      »Willst du uns eigentlich komplett blamieren?«

      Ich bin siebzehn Jahre älter als Wanja, aber sie ist immer sehr streng mit mir.

      »Denkst du auch mal an uns? Familienehre und so?«

      »Das machst du doch schon.« Ich komm langsam in Schwung. »Arbeitsteilung.«

      »Arbeit?« Wanja kriegt sich nicht mehr ein. »Seit du letztes Jahr Weihnachten deinen Stewardessjob gekündigt hast, weißt du doch gar nicht mehr, was das ist, du Nacktschnecke!«

      Ich drück die Eierlikörflasche noch ein bisschen fester an mich. Escortmodel, da denkt man immer: Wenig Aufwand, viel Geld. Jedenfalls haben sich meiner Mutter und ihrem zweiten Mann, der für eine wertkonservative Partei im Deutschen Bundestag sitzt, vor Peinlichkeit je ein hübsches Gehänge Hämorrhoiden ausgestülpt. Sicher rutschen sie deshalb immer so seltsam auf den Stühlen herum, wenn ich ihnen in die Augen seh.

      »Ich hab nicht gekündigt«, klär ich Wanja auf, »sondern kurz vorm Take-off die Notrutsche einer 747 ausgelöst. Mach das erst mal nach, Prinzessin.«

      »Du bist einfach komplett durchgeknallt.«

      »Das war Notwehr.« Ich weiß gar nicht, warum ich mich verteidige. Wahrscheinlich Restalkohol. »Und ein Akt weiblicher Selbstbestimmung. Dieser Harry Konig …«

      »Immerhin ein Schauspieler, der den Oscar gewonnen hat.«

      »Dieser versoffene Drecksack wollte mich begrapschen. Dann hat er mir die ganze Erste Klasse vollgepisst. Mit Absicht.«

      Ich hör Wanja mit der Zunge schnalzen, so ein südosteuropäisches Laisser-passer-Geräusch.

      »Na gut«, geb ich zu, »vielleicht war ich etwas mit den Nerven runter. Jedenfalls konnte ich nichts mehr von dem einstecken, was der Typ ausgeteilt hat.«

      »Wenn dir das wichtiger ist als das Bild, das unsere Familie in der Öffentlichkeit abgibt.«

      »Konig wollte mich fertigmachen. Ich musste da raus. Das war ich mir einfach schuldig.« Ich krieg kalte Füße. Im Dunkeln angle ich nach meinen Socken.

      »Kapier doch mal, ich hör mir das jeden Tag in der Schule an!«

      Die Hormone. Wanja weiß nicht nur alles, sie findet auch alles peinlich. »Chill einfach, Prinzessin.«

      »Mama hat sich so vor den Nachbarn geschämt.« Wanjas Stimme bebt auf einmal vor Gefühligkeit. »Und falls du jetzt darauf spekulierst, dass Papa dir die zweihunderttausend Euro Schadenersatz gibt, auf die dich die Airline verklagt hat – wir haben das im Familienrat diskutiert, das kannst du dir abschminken!«

      »Bevor ich von Horst Geld annehm, verkauf ich lieber meine Organe.«

      Wanja lacht böse. »Warum versuchst du’s nicht gleich als Leihmutter? Ist doch wie dein jetziger Job, nur konsequent weitergedacht.«

      Sie hat gewonnen. Ich kann das zugeben. »Du wirst mir wirklich immer ähnlicher, Prinzessin. Warum rufst du an?«

      »Na ja.« Sie tönt ihre Stimme ab, à la Schauspielschule. »Ich wollte nur Bescheid sagen. Wahrscheinlich wirst du dich bald eh nicht mehr über mich ärgern müssen.«

      »Ach herrje!«

      »Nächste Woche


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