Mitternachtsnotar. Bettina Kerwien

Mitternachtsnotar - Bettina Kerwien


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ja, sie kann fahren, sie hätte üben können, aber dann ist er plötzlich da: der Abend des vielzuvielsten Tages.

      Veronika Sanders erscheint ihrem Sohn in der dunkelgrauen Schleiflacktäfelung der Bibliothek wie die Weiße Frau. Es riecht nach Pronto und Pelargonien, zu ihren Flamingolippen trägt die Mutter einen beigen Yves-Saint-Laurent-Anzug und goldene Schuhe. Ihre Wimpern flattern wie schwarze Schmetterlinge, ihre vanilleblonden Locken fallen über die Nadelstreifen wie Softeis, so wie es sein soll, eine Mischung aus Paris Match und Die Moderne Hausfrau. Aber der dunkle Schleiflackspiegel zeigt die wahre Veronika, eine verlorene, schreckliche Königin mit schwarzen Adern unter der Pergamenthaut. Sie hat zu viel gelesen, sie stellt das Buch zurück, es ist das Buch des Vaters: Obscurum per Obscurius, ein Zauberbuch, das Veronika unsichtbar macht. Die Mutter wischt mit dem Jackenärmel die Fingerabdrücke vom Regal, zum letzten Mal. Ordnung ist dem Vater wichtig, auch hier in der Bibliothek, einem kalten Nierentischraum, der auf den Garten hinausgeht. Dort blühen rechter Hand die Fliederbüsche des Vaters und linker Hand die Forsythien des Vaters, dahinter färbt das Abendrot den Horizont, der niemandem gehört – niemandem oder allen, auch Martin Sanders’ Mutter. Er glaubt, dass sie den Horizont wiederhaben wollte an diesem Tag, sie wird ihn sich nehmen, ihre Haut soll wieder dick sein, sie soll wieder sichtbar werden.

      Veronika Sanders hat Martins Zwillingsbruder Philip, seiner Schwester Rebecca und ihm vor dem Abendbrot Tabletten gegeben. Vitamine sollen das gewesen sein. Der neunjährige Junge weiß nicht genau, was Vitamine sind, aber er kann noch immer die Stille fühlen, mit der sein Bruder neben ihm schläft.

      Martin selbst ist so übel, dass er sich erbrechen muss. Er holt sich ein Glas Wasser. Die Wasseroberfläche zittert, als er auf der Suche nach seiner Mutter die Flügeltüren der Bibliothek öffnet.

      Alles hier gehört dem Vater, der Flieder im Garten, die Vanillelocken der Mutter, sogar ihre Stimme, mit der sie so beruhigend gurrt: »Sei ganz ruhig, Liebling. Es wird alles gut werden. Ich trage dich ins Auto, und dann fahren wir zum Arzt.«

      »Ich hab Angst, Mama.« Martins Stimme schwindet, er weiß instinktiv, dass etwas falsch ist. »Ich will nicht zum Arzt, morgen ist …«

      Die Frage, was morgen sein wird, verfliegt, als seine Mutter den Autoschlüssel vom Dielenschrank nimmt. »Alles wird gut.«

      Martin wird hochgehoben, seine Mutter stößt die Tür zur Garage mit dem Knie auf, schnallt ihn auf dem Vordersitz des Wagens an. »Du brauchst keine Angst zu haben«, flüstert sie. »Nie wieder.« Martin ist sich sicher, das ist die Wahrheit. Seine Mutter holt Philip und Rebecca, und dann: nie wieder Angst. Philip schläft so tief, dass er auch nicht aufwacht, als die Mutter ihn neben Rebecca auf dem Rücksitz anschnallt.

      »Wir fahren zum Arzt«, flüstert Veronika Martin zu. Warum nehmen sie kein Taxi?, wundert sich sein benommenes Selbst. Er ist ein schmales Kind, kaum groß genug für den Anschnallgurt. Seine Mutter setzt sich unbeholfen hinter das Steuer, sie stößt den Schlüssel ins Schloss. Der Wagen springt an. Sie muss vom Schaltknüppel ablesen, wo der Rückwärtsgang ist. Ihre goldenen Pumps verhaken sich in den Pedalen. Der Wagen jault und springt rückwärts. In der Frontscheibe sieht Martin Wunderkerzenfunken, die Helligkeit hüllt den Wagen ein wie das Licht, das Sterbende sehen. Die Garage wird zum Lichttunnel, seine Mutter fährt den Wagen durch eine Waschstraße voller Licht gegen das geschlossene Garagentor. An den Scheiben läuft Feuer ab, der Wagen wird mit Feuer gewaschen, die Flammen brüllen mit Kinderstimmen, wollen Martin mit Raubtierzungen die Kindheit von der Haut lecken.

      Er weiß plötzlich, niemand wird ihm helfen außer er sich selbst. Seine Autotür kann er öffnen, die hinteren Türen blockiert ein umgestürztes Regal. Er schreit seine Schwester Rebecca an, sie soll ihm helfen. Aber sie kann kaum die Augen offenhalten, sein Entsetzen ist ihr egal. Philip hängt reglos im Anschnallgurt, Martins Ebenbild, bezaubernd friedvoll in seiner Todgeweihtheit. Martin versteht nur, dass es vorbei ist. Er muss die restliche Kraft in seinem kleinen tauben Körper in die Mutter investieren. Sie schreit, aber sie wehrt sich nur wenig. Er zerrt sie aus dem Wagen, hinter sich her zurück ins Haus.

      Diese Müdigkeit. Er schafft es nicht, gleichzeitig die Mutter festzuhalten und die Feuerwehr zu rufen. Die Nachbarn tun das irgendwann, viel zu spät natürlich, die Garage brennt schon lichterloh.

      Immer zu spät. Sanders fährt hoch, seine Brust ist schweißnass, seine Hände haben sich um das Lenkrad seines Wagens gekrallt, die Knöchel sind weiß.

      Jahrelang war Sanders nichts als ein halber Held. Er hat den falschen Menschen gerettet, die Täterin nämlich, die die Familie des Vaters zerstört hat. Jetzt ist er der letzte Sohn. Der Vater will sich an ihm trösten. Er muss ihm zu Willen sein, soll Rechtsanwalt werden und durch all die geöffneten Türen direkt ins gesellschaftliche Himmelreich marschieren. Aber Sanders hat das Tröstliche in der Selbstverleugnung nie gesehen. Die Schuldfrage hingegen hat ihn nie mehr losgelassen.

      Seine fliegenden Hände starten den Wagen. Er macht sich zu viele Gedanken. Um die Vergangenheit. Vor allem aber um eine Zukunft, die er womöglich gar nicht hat.

      Also rein in die Schuhe, Socken brauch ich nicht. Mantel ist linksrum. Auch egal, ich will ja nicht zur Modenschau. Unterlagen mitnehmen? Nur die Vorladung. Hab eh sonst nichts.

      Draußen ist es eigentlich zu kalt für meine Schlafanzughose. Kann sein, kann auch nicht sein, dass mich alle anstarren. Aber ich muss ja nur einmal über die Turmstraße. Der braun-grüne Altneubau an der Ottostraße ist nicht gerade ein Architekturdenkmal. Im Schaufenster der türkischen Fahrschule im Erdgeschoss sehe ich eine verwahrloste Schönheit zum Eingang huschen.

      Ich kenn das Haus gut. Sonst fahr ich immer in den dritten Stock. Das ist das Büro von Susis Escortagentur »Die Berlinerin«. Die Jobs, die mir dieses Etablissement vermittelt, haben mich im Leben wirklich weitergebracht. Danke, Susi. Ich frag mich, was du mit all den Provisionen gemacht hast, die ich dir schon erflirtet und erknutscht hab. Wenn du sie nicht für ein Kinderhospiz gestiftet hast, hol ich sie mir irgendwann wieder. Wenn ich nicht mehr ganz so fertig bin.

      Das Holz in einer Ecke der Fahrstuhlkabine ist feucht, es stinkt. Oder bin ich das etwa? Ich drück die Zwei: Doktor Selma Ehrlich, Rechtsanwältin. Mit dem Finger zieh ich nach, was jemand ins Tableau geritzt hat: Hurntöschta21. Luft anhalten, zweiter Stock. Der Gestank steigt nicht mit mir aus.

      Ich klingel. Es summt, die Tür springt auf. Dahinter alles schnieke, so weiß-glatter Designlook, softes Licht, Kunst. Ein Typ hinter dem Empfang. Dunkel, Haare lockig, zurückgegelt, weißes Hemd, offener Kragen. »Bitte?«, fragt er.

      »Guten Tag, Meista«, sag ich und zieh die Nase hoch. Damit hab ich seine volle Aufmerksamkeit. »Liberty Vale. Sorry, aber ich brauch jetzt mal eure Hilfe.« Der Junge hinterm Tresen ist so ein fragiler Orientbeau, vielleicht Mitte zwanzig, also ein paar Jährchen zu jung für mich. Trotzdem Ehering. Wie der mich anstarrt. Wenn der wüsste, wie flexibel ich bin. An bestimmten Körperstellen. »Bin ich jetzt Anwalts Liebling, Süßer?«, kumpel ich ihn an und knall schlitzohrig meine Versicherungskarte auf den Tresen.

      Der Mann kommt hinter dem Empfang hervor. Er riecht besser als der Fahrstuhl. Nimmt die Karte. Schiebt mich zu einer Sitzecke. »Kaffee?«, fragt er.

      »Wenn ihr nix anderes habt.«

      »Doch, aber das zahlt Ihre Rechtsschutz nicht.«

      Wenn der wüsste, was die noch alles nicht zahlt. Aber weiß er ja nicht. Er verschwindet, rumort rum. Ich zähl die Tapetenmuster, die schlingern so möbiusmäßig ineinander, ganz schlecht wird mir davon, dann ist der Hübsche wieder da. Der Kaffee ist klein, riecht aber klasse.

      »Kommen Sie«, sagt er. »Seltsamerweise will Doktor Ehrlich Sie gleich sehen.«

      Ich zwinker ihm zu und kipp den Kaffee runter.

      Selma kommt hinter einem total zugepackten Schreibtisch hervor. Auch auf dem Boden und auf dem Sofa stapeln sich Akten. Sie lacht, als sie meinen Blick sieht. »Das muss so«, sagt sie und umarmt mich ohne Zögern, »sonst denken die Mandanten noch, man hätte weiter nichts zu tun.«


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