Mitternachtsnotar. Bettina Kerwien

Mitternachtsnotar - Bettina Kerwien


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Man flüstert sich in den Reihen zu, er sei bei seinem letzten Arbeitgeber, einem Großkonzern, im Betriebsrat gewesen. Jetzt hat er fünf Minuten Redezeit.

      »Meine Damen und Herren«, sagt er, »die Sanierungsgesellschaft macht ihrem Namen keine Ehre. Sie lässt das Baudenkmal Am Rabennest seit Jahren verfallen, um damit die Luxusmodernisierungen zu begründen. Der Bezirk muss die Zerstörung der Substanz stoppen, die Baugenehmigungen für die Umbauten widerrufen. Die Bestandsmieter begrüßen den Antrag auf Prüfung eines möglichen Milieuschutzes und einer sozialen Erhaltung nach Paragraf 172 des Baugesetzbuches für die Siedlung. Damit können Sie die baulichen Maßnahmen unter einen Genehmigungsvorbehalt stellen, wenn eine ausreichende Verdrängungsgefahr für die aktuellen Mieter besteht.«

      Sanders bewundert Schrödters Eloquenz. Die rechte, konservative Seite der BVV fixiert ihn, als hätte sie ein Mordmotiv. Irgendetwas läuft hier unterschwellig. Begründen kann Sanders seine Vermutung nicht. Noch nicht. Und er glaubt auch nicht, dass sein Vater davon weiß. Aber Geld ist immer ein Motiv.

      »Werte BVV«, sagt Schrödter und beugt sich vor, »die Bestandsmieter haben ihr Leben lang hart gearbeitet, die Siedlung selbstständig instand gehalten und ihr ihren Charme gegeben. Sie haben es verdient, hier in Ruhe zu leben. Jetzt liegt es in Ihrer Verantwortung, dieses Grundrecht auf Würde mit allen Mitteln zu schützen. Lassen Sie nicht zu, dass Reinickendorf ausverkauft wird!«

      Klopfapplaus von links, aus den Reihen von Bündnis 90/​Die Grünen und der SPD-Fraktion. Einige Zuschauer pfeifen und johlen. Nach kurzer, heftiger Diskussion wird der Milieuschutzantrag an den Bauausschuss verwiesen. Sanders hat keine Ahnung, was das bedeutet. Die Siedler sehen zufrieden aus. Aber schließlich ist auch das eine Plattitüde erster Güte: Die Hoffnung stirbt zuletzt.

      Als ich von der Studienberatung zur U-Bahn zurücktrotte, überleg ich, ob ich mir meinen bisherigen Escortjob noch ein halbes Jahr lang geben soll. Oder ob ich vielleicht jetzt schon mein angespartes Geld in einen Repetitor investiere, der den Stoff des Grundstudiums mit mir noch mal durchgeht.

      Da steh ich plötzlich vor dem »Seelenklempner« am Dahlemer Thielplatz – ein hübsches Backsteingebäude, ehemals ein Pumpwerk der Wasserbetriebe, einstöckig, mit hohen Spitzbogenfenstern. Erinnert mich sofort an eine Kirche voller Bücher, ist aber eine Fachbuchhandlung für Psychologie mit einem angegliederten Café. Man kann alle Bücher aus dem Buchladen mit ins Café nehmen und in Ruhe anlesen.

      Mir wird ganz sentimental zumute. Was hab ich da abgehangen! Bei dem herrlichen Wetter ist an den Tischen im Garten des »Seelenklempners« kein einziger Platz frei. Die Vögel zwitschern, die Gläser klirren, es wird geplaudert und gelacht. Eine richtige Studentenfalle ist das. Heiß ist mir plötzlich. Jetzt ein Bier, kristallklar, aus einem beschlagenen Glas, an dem eiskalte Wassertropfen runterlaufen.

      Ich betret den Laden. Die Bücher stehen in hohen dunklen Holzregalen vor den Backsteinwänden, dicke Wälzer mit Goldprägungen neben Taschenbüchern. Es riecht nach Papier und Magie.

      Von der Decke hängt ein großes Plakat mit einem Stallworthy-Zitat: My poems all/​Are woven out of love’s loose ends.

      Also gut. Irgendwie treibt mich eine im Vorbewussten bohrende offene Frage direkt zu dem Buchregal mit der Überschrift Lebenshilfe. Mir ist klar, dass der Kauf von Werken wie Mit hundert Tricks zum Lebensglück am ehesten Lebenshilfe für den jeweiligen Autor ist. Aber hey, ich geb dem Ganzen eine Chance und zieh doch das eine oder andere Werk aus dem Regal. Will mich ins Café setzen und den Schund gemütlich durchblättern.

      Doch das Café ist auch hier drinnen knallvoll. Schließlich entdeck ich in einer Nische hinter einem dicken alten Wasserrohr einen Zweiertisch, an dem nur eine Frau vor einem Bücherstapel sitzt: eine etwa siebzigjährige Dame mit granatrotem Haar und Lesebrille. Sie raucht, mit Zigarettenspitze. Schaut in die Runde wie Queen Mum. Ich kenn diesen Blick: Rechtspsychologie, drittes Semester. Nur der Name fällt mir nicht ein.

      »Darf ich mich zu Ihnen setzen?«, frag ich.

      Die Dozentin fixiert mich glasklar und vieräugig halb über, halb durch die Brillengläser. »Sicher, junge Frau!« Sie nickt. Ihre Stimme klingt wie Cognac. »Setzen Sie sich her zu mir! Natürlich. Unbedingt. Ich bestehe darauf!«

      Fehlt bloß noch, dass sie durch die Zähne pfeift. Aber ich gehorch, setz mich und bestell mir ein Jever. Schlag das oberste Buch von meinem Stapel auf, Titel: Das Harry-und-Sally-Dilemma. Nichts Neues auf den ersten zehn Seiten. Die Dame mit dem Flammenhaar mustert mich eindringlich, während ich feststell, dass Harry es schon vor 25 Jahren wusste: Männer und Frauen können keine Freunde sein, der Sex kommt ihnen immer dazwischen.

      Ich ignorier den investigativen Blick meiner Tischnachbarin und nehm das nächste Buch zur Hand: Freundschaft ohne Sex. Frustrierende Keuschheitsprosa. Ein anderer Stil, dieselbe Meinung: Feierabendbier mit Tussi. Oder etwas orientalisch-lockerer: Tausendmal berührt. O weh, da kommt mir mein Bier gerade recht.

      Ich schieb die Bücher beiseite und trink das halbe Glas auf ex. Nur geht das dumme Problem davon nicht weg. Dumm, dumm, dumm, summt es in meiner Hypophyse. Ich werd es wohl selbst lösen müssen. Beziehungsweise, da gibt’s nichts zu lösen. Nur auszuhalten.

      »Wie ist er denn, Kindchen?«, fragt plötzlich die Cognac-Stimme. Die Professorin mit dem Flammenhaar greift über den Tisch, legt mir ihre Hand auf den Unterarm. Es ist eine braungebrannte Hexenhand mit rotlackierten Fingernägeln, über und über bedeckt von Goldringen und Altersflecken. Sieht cool aus, à la Seeräuber-Jenny.

      Ich zieh den Arm nicht weg. Dafür die Augenbrauen hoch. »Er?«, frag ich, um Zeit zu gewinnen.

      Die Dame nickt in Richtung der Lebenshilfe-Bücher. »Er«, sagt sie und nimmt einen Schluck vom Weißwein. »Och, Kindchen, jetzt denken Sie bestimmt, die Frau ist ein Unikum.« Madame Flammenhaar lacht wie ein Dudelsack beim Einspielen.

      »Volltreffer«, erwider ich und zieh den Arm nun doch weg. »Ein übergriffiges Unikum, genauer gesagt. Außerdem kenn ich Sie. Ich hab mal eine Vorlesung in Rechtspsychologie bei Ihnen gehört.«

      Sie fixiert mich durch den Rauch ihrer Mentholzigarette wie eine Priesterin ein Menschenopfer. »Nehmen Sie es nicht persönlich. Ich kann nicht anders.«

      »Sie sprechen wildfremde Menschen an und stellen ihnen intime Fragen?«

      Die Frau lächelt und drapiert einen feuerroten Satinschal um ihre Sonnenstudioschultern. Sie trägt ein stylisches ärmelloses Etuikleid. Auf dem rechten Oberarm prangt ein Tattoo. Ein rauchender Colt, darunter der Schriftzug Revolver Club. Sie zieht an ihrer Zigarettenspitze. Es riecht nach Shalimar und Tabak.

      »Seit vierzig Jahren mach ich kaum was anderes, Kindchen.« Sie schiebt eine knallrote Visitenkarte über den Tisch. Doktor Helen Sturm, Psychotherapeutin, Rosenthaler Platz steht da. Na klar. Doktor Sturm. Ulkigerweise fühlt sich unsere Begegnung jetzt gerade genau richtig an.

      »Und?«, frag ich. »Schon mal jemanden von der Freundschaft geheilt?«

      »Die Freundschaft«, sagt sie und zwinkert mir zu, »ist immer die kleine Schwester der Liebe.«

      Ich nehm einen Schluck Bier. Der Splitter in meinem Herzen bewegt sich beim Schlucken.

      »Och, Kindchen, nun gucken Sie doch nicht so! Kopf hoch! Eine tolle Frau wie Sie! Kommen Sie, ich gebe Ihnen einen aus. Was Richtiges. Cognac mit Eis. Wir Seelenklempner trinken immer Cognac.«

      »Wir Jurastudentinnen trinken alles, was wir nicht bezahlen müssen.«

      Helen Sturm lacht. Sie ist auch eine tolle Frau, für ihr Alter. Wenn meine Uschis mit siebzig noch so stehen, stell ich einen Misstrauensantrag gegen das Newton’sche Gravitationsgesetz. Die Drinks kommen, wir prosten uns zu.

      »Liberty Vale«, sag ich. »Libby.«

      Frau Doktor mit dem Flammenhaar nippt am Cognac. »Helen. Wissen Sie, Kindchen, ich bin zu neugierig, um in Rente zu gehen. Immer bin ich neugierig. Wie zum Beispiel


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