Mitternachtsnotar. Bettina Kerwien
will Diskretion. Dazu habe ich dich erzogen.«
Richtig. Der Vater hat ihn zum Schweigen erzogen. Dafür schuldet er ihm nichts. »Siebzig Euro die Stunde, netto, plus Spesen«, sagt Martin Sanders, der sonst nie mehr als fünfzig Euro verlangt.
»Respekt, Martin. Du hast Geschäftssinn«, lobt ihn der Mann, der ihn sonst nie gelobt hat.
Martin Sanders zieht ein Diktiergerät aus der Jackentasche, schaltet es ein, legt es über Libbys nackten Körper wie einen schwarzen Balken. »Erzähl mir alles, von Anfang an«, fordert er seinen Vater auf. »Gibt es hier auf dem Grundstück eine Überwachungskamera?«
»Nein, so etwas hatten wir noch nie nötig.«
»Ich rate dir dazu. Woher hast du den Kontakt für das Investment?«
Rainhard Sanders’ Augen glitzern wie der Friedrichstadtpalast im Winter. »Du stellst die richtigen Fragen. Vielleicht lernen wir uns ja durch diese Zusammenarbeit auch persönlich wieder mehr schätzen.«
»Nur die Fakten bitte – Vater.«
Vorgeladen
Als ich das nächste Mal wach werd, ist es wieder ein paar Männer und ein paar Tage später, wieder nachmittags. Mein Gesicht fühlt sich an wie ’ne Tüte Marshmallows.
Ich geh ins Bad, und dabei fällt mir ein, ich brauch ein Ziel. Ein anderes Ziel, als Wanja hängenzulassen. Etwas mit mehr Triumphpotenzial. Ich brauch zum Beispiel Haarextentions. Oder das neue Buch von Terézia Mora, Alle Tage, das habe ich geliebt. Schon den ersten Satz: Nennen wir die Zeit jetzt, nennen wir den Ort hier. Der Gedanke bringt mich in Schwung. Berlin ist ja berühmt für das Hier und Jetzt.
In einem Glückskeks vom Thai-Imbiss hab ich neulich den Spruch Morgen wird besser als heute gefunden. Nur leider ist ja immer wieder direkt heute. Es ist schwer, die Tage abzuleben. Die Abende sind unerträglich, aber noch schlimmer ist die dumpfe Zeit ohne Make-up, die Wartezeit, diese Zwischenzeit, in der man auf sich selbst und sein leeres Wohnzimmer und die Wände seiner Wohnung zurückgeworfen ist. Abends, für Geld, bin ich Weltklasse, nachmittags, für mich selbst, Kreisklasse.
Probehalber geh ich ins Wohnzimmer und seh mich um. Hier hat lange schon niemand mehr aufgeräumt. Es hat auch lange niemand den Anrufbeantworter abgehört. Ich stell mir ganz offiziell die Frage: Wollen Sie, Fräulein Liberty Vale, dieses Leben lieben und ehren, bis dass der Tod euch scheidet? Oh, nö, lieber nich, Euer Ehren.
Ich muss daran denken, wie Sanders mich zum Essen ausgeführt hat. Keine sechs Wochen ist das her. Hinterher fuhr er mich nach Hause, ich schaute seinem Auto nach, das sich von mir wegbewegte, über den regennassen Asphalt der Turmstraße. Sanders ist ein Mann in Schwarz-Weiß in einer Stadt aus purem Technicolor. Und was mehr ist, er trägt sein eigenes Schwarz mit sich. Wie jedes echte, tiefe, melancholische Schwarz lässt auch seines die Farben um ihn herum heller und klarer erscheinen. Kein Wunder, dass ich ihn nicht gehen lassen will. Ich hab’s trotzdem gemacht. Man kann schließlich nicht den ganzen Tag nur an sich selbst denken.
Stopp. Ich mach es mir vielleicht ein bisschen einfach. Also schön. Auf dem Anrufbeantworter sind ein paar Nachrichten von meiner Mutter. Ob ich Wanja nicht doch bei Englisch helfen könnte? Auf dem Wohnzimmertisch liegen drei Stapel ungeöffnete Post. Was mach ich bloß mit dem angebrochenen Tag? Ich könnt mir zum Beispiel ’ne Rose in den Hintern schieben und so tun, als wär ich ’ne Blumenvase. Oder ich könnt die Post aufmachen. Wenn ich nicht zu viel mit Wegrennen zu tun hätt.
Mein Magen rumort. Also wank ich zurück ins Bad, halt den Kopf unter den Wasserhahn. Duschen würde mir jetzt zu weit gehen. Das mach ich heute Abend. Außer zum Arbeiten muss ich eigentlich gar nicht auf die Straße, denn Süpermarket-Ümit stellt mir immer seine abgelaufenen Lebensmittel vor die Tür. Nett. Was Ümit nicht liefert, ist Eierlikör – damit hat er’s nicht so. Also lauf ich zumindest keine Gefahr, mir mein Selbstmitleid noch mal schönzusaufen.
Zurück im Wohnzimmer, tret ich auf den Saum meiner Schlafanzughose, rutsch aus, die Stapel mit der Post verteilen sich auf dem Teppich. Ein Brief sticht heraus. Amtlicher Recyclingpapierumschlag, freigestempelt: Berliner Justiz.
Mein Anrufbeantworter springt schon wieder an. »Deine Schwester fragt, ob du morgen Nachmittag Zeit hast. Sie versteht einfach dieses Gedicht nicht. Das ist doch sicher kein Problem, oder? Kommst du zu uns? Ich habe gebacken! Tschüssi! Küssi!«
Meine Mutter. So knallhart fröhlich wie die Nachtigallen im Hof. Sie will etwas ganz Normales. Ich bin allergisch gegen Normales. Mit Literatur kenn ich mich allerdings aus. Ah, distinctly I remember it was in the bleak December … Aber hey, über kurz oder lang werden wir eh alle tot sein. Auch wenn das jetzt vielleicht doch ein bisschen langfristig gedacht ist.
Also gut. Bin schon brav, Mama. Und ich bin mutig. Ich reiße den Justiz-Umschlag auf. Der Absender ist das Landeskriminalamt, und sie wollen mich zur Vernehmung laden, als Zeugin wegen des Verdachts des gefährlichen Eingriffs in den Luftverkehr. Zeugin? Ich fühle mich aber als Opfer. Basta. Wann soll ich dahin? Morgen, neun Uhr. Ups.
Der nächste Brief, den ich aufmach, ist von meiner Rechtsschutzversicherung. Kernsatz: Hiermit kündigen wir den zwischen uns geschlossenen Vertrag gemäß Paragraf 23b der Versicherungsbedingungen, da Sie den Versicherungsfall mutwillig herbeigeführt haben.
Okay, also denken. Aber das hilft plötzlich gar nicht mehr, sondern verstärkt lediglich meinen innigen Wunsch, meine Möbel zusammenzutreten. Ich kenn nur eine einzige Strafverteidigerin: Doktor Selma Ehrlich. Die Tochter von Süpermarket-Ümit. Selma ist so was wie eine Studienfreundin. Wir haben uns immer gut verstanden. Ihre Kanzlei ist an der Straßenecke gegenüber. Selma muss mir helfen.
Ich stell mich vor mein Bücherregal und knall die Stirn ein paarmal dagegen, bis mir ein halber Meter Suhrkamp auf den Kopf fällt. Ich hab eine fabelhafte Glückssträhne. Das Beste wäre wohl, ich würde die Wand hochklettern und mich durch die Zimmerdecke nagen.
Erweiterter Suizid
Sanders bildet sich ein, dass Fräulein Könitzer ihm ein wenig fester den Oberarm drückt, als es das beim In-den-Mantel-Helfen bräuchte. Der Mantel ist klamm.
»Wie alt ist er? Berend?«, fragt er.
»Der neue junge Herr Sanders wird im Herbst zwölf Jahre alt«, antwortet Fräulein Könitzer.
Sanders nickt und verabschiedet sich ohne weitere Sentimentalitäten.
Draußen regnet es noch immer. Er steigt in seinen Wagen. Die Tür schließt sich mit einem satten Geräusch, die Welt bleibt draußen. Er startet den Motor, fährt ein paar Hundert Meter, fährt wieder rechts ran. Kein Kaffee. Positive Väterlichkeit kann Sanders seinem Vater nun wirklich nicht nachsagen. Wenn der Mann eine Weltöffnungsfunktion in seinem Leben gespielt hat, dann beschränkt sie sich auf Sachlichkeit, Maßanzüge und die Abwesenheit von allem anderen.
Sanders hört dem Frühlingsregen auf dem Wagendach zu. Das Wasser läuft in hypnotischen Kaskaden über die Scheiben ab. Sein Kopf wird warm und schwer. Er lässt ihn gegen die Nackenstütze fallen. Er hat die ganze Nacht kein Auge zugemacht, aber er wird einen Teufel tun, tagsüber zu schlafen, auch wenn der Regen ihm noch so ein süßes Schlaflied singt. Denn wenn er während des Tages schläft, träumt er seinen Traum. Sanders hat nicht vor vielen Sachen Angst. Vor seinem Traum schon.
In seinem Traum sitzt er in einem riesigen leeren Kinosaal. Es gibt nur einen einzigen Sessel, und das ist der Sessel, auf dem er sitzt. Der Sessel steht weit vorne, direkt vor der Leinwand. Er möchte aufstehen und wegrennen, aber er kann nicht. Man hat ihn festgeschnallt, den Hals an die Rückenlehne, die Hände an die Armlehnen, die Füße an die Sesselbeine. Sein Kopf ist mit einem Stahlgestell fixiert, wie bei einem Versuchstier.
Sie wohnen damals noch in einem anderen Haus, nur ein paar Straßen von hier. Es ist ein Spätnachmittag im April 1984, früh im Jahr und doch zu spät. Endlich ist er gekommen, der Abend seiner Mutter. Sanders stellt sich das so vor, dass Veronika Sanders keinen