Attentat auf Honecker und andere Besondere Vorkommnisse. Jan Eik
Marmeladen-Klau über Vergewaltigungen bis hin zu grausamen Morden – worüber die Bevölkerung lange nur gemunkelt hatte, ließ sich nun mit Namen, Fakten und Daten belegen. Es waren Ausnahmen, aber sie zeigten, dass die kleine DDR trotz aller Freundschaftsbekundungen bis zum Schluss ein besetztes Land und nicht Herr im eigenen Haus war.
Auch wenn wir viele der alten Geschichten heute mit einem Lächeln über die damaligen Zeiten quittieren können, waren sie doch Ausdruck des Zeitgeists in der DDR. Der war allzu oft bestimmt durch Angst und Misstrauen. Solche Gefühle im Volk zu ignorieren oder gar zu pflegen bekommt den Herrschenden nie. Deshalb werden sie noch einmal erzählt, diese alten Geschichten.
Wildost in Klosterfelde
Das „Attentat“ auf Erich Honecker
Als „Angriff auf das Leben eines Regenten oder einer sonstigen hervorragenden Persönlichkeit“ definierte vor fast 150 Jahren „Meyers Konversationslexikon“ das Attentat. Es fehlte nicht der Hinweis, dass derlei „Mordthaten zum Zweck der Vernichtung des Vertreters einer großen Idee“ bereits auf eine lange Geschichte zurückblickten.
Die DDR war mit spektakulären Ereignissen nicht gerade gesegnet. Hier dominierte der triste Alltag. Doch manchmal schien sich auch hinter ihm Besonderes zu verbergen. Davon war der junge Dieter Müller überzeugt, als er in der gerade ein paar Jahre zuvor gegründeten Deutschen Demokratischen Republik, die so große Pläne mit dem Sozialismus hatte, „Volkskorrespondent“ wurde. Erste Artikel im FDJ-Blatt „Junge Welt“ machten ihn stolz, der Weg ins „Rote Kloster“, der Sektion Journalistik an der Leipziger Uni, schien geebnet. Doch zwischen Ostsee und Erzgebirge war es schon damals eng. 1956, nach dem Abitur auf dem Hallenser Giebichenstein-Gymnasium „Thomas Müntzer“, ging Dieter Müller in den Westen.
Dass er dort zu Dieter Bub wurde, entdeckte die Stasi erst später. Da arbeitete er bereits als „Stern“-Korrespondent in Ost-Berlin und machte Mielkes Männern in der Normannenstraße so richtig Ärger. Seine Heimatredaktion in Hamburg hatte nämlich eine Riesenstory auf die Titelseite gehoben, die in Ost-Berlin alle Alarmglocken schrillen ließ. Am 11. Januar 1983 verkündete das Magazin: „Der STERN enthüllt, was die DDR zu vertuschen sucht: DAS ATTENTAT!“
In ein seitenfüllendes Foto Erich Honeckers war das bläuliche Bild eines Mannes mit einem Fernglas um den Hals eingeklinkt. Daneben stand: „Ofensetzer Paul Eßling, der Mann, der Honecker erschießen wollte.“ Eine Doppelseite zeigte eine wilde Schießerei zwischen zwei Leuten aus abrupt gebremsten Autos als Comic. Dass dort mehr Fahrzeuge zu sehen waren, als an dem Ereignis tatsächlich beteiligt waren, machte die Geschichte noch dramatischer. Überschriften verkündeten: „Anschlagsversuch auf der 109“ und „Von der Stasi in die Zange genommen“.
Die Meldung selbst war eher dünn: „Ein Ofensetzer aus einem Dorf bei Berlin versuchte Silvester auf den DDR-Staatsratsvorsitzenden zu schießen. Der Attentäter verfehlte sein Ziel. Erich Honecker entkam und überlebte. Dem Schützen blieb nur der Selbstmord. Er schoss sich in den Kopf und starb auf der Stelle. Ein Sicherheitsbeamter wurde mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus gebracht.“
So war es dem Korrespondenten Dieter Bub in Ost-Berlin zu Ohren gekommen, und zu seiner Chronistenpflicht gehörte es, das an seine Redaktion weiterzugeben. Dass seine Zeitschrift eine so große Geschichte daraus machen würde, hatte er nicht erwartet, erzählte der Journalist später. Aber der „Stern“ hatte in jenem Jahr ohnehin kein besonders gutes Händchen für Sensationen: Vier Monate später blamierte sich das Blatt mit den vermeintlichen Tagebüchern Adolf Hitlers, die es zu entdecken geglaubt hatte.
Anders als die falschen Hitler-Tagebücher verbrannte die Story um das Honecker-Attentat nicht knapp zehn Millionen Mark. Allerdings flog Dieter Bub aus der DDR: Nach vier Jahren erfolgreicher journalistischer Arbeit musste er das Land innerhalb von 48 Stunden verlassen. Im Rückblick endete damit für ihn die „aufregendste Zeit [s]eines Lebens, Abenteuer, Herausforderung – und Albtraum“.
Albträume schien das „Besondere Vorkommnis“ dem vermeintlichen Opfer Erich Honecker nicht bereitet zu haben – obwohl es am Silvestertag 1982 tatsächlich einen Amoklauf eines in einer tiefen persönlichen Krise steckenden, alkoholisierten Handwerksmeisters gegeben hatte. Trotzdem ließ der höchste Repräsentant des Staates vorsorglich ein Dementi verfassen. Denn auch wenn der „Stern“ nicht auf der „Postzeitungsvertriebsliste“ der DDR zu finden war – solch eine Meldung lief nur Minuten nach Erscheinen des Blattes über die westlichen Rundfunk- und Fernsehstationen, und die wurden in seinem Reich vom Volk mit höchster Aufmerksamkeit verfolgt.
Und so landete am 11. Januar 1983 um 15.23 Uhr auf den Fernschreibern eine Meldung der Pressestelle des Ministeriums des Innern der DDR.
„Selbstmord nach Fahrerflucht“
Der 11. Januar 1983 war ein Dienstag – jener Tag der Woche, an dem die wöchentliche Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees (ZK) der SED stattfand, auf der das Land hinter verschlossenen Türen regiert wurde. Was nach draußen drang, waren meist weniger aufsehenerregende Beschlüsse als ritualisierte Phrasen über die Rolle der Bedeutung und die Bedeutung der Rolle.
So war es auch an diesem Tag. Die Agenda dieser ersten Sitzung im neuen Jahr umfasste 23 Punkte mit 22 Beschlussvorlagen, die sich etwa mit „Maßnahmen zur Arbeit mit den Thesen des ZK der SED zum Karl-Marx-Jahr“ und „Schlußfolgerungen für die Erhöhung von Ordnung, Disziplin und Sicherheit im Eisenbahnwesen“ befassten. Das angebliche Attentat auf den „Generalsekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Vorsitzenden des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik und Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates der DDR“, das der „Stern“ Stunden zuvor vermeldet hatte, wurde nicht einmal erwähnt.
Natürlich wusste Erich Mielke von den Geschehnissen, denn die „Staatssicherheit“ der DDR war schließlich sein Job. Er hatte bereits in den Abendstunden des 31. Dezember 1982 erfahren, dass jenes „Besondere Vorkommnis“ keinen terroristischen Hintergrund befürchten ließ. Selbstverständlich informierte er seinen obersten Dienstherrn und setzte die üblichen Allheilmittel bei allen Abweichungen vom normierten DDR-Alltag ein: Die Zeugen wurden zum Schweigen verpflichtet, alle Informationen über das Ereignis mit der höchsten Geheimhaltungsstufe versehen – kurzum, das Ganze wurde vertuscht. Für den innersten Führungszirkel der SED gab es eine Meldung von dreißig Zeilen. Für einen Tagesordnungspunkt auf der Politbürositzung reichte das nicht.
Doch nun war die Geschichte in der Welt, und der Allgemeine Deutsche Nachrichtendienst (ADN) meldete: „Die Pressestelle des Ministeriums des Innern weist Falschmeldungen westlicher Agenturen und Presseorgane über einen Verkehrszwischenfall am 31. Dezember 1982 in Klosterfelde, Kreis Bernau, zurück. An diesem Tag war es zu einer schweren Verkehrsgefährdung durch den Fahrer eines Pkw vom Typ Lada gekommen. Nach Feststellung der Volkspolizei stand der Fahrer des Pkw unter starkem Alkoholeinfluss. Eine ärztliche Untersuchung ergab eine Blutalkoholkonzentration von 2,5 Promille. Nach schwerer Gefährdung des Straßenverkehrs war der Pkw-Fahrer den Aufforderungen, die Fahrt zu stoppen, nicht gefolgt, sondern beging Fahrerflucht. Als er durch eine Streife der Volkspolizei gestellt wurde, schoß der Volltrunkene aus einer Handfeuerwaffe. Dabei wurde ein Streifenangehöriger der Verkehrspolizei schwer verletzt. Bevor es gelang, den Täter festzunehmen, beging er mit seiner Schußwaffe Selbstmord.“
Eine derartige Meldung schien geradezu prädestiniert, im täglichen Nachrichtenstrudel unterzugehen. Davon, dass der „Verkehrszwischenfall“ den ersten Mann im Staate betraf, war nichts zu lesen, und gelernte DDR-Bürger stolperten allenfalls darüber, dass einer der ihrigen eine Schußwaffe besessen hatte.
Dass illegaler Waffenbesitz im Lande unnachsichtig verfolgt und rigide bestraft wurde, wusste jeder. Waffen von Jägern und Sportlern unterlagen strengsten Sicherheitsbestimmungen. Die Russen ballerten hin und wieder illegal herum, doch das galt ohnehin als Tabuthema. Allerdings munkelte man über „personengebundene“ Pistolen von SED-Funktionären bis hinunter zu den Kreisleitungen. Was steckte also hinter der merkwürdigen Meldung?
Den „Stern“ bekamen seinerzeit nur wenige