Attentat auf Honecker und andere Besondere Vorkommnisse. Jan Eik
Schusshand Eßlings nach der atomabsorptionsspektrofotometrischen Methode bestimmt und verglichen wurden. Das Gewichtsverhältnis der Blei- und Kupferspuren an der Einschussstelle stimmte mit denen der Wischspuren von Eßlings rechter Hand überein. Daraus ergab sich laut Gutachten zweifelsfrei der Nachweis eines absoluten Nahschusses, den E. sich selbst beigebracht hatte.
Die „Stern“-Story und ihre Schwächen
In Klosterfelde und Umgebung begannen in den ersten Januartagen 1983 intensive Nachforschungen der Staatssicherheit, insbesondere im weitverzweigten Kunden- und Bekanntenkreis des Handwerksmeisters. Man war bemüht, „Umfeld und Motivation des Attentäters“ und die Herkunft der Waffe aufzuklären. Diese Ermittlungen waren nach gut einer Woche in den wesentlichen Punkten abgeschlossen. Dass inzwischen die Gerüchteküche brodelte und die Legende vom Attentat selbst den Berliner Pfarrer Rainer Eppelmann erreicht hatte, wusste die Stasi ebenfalls. Wichtigtuerische Informanten schrieben sich die Finger wund – in den Akten findet sich so manch unterhaltsames Schriftstück.
Überraschenderweise hatte jedoch, unbemerkt vom MfS, zur selben Zeit noch jemand in Klosterfelde, Wandlitz und Stolzenhagen recherchiert. Der Mann aus Berlin war in einem unauffälligen Wagen mit DDR-Kennzeichen aufgetaucht und fündig geworden: „Stern“-Korrespondent Dieter Bub, dem ein Ortsansässiger eine Information über den ungewöhnlichen Zwischenfall zugespielt hatte. Zum Erstaunen der Westmedien und zum grimmigen Ärger der DDR-Oberen konnte Bub mit echten Fotos des vermeintlichen Attentäters, seiner Familie, seines Hauses und seiner Freundin aufwarten. Auch trat er Einzelheiten aus dem Familienleben des unglücklich Geschiedenen breit, die in Klosterfelde die Spatzen von den Dächern pfiffen.
Der Westkorrespondent, der sich ohne Genehmigung des Außenministeriums auf verbotenem Terrain bewegte und sein Risiko kannte, kam an die tatsächlichen Augenzeugen nicht heran. Der „Stern“ schmückte deshalb seine fünfseitige Titelstory mit allerlei erfundenen Details aus. „Die anderen Stasi-Männer reißen ihre Kalaschnikows hoch …“, heißt es da etwa. Ein Foto des angeblichen Tatorts und die bereits erwähnte fantasievolle Zeichnung, auf der Eßlings Lada von zwei Volvos in die Zange genommen wird, während ein dritter Bewachungswagen und ein Polizeifahrzeug zu Honeckers Citroën aufschließen und weiterrasen, gehören dazu. Selbst die vermeintlichen Wagenspuren der Aktion entdeckte Bub auf dem unbefestigten Randstreifen vor dem Haus Berliner Chaussee 5. Das lag allerdings 200 Meter vom Ereignisort entfernt, die Reifenspuren stammten von den Absperrfahrzeugen.
Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“, wohl nicht ganz ohne Neid auf Bubs waghalsige Recherchen, zweifelte die Darstellung des Kollegen an:
„In diesem Moment [in dem Paul Eßling auf das Ende des Honecker-Konvois stieß, J. E.]“, folgert Stern-Bub, „muß den Ofensetzer aus Klosterfelde die kalte Wut gepackt haben.“ Sein einziger Beleg: Eßling habe nach Aussagen von Bekannten häufig „unbeherrscht auf Honecker und die SED-Regierung geschimpft. Wenn er nur könnte, wollte er es denen schon zeigen“ – ein Indiz, an dem gemessen es in der notorisch unzufriedenen DDR-Bevölkerung von potenziellen Attentätern nur so wimmeln müßte. Der Stern weiß noch mehr. Zwar saß Eßling nach Bubs Schilderung allein im Auto, doch der Leser ist Live dabei: „Ohne den Fuß vom Gaspedal zu nehmen, holt er seinen Revolver aus dem Handschuhfach und entsichert ihn.“ Ob Eßling es Honecker tatsächlich zeigen wollte oder ob der Amok-Fahrer aus privatem Kummer einfach durchdrehte und, als er gestoppt wurde, den ersten besten anschoß, bevor er sich selbst umbrachte, oder ob er in einer Kurzschlußhandlung in jedem Fall Selbstmord begehen wollte – das wußte in Wahrheit Eßling allein. In der SED zirkuliert noch eine andere Version: Danach tötete Eßling möglicherweise nicht sich selbst, sondern wurde von Sicherheitsbeamten erschossen; unsinnig ist in jedem Fall die Stern-Behauptung, der Staatsratsvorsitzende sei „nur knapp einem Attentat entkommen“.
Auch Marlies Menge, von 1978 bis 1990 für die Wochenzeitung „Die Zeit“ in Ost-Berlin, machte sich so ihre Gedanken. Am 14. Januar 1983 schrieb sie in ihrem Blatt: „Ein Ofensetzer, so hieß es, sei es gewesen. Er habe seine Öfen bei Mitarbeitern von Honecker gesetzt und sich über den üppigen Lebensstil der hohen Genossen geärgert.“ Zutreffend stellt sie fest: „Zunächst wurde über das Motiv gestaunt: Ein Handwerker, der sich über das Wohlleben anderer aufregt! Egal, ob ein Handwerker einen privaten Betrieb hat, mit staatlicher Beteiligung arbeitet oder in einer staatlichen Produktionsgemeinschaft – jeder in der DDR weiß, daß es Handwerkern nicht schlecht geht.“ Und dann äußerte die Journalistin einen Gedanken, der eigentlich auf der Hand lag: „Wenn ihn das gute Leben seiner Auftraggeber wirklich so empört hat, warum hat er dann nicht einen Sprengsatz in einem der Öfen montiert, fragte man sich. Das hätte immerhin mehr Aussicht auf Erfolg gehabt als ein Attentat auf offener Straße.“
Attentat oder nicht – Mielkes Firma wurde nach der „Stern“-Veröffentlichung erst richtig aktiv in Klosterfelde. Angeblich wurden zeitweilig sogar die Telefonverbindungen nach Berlin unterbrochen, doch dabei konnte es sich auch um eine normale Störung im überalterten Telefonnetz der DDR-Post handeln. Jedenfalls war die Staatssicherheit fieberhaft bemüht, Bubs Informanten ausfindig zu machen. Aber nicht einmal die eigenen IM, die es in der Gegend um Wandlitz noch reichlicher gab als anderswo in der DDR, brachten Klarheit in die Angelegenheit. Man vernahm ein Dutzend Leute, doch keiner wusste etwas. Nur eine Frau wollte einen „West-Wagen“ im Ort gesehen haben.
In seiner nächsten Ausgabe vom 18. Januar – Bub war seit Tagen aus der DDR ausgewiesen – schob der „Stern“ noch einmal nach, allerdings nur auf Seite 124: Neue Fakten, neue Fotos – diesmal von einem Flensburger Verwandten der Familie Eßling, Immo Sch., beigesteuert. Von seinen Besuchen bei Paul Eßling wusste Sch. zu berichten, der sei ein höchst eigensinniger Mensch und überdies ein Waffennarr gewesen, keinesfalls jedoch ein Alkoholiker. Ein Attentäter mit 2,5 Promille (die wies ein nach dem gaschromatografischen Verfahren gewonnenes Gutachten dem Toten nach) machte offenbar nicht so viel her wie einer, der aus Zorn auf das Regime zur Waffe griff.
Ob ein geübter Schütze auch oder gerade in diesem Zustand sein Ziel zu treffen vermag, steht auf einem anderen Blatt. Paul Eßling war jedenfalls ein ausgezeichneter Schütze. Die zahlreichen Schießscheiben in seinem Haus bewiesen es, und die GST, die vormilitärische „Gesellschaft für Sport und Technik“, in Klosterfelde bestätigte es den Ermittlern von der Staatssicherheit.
Paul Eßling – ein Mann mit Problemen
Im Ort wusste jeder, was Immo Sch. und der „Stern“ nicht wahrhaben wollten: Paul Eßling hatte getrunken. Und auch die Stasi wusste es. Bereits am 24. Januar 1982 hatte man ihm in Berlin nach einer Verkehrskontrolle die Fahrerlaubnis entzogen. Er hatte mit einem Blutalkoholgehalt von 1,9 Milligramm pro Liter die zulässige Höchstgeschwindigkeit um 19 Stundenkilometer überschritten. Doch der Mann wusste sich zu helfen. Wozu hatte man schließlich gute Bekannte bei einer gewissen Firma? Mit einem Ofensetzer, der noch dazu das nötige Material besorgen konnte, wollte es sich niemand verderben. Ein Kamin für die „Datsche“ war der Gipfel kleinbürgerlichen Wohlstands, und Paul Eßling nutzte das.
Deshalb wandte er sich an Hauptmann T. von der MfS-Kreisdienststelle Bernau, der wiederum den Genossen St. von der HA VII/1, verantwortlich für die Offiziershochschule der VP in Biesenthal, so gut kannte, dass er ihn um Unterstützung angehen konnte. Eine Hand wusch nun mal die andere. Der stellvertretende Leiter der Kreisdienststelle bat die H VII/1, das bei der VP-Inspektion Pankow anstehende „Verfahren gegen Eßling, Paul … einzuziehen und uns zur operativen Nutzung zu übersenden“. Einem solchen Wunsch der Stasi konnte sich die Polizei nicht verschließen – was galten da schon Recht und Gesetz? Eine Begründung für den Deal mit eigennützigem Hintergrund lieferte T. ein Jahr später nach: „E. war mir persönlich bekannt, es bestand ein operatives Interesse resultierend aus bedeutsamen Kontakten … Einfluß auf die Überlegungen … hatte auch, daß Eßling für viele Genossen des MfS gearbeitet hatte und eine Arbeit für einen Genossen der HA XVIII bei Groß Köris zugesagt, aber noch nicht ausgeführt hatte. Im Frühsommer 82 wurde dem E. die Fahrerlaubnis zurückgegeben.“
Trotz der „unbürokratischen“ Regelung seines Vergehens war das Jahr 1982 eine besonders kritische Zeit im Leben Paul Eßlings. Inzwischen hatte er den letzten Halt verloren, den ihm die Familie vorher noch geboten hatte, obwohl er Frau und Kinder mit