Attentat auf Honecker und andere Besondere Vorkommnisse. Jan Eik

Attentat auf Honecker und andere Besondere Vorkommnisse - Jan Eik


Скачать книгу
charakterisiert“, obwohl es viele besser wussten. Selbst die zahlreichen „ehrenamtlichen Informanten“ der Firma gaben sich unwissend und behaupteten, dass Eßlings Jagdleidenschaft bekannt gewesen sei, nichts jedoch über die Waffen in seinem Besitz gewusst zu haben.

      Auch das war ausgesprochen unglaubwürdig. Paul Eßling war häufig im Wald herumgestreift und -geritten und hatte etliche Jäger verärgert. Es war nicht unbemerkt geblieben, dass er gewildert und Rehe und Wildschweine geschossen hatte. Mindestens ein solcher Vorfall war aktenkundig, wie die Stasi herausfand. Außerdem stammte die Munition für Eßlings Jagdwaffen – anders als die von der Deutschen Waffen- und Munitions-AG Berlin Borsigwalde produzierten Vorkriegspatronen für seine Walther-Pistole – aus den 1970er-Jahren. Die konnte in der DDR nur ein ausgewählter Personenkreis besorgt haben.

      Das MfS protokollierte all das säuberlich und unternahm weitere umfangreiche Nachforschungen. Aber so recht schien niemand daran interessiert gewesen zu sein, ausgerechnet in der Nähe von Wandlitz in einem schier bodenlosen Sumpf herumzustochern. Vier magere Seiten füllt beispielsweise die bemerkenswerte Tatsache, dass ein Offizier der eigenen Firma, Oberstleutnant Al. von den rückwärtigen Diensten der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA), Eßling für Westgeld dessen beide Luftdruckpistolen besorgt hatte.

      Ausführlicher dargestellt wurden die charakterlichen Schwächen Paul Eßlings, man ließ zu diesem Zweck sogar ein nachträgliches medizinisches Gutachten anfertigen. In ihm wurde Eßlings wenig geselliges, leicht reizbares und rechthaberisches Wesen hervorgehoben. Besonders nach dem Verlust der Familie habe sich der zu Alkoholmissbrauch neigende ziel- und willenlose Mann – schon Vater und Großvater seien „Potatoren“ gewesen, Quartalstrinker – hilflos und unsicher gefühlt. Aus diesem Persönlichkeitsbild wurde geschlussfolgert, man habe es mit dem „Bilanzselbstmord“ einer „anankastischen [zwanghaften] Persönlichkeit“ zu tun.

      Für die Staatssicherheit war das eine annehmbare Lösung des Falls Paul Eßling. Der zwölfseitige, vom Abteilungsleiter Oberstleutnant Lehmann unterzeichnete Abschlussbericht der Hauptabteilung Untersuchung bescheinigte Eßling außerdem, er habe sich in einem „schuldhaft herbeigeführten, die Zurechnungsfähigkeit vermindernden Rauschzustand (Psychose)“ befunden, und kam zu dem Ergebnis, es könne ausgeschlossen werden, dass E. aus einer „feindlichen negativen Haltung heraus gezielt einen Angriff auf eine Repräsentantenfahrt geführt oder geplant hatte“.

      In Klosterfelde kehrte allmählich wieder Ruhe ein. Angesichts der umfangreichen Stasi-Aktivitäten im Ort war das auch allen recht, denn darüber sprechen durften sie ohnehin nicht. Die Sicherheitsbestimmungen für „Repräsentantenfahrten“ wurden verschärft. Und dem besonders mit der Sicherung der Protokollstrecke beauftragten IM „Hans Berger“, der nicht ahnte, dass man vorsichtshalber auch sein Telefon abhörte, und der in Eßling seinen besten Goldbrand-Kunden verloren hatte, wurde in Anerkennung besonderer Leistungen bei der Aufklärung des „Vorkommnisses“ eine Spieluhr im Wert von 350 Mark überreicht.

      Der Streit der Leibwächter

      Als das Ende der DDR eingeläutet war, ließ die Geschichte um Paul Eßling dann doch noch einmal den Blätterwald rauschen. Nachdem „Das Magazin“ 1990 in seiner April-Ausgabe einen „Report“ zu dem Fall gebracht hatte, meldeten sich nach und nach auch Honeckers ehemalige Leibwächter zu Wort.

      „Bild“ widmete Ende März 1990 dem angeblichen Augenzeugen Bernd Brückner eine Serie, obwohl der den Vorfall selbst gar nicht miterlebt hatte. Silvester 1983 war einer seiner raren freien Tage gewesen. In Brückners Mär machte sich der „stockbetrunkene Ofensetzer“ in einem Trabant, den zwei Männer des Begleitkommandos beiseitegeschoben hatten, an die Verfolgung der Kolonne. „Und da passierte es: Der Ofensetzer sprang, wie von Sinnen – und das war er ja auch –, aus seinem Trabi und zog eine Pistole, zielte und schoß …“ Brückner betonte, dass man nur auf Angriffe von vorne vorbereitet gewesen sei: „Für solche Fälle war vorgesehen – und tausendmal geübt worden – dass der Citroën mit der Nummer 1 seine Fahrt stark abbremst, ohne anzuhalten, der Kommandowagen an ihm vorbeizieht und vor dem Hindernis stoppt … Die Kollegen reißen als Deckung alle vier Türen auf, gehen dahinter mit der Waffe in Stellung und einer läuft zum Hindernis, um die Lage zu klären.“

      Als ihn das MDR-Fernsehen noch einmal im Juni 2003 als Sachverständigen für das Honecker-Attentat präsentierte, korrigierte Brückner sich: „Das Fahrzeug mit dem Tatverdächtigen hielt an, und ein Mitarbeiter der Verkehrspolizei stieg aus, um den Fahrer zu kontrollieren. Dieser schoss ohne Vorwarnung auf den Mitarbeiter der Verkehrspolizei und verletzte diesen schwer. Der Kollege, der zweite Kollege, schoss zurück. In diesem Augenblick hatte sich aber der Tatverdächtige bzw. der Täter schon selbst erschossen.“

      Aus dem „Attentat bei Klosterfelde“ wollten schon in den Monaten der DDR-Agonie auch Brückners Kollegen ein bisschen Kapital schlagen. Adelhard Winkler, bis dahin 36 Jahre im Dienst als Fahrer und selbst unter seinen Genossen als „einer der schlimmsten Hofhunde EHs“ verschrien, war der Nächste, der seine schmal gewordenen Einkünfte zwischen den Busenwundern einer Illustrierten aufzubessern gedachte. Neben etlichen besonderen Unappetitlichkeiten aus dem Leben des Generalsekretärs wusste Winkler der Leserschar auch etwas über den schießwütigen Ofensetzer mitzuteilen: „Wir waren uns sicher: Der Mann wollte Honecker töten!“ Eilig meldete die „Berliner Zeitung“ daraufhin am 5. September 1990: „Leibwächter bestätigt das Attentat auf Honecker.“

      Diese durch nichts zu beweisende Behauptung ließ wiederum Ralf Ehresmann nicht ruhen, der ebenfalls zehn Jahre lang den Schatten des Übervaters bewacht hatte. In der Redaktion der „Berliner Zeitung“ gab er zu Protokoll, Winkler habe an jenem Silvestertag dienstfrei gehabt. Und überhaupt wisse er es besser: Es war kein Attentat. „Kugeln von Klosterfelde galten nicht Honecker“, hieß es am 7. September prompt auf Seite eins. Ehresmann hatte anscheinend wirklich neben Funker und Fahrer im zweiten Citroën gesessen und zumindest den ersten Teil des „Besonderen Vorkommnisses“ als Augenzeuge erlebt: „Am nördlichen Ausgang von Wandlitz kam links aus Richtung Stolzenhagen ein grüner Lada 1300 auf die Fernverkehrsstraße zu. Er stoppte an der Kreuzung, fuhr wieder an, stoppte nochmals, stieß anschließend wenige Meter zurück … Als wir ziemlich nahe dran waren – etwa hundert Meter von der Kreuzung entfernt –, bog der Lada in scharfem Tempo links ein, zog gleich auf den rechten Sommerstreifen und schlingerte anschließend ein wenig auf die Straße. Im gleichen Augenblick waren wir jedoch schon an ihm vorbei.“ Die „Nummer eins“ hatte offenbar von alldem nicht viel mitbekommen: „E. H.s Hand jedenfalls zitterte auch an diesem Nachmittag nicht. Neun kapitale Hirsche sollten das Jahr 1983 nicht mehr erleben. Ehresmann will es genau wissen; er musste das Wild ja aufbrechen.“

      Dem damaligen innenpolitischen Ressortchef der „Berliner Zeitung“ erschienen die Auskünfte seines Informanten allzu dürftig. Deshalb reicherte er sie mit einer detaillierten Schilderung des weiteren Verlaufs in Klosterfelde sowie mit Erkenntnissen aus dem „Bericht der Untersuchungsbehörden“ und den „von namhaften Medizinern erstellten Obduktionsergebnissen“ an, die er offenbar der Einfachheit halber ohne Quellenangabe aus dem „Magazin“ abschrieb. Immerhin wollte er selbst herausgefunden haben: „Das Attentat auf den ‚führenden Repräsentanten des deutschen Arbeiter- und Bauernstaates’ hat also überhaupt nie stattgefunden.“

      Ein letztes Rauschen im Blätterwald

      Das alles ließ den „Stern“ nicht ruhen. Kurioserweise kam die Zeitschrift drei Jahre später, im Dezember 1993, noch einmal auf die eigene, elf Jahre alte Story zurück und beharrte darauf, alles sei so gewesen wie damals beschrieben: „Das Attentat fand statt. Hartnäckig dementierte die DDR-Führung vor zehn Jahren den Stern-Bericht über einen Anschlag auf Erich Honecker. Jetzt aufgefundene Dokumente geben dem Stern recht“, hieß es vielversprechend. „Das zwanzigseitige Stasi-Dossier über den Vorfall – so geheim, daß es nur drei Exemplare gab – wurde jetzt in der Gauck-Behörde aufgefunden. Durch neue Recherchen des Stern alarmiert, hat die Staatsanwaltschaft beim Berliner Kammergericht nun sogar die zuständigen Kollegen in Frankfurt / Oder gebeten, den angeblichen Selbstmord des Attentäters Paul Eßling zu überprüfen. Denn es wird nicht mehr ausgeschlossen, daß der schon angeschossene Handwerker von einem Stasi-Offizier mit einem gezielten Nahschuß in den Kopf regelrecht ‚hingerichtet‘


Скачать книгу