Attentat auf Honecker und andere Besondere Vorkommnisse. Jan Eik
wirklich auf Honecker abgesehen hatte“, weil die Fahrzeugkolonne des Staatschefs nicht aus einem halben Dutzend Wagen – wie vom „Stern“ 1983 vermutet –, sondern „bloß aus drei“ bestanden hatte, so war dieser „Beweis“ seit April 1990 im „Magazin“ und seit demselben Jahr im Kriminalmagazin „Underground“ nachzulesen.
Die Staatsanwaltschaft Frankfurt / Oder indes ermittelte tatsächlich. Das war ihre Pflicht, denn wäre es ein Mord gewesen, hätte den Täter keine Verjährung vor Strafe geschützt.
Die Untersuchungen ergaben aber offenbar nicht viel, und elf Monate gingen ins Land, bis die „Berliner Zeitung“ erneut fragte: „Erschoß die Stasi den Honecker-Attentäter?“ Und die „Süddeutsche Zeitung“ titelte: „Mutmaßlicher Attentäter angeblich auf der Stelle von Stasi-Offizieren hingerichtet.“
Den Vogel – in dem Fall eine kapitale Ente – schossen in trauter Eintracht „Bild“ und Sat 1 ab. Die nämlich fabulierten am 27. Oktober 1994 von angeblichen Stasi-Dokumenten, die den damals Berlin regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) als Waffenlieferanten für Paul Eßling entlarvten. Das habe ein ungenannter Stasi-Informant einem namenlosen Berliner Polizeibeamten mitgeteilt. Doch den „Zeugen“ vom Hören-Hörensagen nahm niemand ernst. Während Diepgen – mit seinem damaligen Polizeipräsidenten Hagen Saberschinsky gerade auf einer Moskau-Reise in Sachen Sicherheit unterwegs – locker äußerte, bei den Waffen, die er bisher beschafft hätte, habe es sich ausschließlich um Wasserpistolen für seine Kinder gehandelt, war Sat 1 auf Anfrage nicht einmal mehr bereit, den Wortlaut der damals ausgestrahlten Meldung mitzuteilen.
Die Staatsanwaltschaft Neuruppin, die den Fall Eßling inzwischen übernommen hatte, schaute sich hingegen tatsächlich noch einmal die Ergebnisse des Obduktionsberichts und die Zeugenaussagen an.
Nachdem das Gutachten eines Bonner Rechtsmediziners – das sich vermutlich auf im „Underground“ zitierte Formulierungen aus dem Bad Saarower Leichenöffnungsbericht vom 3. Januar 1983 stützte – zu dem Schluss gekommen war, Eßling sei mit einer Waffe größeren Kalibersals 7,65 Millimeter erschossen worden, erhärtete sich der Anfangsverdacht gegen Horst H. Der Neuruppiner Oberstaatsanwalt Gerd Schnittcher erklärte gegenüber der „Berliner Zeitung“: „Wir haben den Verdacht, daß der Mann durch einen aufgesetzten Kopfschuß getötet wurde, ohne daß sich seine Verfolger zu diesem Zeitpunkt noch in einer Notwehrlage befanden.“
Der Rechtsmediziner Professor Dr. Maxeiner von der Freien Universität Berlin kam nach eingehendem Studium der Unterlagen aus Bad Saarow zu einem anderen Schluss: Die auf den Obduktionsfotos deutlich sichtbare Ausfaserung der Ausschusswunde sei typisch für das Kaliber 7.65. „Es sei zweifelsfrei erwiesen, daß Eßlings Kopfwunde aus einer 765er [sic!] Walther stammte.“ So zitierte am 30. Dezember 1994 „Der Tagesspiegel“ den Leitenden Neuruppiner Staatsanwalt Dr. Erardo Rautenberg. Nach dessen Ansicht stand „mit ziemlicher Sicherheit fest, daß sich Eßling an jenem 31. Dezember 1982 mit seiner eigenen Waffe erschossen habe“.
Die Augenzeugen – diesmal nicht von Journalisten, sondern von der Staatsanwaltschaft befragt – hatten ihre Aussagen vom Silvesterabend 1982 bestätigt. Die Obduzenten in Bad Saarow dokumentierten den Bauchdurchschuss, den der Oberleutnant H. Paul Eßling beigebracht hatte, ebenso gewissenhaft wie die tödliche Kopfverletzung.
Dennoch blieb, wie immer in solchen Fällen, ein unwägbarer Rest. Dass Kugeln nicht auffindbar waren, Papillarabdrücke auf Eßlings Waffe fehlten und sich die Aussagen der Zeugen über Details ihrer Beobachtungen und über die Anzahl der Schüsse widersprachen, deutet eher auf eine unbeeinflusste Untersuchung und Befragung hin.
Bei aller Irrationalität, wie sie vielen Aktionen der DDR-Staatssicherheit eigen war: Weshalb hätte die „Firma“ einen akribisch geführten Aktenvorgang von 743 Seiten und Tausenden weiteren mit Protokollen und Gutachten anlegen und fälschen sollen, wenn für sie doch feststand, dass die Unterlagen nie ein Unbefugter zu Gesicht bekommen würde? Es hätte mehr Zeugen für die Fälschung als für den tatsächlichen Tathergang gegeben.
Für die schon im Januar 1983 im „Spiegel“ geäußerte Vermutung, dass sich Eßling möglicherwiese nicht selbst getötet habe, sondern von einem Sicherheitsbeamten erschossen wurde, fanden jedenfalls auch die Neuruppiner Staatsanwälte keinen Beweis. Selbst Dr. Rautenberg hegte am Ende der Untersuchungen starke Zweifel, „ob Eßling überhaupt einen Anschlag auf Honecker geplant hatte …“
Nachtrag: Ein konstruiertes Verbrechen
Dass nicht auf Honecker, sondern auf seinen Vorgänger Walter Ulbricht ein Anschlag geplant gewesen sein soll, den doch tatsächlich die Stasi erfunden hat und der für ein paar Menschen bitterste Konsequenzen hatte, fand nach dem Ende der DDR weit weniger Beachtung als die Story um Paul Eßling.
Diese Geschichte begann am 26. Oktober 1968 in der Kneipe des thüringischen Ortes Steinbach. Man feierte Kirmes, und die Sterncombo aus Trusetal machte Musik. Es ging hoch her.
Am Stammtisch sitzen die Einheimischen und schimpfen auf die Regierung. Von „Kommunistenschweinen“ ist die Rede und auch davon, dass man diese Leute am besten erschießen sollte. Fremde am Nachbartisch hören das mit Missfallen. Sie tragen das SED-Parteiabzeichen am Revers und kommen aus dem benachbarten Bad Liebenstein. Dort sind sie Kurgäste – so wie lange zuvor auch mal Walter Ulbricht und Frau Lotte.
Die Steinbacher Gerald Rilk und Werner Iffert legen sich mit den SED-Genossen an. Es wird gepöbelt, immer wieder ist vom Erschießen der Kommunisten die Rede. Viel Bier hat die Zungen gelockert. Die Kurgäste verdrücken sich und erstatten Anzeige. Rilk und Iffert werden noch in der Kneipe verhaftet.
Die Kripo hat die Thüringer schon lange im Auge, denn in Steinbach wird gewildert. Und wer wildert, muss auch Waffen haben. Deshalb sammelt sie seit einiger Zeit alle Informationen in der Akte „Steinbock“.
Nach einem Dreivierteljahr übernimmt die Stasi-Kreisdienststelle Bad Salzungen die Sache. Am 16. Juni rücken ihre Leute in Steinbach ein, verhören die Anwohner und durchsuchen die Häuser.
An mehreren Orten werden illegale Waffen gefunden, auch Handgranaten sind dabei. Gerald Rilk besitzt sogar ein Fallschirmspringer-Sturmgewehr. „Das habe ich gefunden“, gibt er an, doch niemand glaubt ihm. Die Wehrmacht der Nationalsozialisten hatte bei Kriegsende das Zeug einfach im Wald liegen gelassen, an dem sich einige Steinbacher bedient hatten.
Mehr als zwanzig von ihnen sitzen jetzt wegen illegalen Waffenbesitzes in Untersuchungshaft. Anfang 1970 werden die meisten in Bad Salzungen verurteilt. Gerald Rilk und Werner Iffert sind nicht dabei. Auch nicht die später verhafteten Brüder Kurt und Herbert Malsch sowie Herbert Fischer.
Die Stasi vermutet, diese Männer könnten mehr auf dem Kerbholz haben. Sie haben in der Kneipe auf Ulbricht geschimpft und den Prager Frühling begrüßt – daraus konstruieren die Vernehmer nun einen Umsturzplan, eingeleitet mit einem Attentat auf Walter Ulbricht.
Die Steinbacher begreifen zunächst gar nicht, worum es eigentlich geht. Doch dafür, dass sie das endlich verstehen, wird in den immer wieder stattfindenden Verhören gesorgt. Gerald Rilk: „Die Stasi hat uns auf eine Linie geführt.“ Nun ist plötzlich nur noch vom angeblich geplanten „Mordanschlag auf den Staatsratsvorsitzenden“ die Rede.
Dass Walter Ulbricht das benachbarte Bad Liebenstein seit 1964 gar nicht mehr besucht hat, ficht die Stasi nicht an. Sie bastelt ihren Mordplan – nur fehlen nach anderthalb Jahren immer noch die Geständnisse. Doch schließlich machen die Verhöre die stets erneut Beschuldigten mürbe, und sie unterschreiben.
Immer noch traut sich die Stasi mit ihrer erfundenen und erpressten Geschichte vom Attentat auf Walter Ulbricht nicht vor Gericht. Es fehlt ein angeblicher Anführer der „Bande“.
Den glaubt man in NVA-Hauptmann Rainer Grauel zu finden, einem MiG-21-Piloten aus Steinbach, der in Trollenhagen bei Neubrandenburg dient. Er erhält Flugverbot, wird von 42 IMs bespitzelt, in Arrest gesteckt, zum Soldaten degradiert und schließlich für ein Jahr eingesperrt, weil er alles nicht begreift und einfach nur nach Hause möchte. Worum es damals, Anfang der 1970er-Jahre überhaupt ging, erfährt Rainer Grauel erst nach dem Ende der DDR aus seinen Stasi-Akten. Als „Rädelsführer“