Der Taschenmesserfall. Walter Uwe Weitbrecht
Feddersen setzte sich auf eine freie Sitzbank im hinteren Teil des Busses und starrte gedankenverloren aus dem Fenster. Es donnerte und eine Druckwelle erschütterte den Bus. Feddersen lächelte zum ersten Mal seit Monaten. Otremba blickte in den Rückspiegel, sah eine Staubwolke und brummelte kopfschüttelnd: „Ein trockenes Gewitter!“, und setzte die Busfahrt unbeeindruckt fort.
Zu Hause angekommen schaltete Feddersen den Fernseher ein, um die 18-Uhr-Nachrichten im dritten Programm zu sehen. Er blickte sich um. Es lagen keine Zeitschriften herum, er war nicht über Stöckelschuhe gestolpert, alles sah wieder kühl und geordnet aus. Er vermisste Dora, auch wenn er sich über ihre Unordnung aufgeregt hatte. Jetzt fehlte sie ihm, nachdem sie ihn verlassen hatte. Er hatte Mühe diese Realität zu akzeptieren.
Seine Aufmerksamkeit wurde auf den Fernseher gelenkt.
„Wie wir soeben erfahren haben, gab es eine Explosion in einem Gebäudeteil des Chemiekonzerns Reyab“, sagte die Fernsehsprecherin, „wir schalten um zu unserem Lokalreporter vor Ort.“
Im Bild erschien der Lokalreporter Friedhelm Meyer, der mit hochgeschlagenem Kragen und Schirm vor dem Gebäudekomplex des Chemiekonzerns stand. Im Hintergrund brannte es. Das Blaulicht der Feuerwehr- und Polizeiwagen erhellte die Mauern der Gebäude im Vordergrund gespenstisch. Männer rannten scheinbar planlos hin und her.
„Können Sie sagen, was passiert ist“, fragte die Sprecherin.
„Soweit ich bis jetzt in Erfahrung bringen konnte“, berichtete Friedhelm Meyer, „gab es eine Explosion in einem Gebäudeteil, in dem Insektizide und Unkrautvernichtungsmittel hergestellt werden. Über das Ausmaß des Schadens kann man noch nichts sagen. Auch ist noch unklar, ob es sich um eine Spontanexplosion der Chemikalien oder um einen Anschlag handelte. In letzter Zeit randalierten immer wieder Demonstranten vor der Firma. Hier könnte ein Zusammenhang gesehen werden. Ein Polizeisprecher ging davon aus, dass derzeit keine Gefahr für die Bevölkerung bestünde, empfahl aber, die Fenster in der Umgebung geschlossen zu halten.“
Feddersen lächelte und schaltete den Fernseher aus. Es hatte geklappt. Dora wäre stolz auf ihren Langweiler, dachte er. Er nahm den vorbereiteten schwarzen Rollkoffer, der sein ganzes Vermögen enthielt, blickte sich nochmals um. Alles war in Ordnung. Er löschte das Licht und schloss sorgfältig die Wohnungstür ab. Er stieg in das wartende Taxi zum Flughafen und überlegte, wie jetzt wohl das Wetter in Santiago de Chile sein würde. Es war dort jetzt Winter.
Müllers Pirouette
An jenem Tag in der Stadt traf ich Herrn Müller das erste Mal, als ich in den Bergischen Hof in Gummersbach schlenderte, um im Kaufhaus nach Druckerpatronen zu suchen. Ich kannte ihn. Er wohnte in der Nähe unseres Hauses. Meist sahen wir uns, wenn ich den Gehweg mit dem Laubsauger vom Herbstlaub befreite oder kehrte. Er marschierte dann rasch vorbei, ohne zu grüßen und brummte hämisch: „Morgen, ist wieder alles voll.“
Jetzt stießen wir im Eingangsbereich des Bergischen Hofes an der Glastür aufeinander und wollten höflich den anderen vorlassen. Ich hielt die Tür auf. Da griff Müller über mich hinweg an das Glas und sagte: „Bitteschön.“ Ich trat auf die andere Seite und sagte ebenfalls: „Bitteschön.“ So sprangen wir ein Weilchen hin und her, um jeweils den anderen vorzulassen. Irgendwann wurde es mir zu bunt und ich sprang einfach durch die Türöffnung auf die andere Seite. Er schaute indigniert hinter mir her, da ich nun doch so unhöflich gewesen war, ihn nicht vorzulassen. Eilig ging ich im Kaufhaus in das zweite Obergeschoss, wo ich die Druckerpatronen fand. Früher, als es dort auch noch Computerzubehör gab, waren die Druckerpatronen billiger als beim großen Elektronik-Markt. Jetzt musste ich feststellen, dass sie teurer waren. Aber ich kaufte sie dennoch, weil ich bei dem kalten, feuchten Novemberregen keine Lust hatte, durch die ganze Stadt zu gehen.
Das zweite Mal traf ich Müller in der Buchhandlung, wo ich ein Geschenk für einen Freund suchte. Ich stand an einem Tisch mit Büchern, als Müller von einem Regal zurücktrat und mich von hinten rempelte. Er nuschelte eine Entschuldigung. Um höflich zu sein, fragte ich: „Wie geht es Ihnen?“ Er knurrte: „Gut und Ihnen?“
Ich antwortete: „Auch gut! Aber Sie humpeln ein wenig.“
„Die rechte Hüfte macht mir zu schaffen. Zu Hause komme ich kaum die Treppen hoch und hier nehmen die Schmerzen nach wenigen Schritten so zu, dass ich stehen bleiben muss. Der Arzt meinte, es sei bald ein Ersatzteil nötig“, er kicherte etwas. „Ich bin schließlich im metallischen Alter: Silber in den Haaren, Gold in den Zähnen und Eisen in den Knochen. Das Letztere ist jetzt fällig. Aber sonst geht es mir gut.“
Ich ging nicht weiter auf seine Klagen ein und fragte: „Und Ihrer Frau?“
„Ja, der geht es auch ganz gut.“
„Ganz gut klingt nicht überzeugend. Hat sie etwas?“
„Ach ja, vor zwei Wochen hatte sie einen leichten Schlaganfall mit einer Lähmung rechts und einer Sprachstörung. Das trat mitten in der Nacht auf. Ich bin aufgewacht, weil sie so unruhig war und habe sofort den Notarzt gerufen. Das hat auch hervorragend geklappt. Er kam in wenigen Minuten und hat sie mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren. Das ging so schnell, dass ich nicht einmal angezogen war, als sie abfuhren. Als ich später in die Klinik kam, lag sie schon auf der Schlaganfallstation. Das war alles sehr aufregend. Jetzt ist sie in der Rehaklinik und geht wieder recht sicher. Die Sprache ist wieder verständlich, auch wenn ihr nicht alle Wörter einfallen.“
„Da hatten sie ja ereignisreiche Wochen. Ein Glück, dass alles gut gegangen ist.“
Er drehte sich abrupt um und humpelte ohne Gruß aus der Buchhandlung auf die Straße. Ich stand für einen Moment verdattert da und wandte mich dann der Suche nach dem Geschenkbuch zu.
Das dritte Mal traf ich Herrn Müller auf dem Weg nach Hause. Es war schon dunkel und regnete. Die Straße war durch das nasse Laub etwas glitschig, weshalb ich langsamer fuhr als sonst. Auf der Kaiserstraße zur Hückeswagener Straße stadtauswärts, kurz hinter der Papierfabrik, fuhr plötzlich ein Wagen so dicht auf, dass man die Scheinwerfer nicht mehr sehen konnte. Als wir das Waldstück erreichten, scherte er mit aufheulendem Motor aus und überholte rasant. Er war auf der linken Spur schon deutlich vor mir, als von Windhagen um die Kurve ein Wagen entgegenkam. Da bremste er abrupt, riss das Steuer nach rechts und machte eine Pirouette direkt vor mir über die Straße. An der Stelle, wo im Sommer die Indianer ihre Zelte aufbauen, fuhr er polternd schräg den Hang hinunter zum Indianerdorf, touchierte krachend einen Baumstamm, überschlug sich schräg seitwärts zweimal und kam wieder auf den Rädern dort zu stehen, wo im Sommer das große Tipi stand.
Ich hatte schon automatisch rechts angehalten, brauchte einen Moment, um das innere Zittern zu überwinden und stieg mit noch weichen Knien aus. Auf dem glitschigen Boden leicht rutschend erreichte ich den Hang hinunter den zerbeulten Unfallwagen. Beim Blick durch das Frontfenster erkannte ich den bewusstlosen Müller am Steuer hängend. Er schon wieder! Ich versuchte, die Wagentüren zu öffnen, doch es war alles so verbogen, dass die sich die Türen nicht öffnen ließen. Mit dem Mobiltelefon rief ich Notarzt und Polizei. Der Notarzt kam von der Kotthauserhöhe und war zuerst da. Er und die Sanitäter scheiterten ebenfalls an den Autotüren. Mit Geheule kam dann die Feuerwehr aus ihrem nur wenige hundert Meter entfernten Stützpunkt. Die Feuerwehrmänner tauchten den Unfallort in grelles Scheinwerferlicht und öffneten den eingeknautschten Wagen mithilfe eines großen Seitenschneiders. Kreischen mit wildem Funkenflug hallte durch den Wald. Zwischenzeitlich hatte die Polizei die gesamte Straße gesperrt, sodass sich der Verkehr aus der Stadt bis in die La-Roche-Sur-Yon- und die Brückenstraße zurückstaute. Schaulustige sammelten sich auf der Straße und bedienten sich am Getränkevorrat des Notarztwagens. Einige versuchten, auf den Feuerwehrwagen zu klettern, um besser sehen zu können. Die Polizei konnte das eben noch verhindern.
Ein Kind rief: „Schau mal Mama, ein Toter!“
Müller wurde gerade auf einer Bahre von den Sanitätern den Hang hochgetragen. Als er in den Notarztwagen geschoben wurde, stand ich neben ihm. Er hob langsam die Lider, sah mich an und murmelte: „Das nächste Mal lassen