Der Taschenmesserfall. Walter Uwe Weitbrecht

Der Taschenmesserfall - Walter Uwe Weitbrecht


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war er zu Hause und saß beim Frühstück. Seine Mutter bezeugt das.“

      „Weshalb war das Opfer so früh unterwegs.“

      „Er wollte joggen, sagen seine Eltern, um für den Handball fit zu sein.“

      „Gibt es niemanden, der sonst noch in Frage kommt?“

      „Alle anderen haben kein Motiv und ein Alibi. Wenn Maximilian Gummelang nicht bald vernehmungsfähig wird, werden wir Wochen brauchen, bis wir alle Spuren abgeglichen haben.“

      „Braucht das Opfer keinen Polizeischutz?“

      „Solange er auf der Intensivstation liegt, ist er ausreichend abgeschirmt. Es gibt aber eine neue Erkenntnis. Der Stationsarzt hat mir einen Befund mitgegeben, aus dem hervorgeht, dass beim Drogenscreening Spuren von Methamphetamin im Urin gefunden wurden.“

      „Du denkst, er könnte als Folge einer Halluzination von der Mauer gesprungen sein?“ Waltraud Rausch schaute ihn nachdenklich an.

      „So weit würde ich nicht gehen, zumal es Spuren von einer zweiten Person gibt. Es könnte aber ein Hinweis sein, dass Drogen als Tötungsmotiv in die Überlegungen einbezogen werden sollten und damit ein Unbekannter als Täter in Frage kommen kann. Wir sollten diesen Neubarth, die Freundin und Klassenkameraden befragen.“

      Klaus Neubarth wohnte unweit des Finanzamtes in einem hübschen Einfamilienhaus. Er war ein smarter, sportlich angezogener Mann, etwa Mitte vierzig. Das Einzige, was Hinrich Schulte störte, waren die fünf Piercingringe am linken Ohr, sonst erinnerte er ihn an seinen Physiotherapeuten. Er führte sie in ein modern ausgestattetes Wohnzimmer mit einer Wohnlandschaft aus winkeliger Couch und Sitzblöcken, in deren Mitte ein Glastisch mit verchromten Beinen stand. Sie setzten sich auf die glatte, schwarze Ledercouch.

      „Sie kommen sicher wegen Maximilian“, begann er freundlich und rutschte etwas nervös auf dem Sitzblock hin und her. „Wir kennen uns schon lange aus dem Sportverein und sind befreundet. Maximilian ist ein guter Handballspieler, der Chancen hat, als Profi in die Bundesliga aufzusteigen. Seine Stärke im Handball ist das Werfen. Er trifft das Tor zu neunzig Prozent. Ich würde ihn gerne weiter fördern.“

      „Wissen Sie, ob er Drogen nimmt?“, unterbrach Waltraud Rausch seinen Redefluss.

      „Maximilian? Auf keinen Fall. Er ist ein absoluter Drogengegner.“

      „Wo waren Sie am Donnerstagmorgen?“, meldet sich jetzt Hinrich Schulte, der bis dahin schweigend zugehört hatte und Klaus Neubarth beobachtete.

      „Morgens hole ich immer Brötchen und nutze das, um dabei von hier bis in die Stadt und zurück zu joggen. Das hält fit!“

      Klaus Neubarth lächelte ihn dabei freundlich an.

      Sie bedankten sich und verließen das Haus.

      „So ganz gefällt er mir nicht“, bemerkte Hinrich Schulte, „er wirkt so seifig.“

      „Ich habe einen ähnlichen Eindruck“, antwortete Waltraud Rausch.

      Sie fuhren weiter zum Gymnasium und suchten den Direktor Ullrich Nather auf, ein höflicher, leicht adipöser Mann im grauen Anzug, der Zurückhaltung ausstrahlte. Hinrich Schulte schätzte ihn auf Mitte fünfzig. In seinem einfach möblierten Büro wies er ihnen zwei Stühle an einem runden Tisch in einer dunkleren Ecke zu, abseits des Schreibtisches, der am Fenster stand.

      „Was kann ich für Sie tun?“, fragte Herr Nather reserviert.

      „Ein Schüler Ihrer Schule, Maximilian Gummelang, stürzte von der Brucherstaumauer und liegt im Krankenhaus. Wir haben die Aufgabe, die Umstände zu klären. Dazu benötigen wir Informationen zum Umfeld. Können Sie uns etwas über den Schüler sagen?“ Hinrich Schulte bemühte sich um einen sachlichen Ton.

      Herr Nather dachte kurz nach, bevor er antwortete: „Er ist Schüler der 12. Klasse, in der ich den Mathematik-Leistungskurs unterrichte, an dem er teilnimmt. Seine Leistungen sind gut. Auch sonst erscheint er mir unauffällig.“

      „Wir haben die Information, dass er mit der Schülerin Lotte Lieberhausen, zwei Klassen darunter, befreundet sei. Mit dem Klassenkameraden Klaus Grimmelung soll er Streit gehabt haben.“

      Herr Nather zog die Augenbrauen hoch und mimte einen erstaunten Blick: „Von der Freundschaft mit der Schülerin Lotte habe ich keine Kenntnis. Auseinandersetzungen zwischen Klassenkameraden gehören zum Alltag einer Schule. Mag sein, dass er auch einmal mit Klaus Grimmelung einen Zwist hatte. Sie werden doch nicht auf die Idee kommen, Klaus zu verdächtigen, er habe etwas mit Maximilians Sturz von der Staumauer zu tun. Ich kann mir das nicht vorstellen.“

      Hinrich Schulte nahm die Antwort ohne Regung zur Kenntnis und bat höflich um die Adressen der beiden Schüler.

      „Meine Sekretärin wird sie Ihnen geben.“ Herr Nather stand auf, um zu signalisieren, dass das Gespräch für ihn beendet war.

      Draußen fragte Hinrich Schulte seine Kollegin: „Du hast die ganze Zeit geschwiegen?“

      Waltraud Rausch antwortete verschmitzt: „Ich wollte nicht, dass der Schlagabtausch unhöflich wird. – Warum hast ihn nicht nach Drogen in der Schule gefragt?“

      „Aufgrund seines Verhaltens wusste ich die Antwort schon.“

      Lotte Lieberhusen wohnte in Bernberg, einer Hochhaussiedlung, im fünften Stock. Natürlich war der Aufzug außer Betrieb, sodass sie die Treppe hochkeuchten und außer Atem waren, als sie klingelten. Die Mutter öffnete mit fragendem Blick die Wohnungstür. Hinrich Schulte stellte sich und seine Kollegin vor und sagte dann, noch nach Luft ringend: „Wir wollten Ihre Tochter Lotte sprechen.“

      „Ich habe von dem Staumauersturz in der Zeitung gelesen und dann gehört, dass Maximilian das Opfer war. Eine schlimme Geschichte. Lotte müsste in fünf Minuten zurück sein. Möchten Sie so lange warten?“

      Als sie nickten, führte sie die beiden Beamten in ein mit Ikea-Möbeln hübsch eingerichtetes Wohnzimmer. Sie nahmen auf der Couch Platz.

      Sie stellte unaufgefordert Tassen auf den Couchtisch: „Sie trinken doch eine Tasse Assamtee?“ Sie schenkte Schwarztee ein und stellte Zucker und ein kleines Kännchen Milch dazu. Hinrich Schulte blickte Waltraud Rausch an und nahm dann höflich einen Schluck des anregenden Tees.

      Etwa zehn Minuten später stand Lotte mit geröteten Wangen in der Tür. Das hübsche Gesicht mit blauen Augen war von einer Fülle von blonden Locken umgeben. Sie trug eine blaue, strassbesetzte Jeansbluse und die unvermeidliche wasserblaue Jeans mit den künstlich aufgerissenen, ausgefransten Löchern an Knien und Oberschenkeln. Bei der Begrüßung blickte sie die Polizisten erstaunt an, setzte sich aber artig auf einen Stuhl.

      „Du bist mit Maximilian Gummelang befreundet?“, begann Waltraud Rausch freundlich.

      „Ja“, antwortete Lotte knapp.

      „Und Klaus Grimmelung?“

      „Das ist ein Blödmann, der mich immer anmachen wollte.“

      „Gab es Streit zwischen den beiden?“

      „Es gibt kaum jemanden, der mit Klaus nicht in Streit gerät. Er macht häufig zynische Bemerkungen, was die Anderen reizt.“

      „Gab es irgendetwas Besonderes in der letzten Zeit, das Hinweise auf den Staumauersturz geben könnte?“

      „Es war wie immer. Ich kann mich nicht an etwas Besonderes erinnern.“ Lotte schüttelte den Kopf.

      „Wird in der Schule mit Rauschgift gehandelt?“

      „In den großen Pausen tauchen manchmal Typen auf, die sonst am Bahnhof herumlungern und verticken was. Das weiß jeder. Ich halte mich da fern.“

      Waltraud Rausch reichte ihr eine Visitenkarte: „Wenn Dir noch etwas einfällt, das zur Aufklärung beitragen kann, ruf mich einfach an.“

      Klaus Grimmelung fanden sie in einem Mietshaus, Am Hepel. Er war alleine zu Hause. Beide Elternteile waren bei der Arbeit. Mit etwa 1,90 m Größe überragte


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