50 Jahre Lehren und Lernen. Wolfgang Großmann

50 Jahre Lehren und Lernen - Wolfgang Großmann


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weil ich mit „Mutter“ in das von Kriegswirren ziemlich unberührte Oppach / Oberlausitz zu Verwandten von „Vater“ zog. Erst als der Krieg in die letzte, entscheidende Phase trat, kehrten wir nach Leipzig zurück.

      Von den letzten Kriegswoche in Leipzig blieb haften: Mitten auf unserer Kreuzung, von der 6 Straßen strahlenförmig abgingen, hatte man aus taktischen Irrsinn alte Männer und halbe Kinder postiert. Mit einer MG-Stellung sollten sie die Panzer aus Richtung Torgau aufhalten. Schon deren erste MG-Stöße hinterließen nur Verwundete. Eingeprägt hat sich mir das Bild der Rote-Kreuz-Schwester, die mit der Rot-Kreuz-Fahne auf die Kreuzung lief, um die Verwundeten zu versorgen. Die Amerikaner ließen sie gewähren. Dann demonstrierten sie ihre Macht: Am Fenster unseres kleinen Ladens „fetschten“ Leuchtspurgeschosse die Straße entlang; gottseidank ohne Querschläger.

      Noch ein Erlebnis aus der kurzen Besatzungszeit der Amerikaner nach dem 18./ 19.April 1945 blieb haften: Wir lebten damals zu fünft in einer kleinen Stube hinter dem Laden. Zum Schlafen mussten wir ein paar Häuser weiter in den Gastraum einer Gaststätte. Eines Abends hatten wir die Sperrstunde überzogen und wurden ziemlich barsch von einer amerikanischen Patrouille angehalten. Es war mein cleverer Opa, der „mit Händen und Füßen“ erklärte, dass wir nur schlafen gehen wollten. Das breite „Go on!“ war eine Erleichterung für uns.

      Irgendwann in den nächsten Wochen war unsere Wohnung wieder so zusammengeflickt, dass sie halbwegs bewohnbar war. Vom 3. Stock her bleibt mir unvergessen der Einzug der Russen nach dem 2.Juli 1945. Statt mit Panzern kamen sie mit Panjewagen. Auf den Ruinenfeldern neben unserem Haus biwakten sie mit Feuer, Musik und Tanz. Später – als unsere „Schlaf-Gaststätte“ wieder ein florierendes Gasthaus geworden war – gab es schon immer wieder einmal einige Russen, die dort zu viel tranken. Wurde es zu arg, fuhr ein LKW vor und von der Tür her wurden durch 2 MP’s die „Leblosen“ in hohem Schwung auf den LKW befördert, wo sie ein 3. MP mit dem Kolben „sortierte“. Andererseits haben wir nie erlebt, dass ein Angetrunkener allein gelassen wurde – und wenn er auf dem Trittbrett der Straßenbahn festgehalten wurde, damit er sich nach außen entleeren konnte.

      Am 1. Oktober 1945 zog ich mit Schiefertafel und Griffelkasten in die 16.Grundschule ein. Sie hielt mich 18 Jahre fest: 8 Jahre als Schüler und 10 Jahre als Lehrer.

      Mein Klassenleiter in der 1. Klasse ist mir in Erinnerung als alter, gütiger Mensch, was ihn aber nicht davon abhielt, uns auch mal eins mit dem Rohrstock „überzuziehen“.

      Warum erinnert sich fast jeder Mensch an den/die Klassenleiter/in der 1. Klasse? In unserer Familie erhielten wir einen Einblick dazu, als unsere Tochter die 1. Klasse besuchte. Wir hatten die kluge Idee, für sie eine kleine Schiefertafel in ihrer Spielecke aufzuhängen. Dort war ihr bevorzugter Platz: Sie war die Lehrerin und ihre Puppen die Schüler. Als heimliche „Mäuschen“ bekamen wir alles mit, was sich am Vormittag in der Schule ereignet hatte. Diese Erkenntnis habe ich später in der Lehre der Entwicklungspsychologie immer wieder betont: In der 1. Klasse hat in Erziehungsfragen nur einer das „Sagen“: der Lehrer (vor allem, wenn er gut ist!). Eltern können in diesem Alter ihrer Kinder keinen größeren Fehler machen als dagegen zu opponieren – im schlimmsten Fall vor dem Kind. Der Lehrer ist die „Lichtgestalt“, die dem Kind eine ganz neue Welt eröffnet.

      Das verleidet leider einige Lehrerkollegen – insbesondere Frauen – zur Meinung, diese besondere Wirkung halte lange über die 1. Klasse hinaus an. Als stellvertretender Direktor und als Direktor hatte ich immer wieder Diskussionen mit Kollegen, die vorrangig in der 1. Klasse, maximal in der 2. Klasse eingesetzt werden wollten („Glucken-Syndrom“). Sie scheuten sich, den Entwicklungsprozess mitzugehen, zu begleiten, sogar zu forcieren, dass sie die Schüler in der 3. und 4. Klasse immer mehr „von sich weg“ schieben damit das Team die „Bestimmer-Rolle“ einnimmt.

      Mit der Schulreform 1946 in der sowjetischen Besatzungszone verschwand der ältere Herr und mit ihm der Rohrstock. Wir bekamen eine junge, anfangs noch unverheiratete Lehrerin, die uns mit ihrem Engagement und mit ihrem Enthusiasmus in den Klasse 2-4 geprägt hat. Sie war es auch, die mir taktvoll über eine peinliche Situation hinweggeholfen hat. Weil ich eine zu große „Tolle“ auf dem Kopf trug, ging mein Vater mit mir zum Frisör und gab ihm die Anweisung „alles runter“. Der Frisör nahm das wörtlich und verpasste mir einen Kahlschlag. Ich schämte mich unendlich vor meinen Mitschülern. Frl. M. nahm das Ganze mit Humor und erlaubte mir (ausnahmsweise!) in den ersten Wochen im Unterricht die Mütze aufzubehalten. Später half mir das vielleicht, als ich am Ende meiner „Lehrer – Zeit“ junge Libyer in Deutsch unterrichtete. Sie standen unter dem Kommando des Militärattachés der libyschen Botschaft in der DDR und der hatte kurzerhand einem „Nicht-Fleißigen“ den Kopf scheren lassen. Und so sollte er als 18-Jähriger vor den Jugendlichen, ganz besonders vor den Mädchen, in einer Berufsschule erscheinen! Meine Erlaubnis zur Mütze entschärfte auch hier die Situation!

      Meine damalige Klassenleiterin, Frl. M., war auch großzügig in der Auslegung des Lehrplanes. Denn die Lehre der „deutschen Schrift“ (Sütterlin) stand bestimmt nicht drin! Ihrem Unterricht verdanke ich es, dass ich Sütterlin heute zumindest noch lesen kann. Das half mir während meines Geschichtsstudiums beim Lesen alter Akten und erleichterte mir den Umgang mit schriftlichen Unterlagen meines Vaters, der sich erst allmählich von der Sütterlin-Schrift zu einem Mischmasch von Sütterlin und lateinischer Schrift bewegte.

      In den rauen Nachkriegsjahren hielt sich unsere Familie eher schlecht als recht mit dem kleinen Milch- und Lebensmittelladen über Wasser. „Spiritus rector“ war mein Opa. Er hatte sich – vom Lande kommend – den nunmehr zerstörten Laden aus eigener Kraft aufgebaut. Er sorgte dafür, dass keiner von uns hungerte. Für mich war immer etwas da, was mit Milch zusammenhing: Milch, Quark, Käse. Sie gehören noch heute zu meinen Lieblingsspeisen. Als mein Opa 1950 starb, war das für mich ein tiefer persönliche Einschnitt und das „Aus“ für den Laden „auf Raten“. Eine kaufmännische berufliche Zukunft war deshalb für mich nie ein Thema.

      Angesichts der ca. 15 Familien im Haus war die Zahl von 15-20 Kindern nicht ungewöhnlich. So viele passten aber nicht auf den Hof, zumal der Hof betoniert, oft voll Wäsche oder blockiert war durch Gegenstände aus den Läden im Erdgeschoß. Das größte Problem für uns Kinder war ein sehr strenger Hausmeister, der stets bei einem gewissen Lärmpegel einschritt. Aus dieser Situation entwickelte sich eine altersheterogene Spielgruppe, wie man sie heute wohl kaum mehr findet. Unter dem Kommando von 2 älteren Mädchen (15-16 Jahre) fanden sich vom Kleinkind bis zum Jugendlichen etwa 15 Heranwachsende zusammen und zogen mit Kinderwagen und Essen und Trinken in einen nahegelegenen kleinen Park, den Volksgarten. Selbst wir 3 „halbwüchsigen“ Jungen von ca. 8 Jahren waren nur manchmal „aufmüpfig“, meist aber froh, wenn einer von uns beim Familienspiel im Volksgarten die „Vaterrolle“ übernehmen durfte. Nach einigen Stunden kam die ganze Truppe dann wohlbehalten wieder in unserem großen Eckhaus an.

      Im Herbst bestimmte die Herbstmesse das Bild der Stadt. Parallel interessierten wir uns als Kinder für den „Tauchschen“1. Wir verkleideten uns, vorwiegend als Trapper oder Indianer und dann begannen die meist nur angedeuteten Auseinandersetzungen Straße gegen Straße, beispielsweise Graßdorfer Straße gegen Edlichstraße. Das ging solange, bis der Ruf ertönte: „Es geht gegen (den benachbarten Stadtteil) Schönefeld!“. Dann sammelte sich die ganze Meute aus verschiedenen Straßen auf den zwei Brücken der Verbindungsstraße zu Schönefeld. Zwischen diesen beiden Brücken ging es ständig hin und her mit „Vorstößen“ und „Rückzügen“. Selten kam es dabei zu echten Keilereien. Die Leidtragenden waren meist die anliegenden Gartenbesitzer, die regelmäßig nach dem „Tauchschen“ einige zweckentfremdete Zaunlatten ersetzen mussten.

      In den Klassen 7 und 8 bekamen wir einen neuen Klassenleiter: Herrn F. als Deutsch- und Geschichtslehrer. Er hat – für mich zunächst völlig unbewusst – meinen Berufswunsch „Deutsch- und Geschichtslehrer“ beeinflusst. Mich beeindruckte sein Wissen, seine Ruhe und Ausgeglichenheit und sein Gerechtigkeitssinn. Leider war er gesundheitlich nicht in der Lage, mit uns große Ausflüge und Wanderungen zu unternehmen. Dafür passte haargenau der Klassenleiter unserer Parallelklasse, Herr M. In seinem Unterricht ging es immer locker zu und die Wanderfahrten und Badeausflüge mit ihm und seiner Familie waren für uns in diesem Alter genau das Richtige. Er hatte


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