50 Jahre Lehren und Lernen. Wolfgang Großmann
ein-bzw. auszusteigen. Zu diesem Zweck hatten wir die Gruppe in zwei 5-er Gruppen aufgeteilt, eingedenk der Erkenntnis, dass man 5-7 Dinge plus/minus 2 wahrnehmen kann! So haben wir auch im größten Gedränge nie einen verloren.
Zu den Weltfestspielen 1973 sah die Situation schon anders aus: Als stellvertretender Direktor war ich neu an der 18. Polytechnischen Oberschule. Die Verbindung zu den Schülern war noch nicht so eng und für das Übernachten in Massenquartieren war ich wohl schon etwas zu alt. So nutzte ich den Tod Walter Ulbrichts für ein fingiertes Telegramm, das mich vorzeitig nach Hause rief.
Doch zurück zur EOS: In Erinnerung ist mir mein Klassenleiter geblieben, Herr T. Er war etwas skurril, aber liebenswert. Mit der Position, man muss so von zu Hause weggehen, dass man die Schule/Arbeitsstätte zu Fuß erreicht, zerpflückte er all unsere „Zuspätkomm“-Argumente. Wir konnten schlecht widersprechen, weil er das nicht nur postulierte, sondern selbst realisierte, obwohl er in Lindenau (also in der anderen Stadthälfte) wohnte. Außerdem meinte er: Wenn ich ein Buch über eine Stunde suchen soll, ist mir die Zeit zu kostbar! Dann kaufe ich es lieber neu (aber nur bei DDR-Bücher-Preisen!).Ich muss gestehen, dass ich seine Gutmütigkeit einmal ausgenutzt habe. In der Mathematik-Prüfung zur Mittleren Reife wurde ich beim Spicken von der kompromisslosen Biologie-Lehrerin erwischt. Vor Herrn T. habe ich wortreich meine Unschuld beteuert. Es hatte keine weiteren Konsequenzen für mich.
Direktor der Schule war Herr M., Verdienter Lehrer des Volkes. Durch den Krieg war er beiderseitig beinamputiert. Trotz dieses Handicaps marschierte er bei der 1.-Mai-Demonstration immer an der Spitze des Zuges, obwohl er aufgrund seiner Stellung mindestens 2 Tribünenplätze erhalten hätte. (Und da wurde noch wirklich marschiert: von den Stadtbezirken strahlenförmig in die Innenstadt. Nicht wie später: Treffen in der Innenstadt; um 3-4 Ecken, dann an der Tribüne vorbei.) Dieses Beispiel hat uns mächtig imponiert und kaum einer von uns hat sich bei der Mai-Demonstration verdrückt.
Einen zweiten, viel profaneren Anreiz gab es allerdings auch. In den meisten Demonstrationen marschierte die Schule hinter dem Patenbetrieb. Und das war die Riebeck-Brauerei. Zum Umzug gehörten immer ein paar echte Brauerei-Wagen, gezogen von einem Vierer-Gespann von „Riebeck-Pferden“ und meist gefüllt mit echtem Bier, das nicht unbedingt wieder zur Brauerei zurückgeführt wurde.
Eingeprägt hat sich mir auch unser Biologielehrer. Er war von seiner auf Klassifikation beruhenden Wissenschaft so eingenommen, dass wir nur einige Fragen zu zurückliegenden Themen stellen brauchten. Schon setzte er mit seinem Vortrag dort wieder ein – wie bequem für uns. Seine Tochter gehörte zu unserer Parallelklasse. Sie haben wir immer bedauert, weil sie bei jedem Blödsinn der Klasse die Leidtragende war. Damals ist in mir die feste Überzeugung entstanden, niemals die eigenen Kinder in der Schule zu unterrichten – das habe ich auch durchgehalten.
Die 11. und 12 Klasse ist für mich verbunden mit der Reminiszenz an meinen Deutsch-Lehrer, Herrn M. Wir bewunderten ihn ob seiner Fähigkeit, kurze Zeit, nachdem er laut geworden war, wieder in einem ruhigen, entspannten Ton überzugehen. Er verriet uns einmal, wie da möglich war: „Ich rege mich doch nicht wirklich auf – da ist nur pädagogischer Zorn!“ An diese Äußerung habe ich mehrfach in meinem Lehrer-Leben versucht, anzuknüpfen. Gelungen ist es mir nur manchmal.
Herr M. hat dann deutlich meine Liebe zur Literatur und damit mein Deutsch-Lehrer-Dasein geprägt. .Noch heute bewahre ich die Aufsätze aus dieser Zeit auf: „Nora“ oder „Ein Puppenheim“ (Henrik Ibsen) – die Ehe der Nora Helmer“, „Germinal“, Zola und der Naturalismus“ und ganz besonders „Im Weiterschreiten find er Qual und Glück; er, unbefriedigt jeden Augenblick“ – die Entwicklung Fausts“.
In der 12. Klasse wurde die Entscheidung zur Studienwahl immer drängender. Lieblingswunsch meiner Mutter wäre das Medizinstudium gewesen. Sie hätte es selbst gern absolviert, aber als 2.Mädchen bei 5 Geschwistern war das nicht zu realisieren. Meine Leistungen hätten dafür auch nicht gereicht. Echter Liebeskummer ausgerechnet in der Zeit der Abitur-Prüfungen machte die Sache noch schlimmer.
Meine Mutter stammte aus einer Eisenbahner-Familie. So reifte langsam der Entschluss, diese technische Richtung einzuschlagen. Die staatliche Festlegung, dass alle Studien-Anfänger auch in der Eisenbahner-Richtung vor Studienbeginn einen Berufsabschluss vorweisen mussten, führte dazu, dass ich am 01.09.1957 eine Lehre als Berufs- und Verkehrseisenbahner am Reichsbahnamt Leipzig, Ausbildungsdienststelle Bahnhof Altenburg, begann.
2. Lehre und Studium (1957-1962)
Auch hier leistete ich mir eine Besonderheit: die Ausbildungsdienststelle musste für mich zunächst ohne Leistung von mir Lehrlingsentgeld zahlen, weil ich mit einer Blinddarmoperation ins Krankennhaus eingeliefert wurde.
In der Berufsschule des Reichsbahnamtes wurden wir ehemaligen EOS-Schüler in einer Klasse zusammengefasst und unsere Ausbildung auf zwei Jahre reduziert. Wir müssen gegenüber den anderen Lehrlingen wohl ganz schön hochnäsig aufgetreten sein. Das hat mir meine Frau öfter aufgetischt – den das war das wichtigste Ergebnis meiner Lehrlingszeit: Ich habe dort meine Frau kennengelernt.
Noch etwas blieb im Gedächtnis haften: Ein Schulkamerad aus der Grundschul- und EOS-Zeit hatte mich nach Berlin eingeladen. Dazu brauchte ich eine Genehmigung der Ausbildungsdienststelle. Die bekam ich nur bei meiner Verpflichtung, West-Berlin nicht zu besuchen. Mein Klassenkamerad als inzwischen eingefleischter Berliner – der k-Laut anstelle von „ch“ gehörte fest zu seinem Repertoire – zerstreute meine Bedenken und mich lockte der „Westen“. Am S-Bahnhof Friedrichstraße glaubte ich jemand aus meiner Ausbildungsgruppe zu erkennen – war mir aber nicht sicher.
Viel später – in der Funktion des Schulparteisekretärs – gab es die einzigartige Möglichkeit, Einblick in die eigene Kaderakte zu nehmen. Siehe da – ich hatte mich nicht geirrt. Die Kaderakten enthielten eine Notiz, dass ich trotz meiner Zusicherung die Grenze zu West-Berlin überschritten hätte.
Am Ende der Ausbildungszeit setzte wieder das Ringen ein, wer erhält die Erlaubnis an der Verkehrshochschule in Dresden zu studieren. Außer einigen „Auserwählten“ sollten wir anderen auf verschiedene Bahnhöfe im Reichsbahnamtsbezirk Leipzig verteilt werden. Das hätte bedeutet, dass allein der Dienststellenvorsteher entschieden hätte, ob und wann wir zum Studium zugelassen werden. Dieser Weg war mir eindeutig zu unsicher. Ich besann mich auf meine Vorliebe für Deutsch und Geschichte und bewarb mich für ein Lehrerstudium.
Ende Juni 1959 hielt ich meine Zulassung für ein Studium als Deutsch- und Geschichtslehrer für die 10-klassige polytechnische Oberschule in den Händen. Die Deutsch-Ausbildung sollte am Pädagogischen Institut Leipzig, die Geschichts-Ausbildung an den historischen Instituten der Universität Leipzig erfolgen.
Das Studium begann mit einem 14-tägigen Vorbereitungslehrgang im GST-Lager Bärenstein. Die militärischen Grundübungen waren zu ertragen; wichtiger war das gegenseitige Kennenlernen. Hier wurde ich wieder zum FDJ-Sekretär gewählt.
Im Laufe des ersten Studienjahres spürten wir allmählich den Unterschied im Studienbetrieb am PI und an der Universität. An den historischen Instituten der Universität bekamen wir (in den meisten Fällen) Spezialisten des Faches als Dozenten; manche so von ihrem Fach begeistert, dass sie uns mitrissen – manche ziemlich trocken – und dann noch im Anatomie-Hörsaal an einem Wochentag 17.00 Uhr! Es blieb jedem selbst überlassen, wie er sich angesprochen fühlte und was er für sein eigenes Wissen tat. Bei der nächsten Prüfung zeigte es sich dann, was jeder Einzelne wirklich „drauf“ hatte.
Ganz anders am PI. Es war mehr oder weniger eine Fortsetzung des Schulbetriebes, bis hin zur Anwesenheitskontrolle. Wir gewöhnten uns schnell an diese Atmosphäre und waren eifrig dabei, uns mit einer Studentin unserer Gruppe auseinanderzusetzen, die mit den Inhalten und der Atmosphäre nicht zurechtkam. Nach mehreren Aussprachen blieb sie weg. Also fuhren der FDJ-Sekretär und eine etwas ältere Studentin zu ihr und ihren Eltern nach Zwickau, um erneut mit ihr zu reden. Sie bekamen wir leider gar nicht zu Gesicht und mit den Eltern fanden wir auch keinen gemeinsamen Nenner. Das Ereignis – ideologisch verpackt – fand Eingang in den Beitrag unserer Seminargruppe zum Kulturwettstreit:
(1)