Duft von Walderdbeeren. Ljubica Perkman
Pass gut auf das Kind auf. Gott wird es dir vergelten! Ich bitte dich noch einmal! Das darf niemand erfahren, dass ich es dir erzählt habe. Wir werden beide sterben«, bat Stojana eindringlich.
»In Ordnung«, sagte Mila, »ich werde es niemals jemandem erzählen.«
Stojana, die sonst oft Intrigen schmiedete, war in dieser Stunde Milas Vertraute geworden.
Und Mila dachte: »Lieber Gott, wo bin ich gelandet? Was ist das hier für eine Hölle?«
Sie schluchzte und dann schrie sie: »Liebe Mutter und meine Brüder, wenn ihr mich doch nur retten könntet.«
Für einen kurzen Augenblick überlegte Mila, wegzulaufen, spurlos zu verschwinden. Aber das durfte sie nicht. Ihre Brüder würden sie finden und die Strafe wäre fürchterlich.
Die Worte ihrer Eltern kamen ihr in den Sinn: »Nur die schlechten Ehefrauen kommen zurück nach Hause. Vom Ehemann bekommt sie Schläge, weil sie nicht gut genug ist. Eine Frau muss erdulden!«
Mila musste duldsam sein. Sie hatte große Angst vor Jovan, dass er sie eines Tages umbringen würde. Aus Mitleid kümmerte sie sich um das Baby, als wäre es ihr eigenes und begann es langsam zu lieben. Als Dana größer wurde, heiratete sie einen Mann, den sie liebte. Mila bekam in diesem dunklen freudlosen Haus noch neun weitere Kinder und zog sie groß. Abends trug sie ihren Kindern epische Gedichte vor, sie kannte sie alle auswendig. Im Haus selbst gab es keine Bücher. So erfuhren die Kinder nie, woher sie die Lieder und Gedichte kannte, die sie ihnen aufsagte. Oft zeigte die Mutter auf den Berg gegenüber und sagte: »Schaut Kinder! Dort wurde ich geboren. Dort ist mein Heimatdorf.«
Wer weiß, ob die Wege inzwischen dort alle überwuchert sind? Ob die Mauern des Hauses überhaupt noch standen? Warum hatte Mila ihre Kinder nie dorthin mitgenommen und ihnen ihr Heimatdorf gezeigt?
Die Kinder gingen mit der Mutter oft durch den Fluss und pflückten am anderen Ufer Haselnüsse. Bis zu Milas Heimatdorf war es nicht so weit. Vielleicht wollte sie nicht zurück in ihre schwere Kindheit, in ihre Vergangenheit.
Es kann nicht jeder glücklich sein
An einem warmen Junimorgen klopfe es an Milas Tür. Mila unterbrach das Gespräch mit ihren beiden Söhnen Marko und Brandil und sah Brandil fragend an, der aufstand um die Tür zu öffnen. Draußen stand ein ihnen unbekannter Mann mittleren Alters. Er war mittelgroß, hatte dichte dunkle Augenbrauen, war schlank und trug ein grau gestreiftes Jackett zu grauen Hosen. Er wirkte nicht, als sei er aus der Gegend. Ein Hauch von Großstadt haftete ihm an.
Ohne Umschweifen kam er zum Thema: »Ich heiße Ranko. Meine Cousine Dusanka sagte mir, dass ihr schöne Töchter habt. Ich bin gekommen, um für eine Ihrer Töchter zu werben. Ich möchte sie heiraten.« Drei Augenpaare schauten ihn verwundert aus dem Inneren des Hauses an.
Lenas Bruder Marko war, ebenso wie Brandil, volljährig und bedeutete dem Unbekannten mit einer Handbewegung, herein zu kommen. Er bat ihn, sich zu setzen und fragte: »Woher kommst du Ranko?«
Ranko räusperte sich und antwortete: »Ich lebe und arbeite in Rijeka.«
Mila, Lenas Mutter, betrachtete den Fremden skeptisch »Wie alt bist du Ranko?«, wollte sie von ihm wissen. Dabei sah sie ihn aufmerksam an.
Ranko schwieg eine Weile, als müsste er erst darüber nachdenken wie alt er sei, dann antwortete er mit rauer Stimme, dass er dreiundzwanzig Jahre alt sei. Dabei senkte er den Blick, um Milas auszuweichen.
Erst viele, viele Jahre später sollte Lena nach einer langen und schweren Zeit erfahren, dass er gerade gelogen und rund fünfzehn Jahre älter war, als er es der Mutter erzählt hatte. Zu Lenas Unglück war von allen Mädchen heute nur sie zu Hause. Lena war erst siebzehn Jahre alt.
Der Fremde beäugte Lena von allen Seiten. Sie war jung, schön und naiv. Lena war schlank, hatte langes blond gelocktes Haar und grüne Augen. »Eine sehr attraktive junge Frau«, dachte Ranko und leckte sich kaum sichtbar die Lippen.
Milas Stimme klang brüchig als sie schließlich sagte, dass sie keine heiratsfähigen Kinder hätte.
Ihre neunzehnjährige Tochter Maja hatte erst vor zwei Wochen geheiratet und Lena sei noch zu jung.
»So jung ist sie gar nicht«, erwiderte Ranko schnell, »und sie ist sehr schön!«
Lena bekam große Angst und wollte so schnell es ging aus dem Haus. Sie lief zur Tür, um das Gespräch nicht weiter anhören zu müssen, doch Marko rief sie zurück. Mit hängenden Schultern und Tränen in den Augen machte Lena auf dem Absatz kehrt. Sie hoffte inständig, dass ihre Brüder zu ihr halten und den Fremden wegschicken würden.
Mila lebte mit ihren Kindern auf dem Dorf und sie waren sehr arm. Rankos Cousine hatte ihm bereits erzählt, dass die Familie mittellos war und er bemerkte es sofort beim Eintreten ins Haus. Wie es auf dem Land üblich war, brachte er Almosen mit und zog sodann aus seiner Hosentasche 500 Dinare. Wortlos legte er das Geld auf den Tisch. Die beiden Brüder sahen sich fragend an, dann blickten sie zu Ranko.
»Das soll für Lena sein und ich nehme sie mit nach Rijeka«. 500 Dinare waren Ende der 1960er Jahre sehr viel Geld.
»Lena«, sagte die Mutter nach einer Weile in das Schweigen, »Ranko möchte, dass du ihn nach Rijeka begleitest. Es scheint, als sei er ein guter Mann und er wird sicher gut für dich sorgen. Zieh dich an und kämme dich, pack ein paar Sachen und begleite Ranko.«
Lena war wie vom Donner gerührt. Die Mutter wollte sie fortschicken! Das konnte sie doch nicht tun?
»Nein«, antwortet Lena bestürzt. »Ich gehe nicht mit Ranko! Ich kenne ihn nicht und ich weiß nicht einmal wo Rijeka ist!«
»Doch, Lena. Es ist besser so, Ranko wird für dich sorgen.« Mutters Stimme klang müde, als sie das sagte. Die Brüder waren damit nicht einverstanden, doch Mila dachte, sie tue ihrer Tochter etwas Gutes. Sie kannte Rankos Cousine und hoffte, das Lena in Rijeka ein besseres Leben führen würde, als hier verarmt auf dem Land. Lena begann zu weinen.
Es schien Lena, als würde sich das Schicksal ihrer Mutter für sie wiederholen. Nun musste auch sie gegen ihren Willen mit einem fremden Mann in eine ihr unbekannte Stadt gehen. Den ganzen weiten Weg nach Rijeka weinte Lena im Zug. Ranko schwieg und sah Lena freudig bei ihrem Leid zu, er genoss ihre junge Verzweiflung. Lena verließ ihr elterliches Haus ohne Hochzeitsfeier und ohne Eheversprechen, ohne Glück. Und Ranko hatte nichts davon gesagt, dass er eine Frau und ein Kind in Otoccu, nahe dem Meer hatte. Als sie in Rijeka ankamen, mussten sie in den Autobus umsteigen und fuhren wieder eine scheinbar endlose Zeit, um an einer Haltestelle weitab des nächsten Ortes auszusteigen. Nach einem anstrengenden Fußmarsch bergan, standen sie schließlich in einer einsamen alten Holzhütte mitten im Wald, die Ranko angemietet hatte. Die Hütte war nur sehr spärlich mit einem Bett und ein Gasherd eingerichtet. Aber es schien, als hätte diese Hütte schon vieles gehört und gesehen und würde diese sprechen können, was hätte sie alles zu erzählen?
Für Lena schien die »Hochzeitsnacht« niemals enden zu wollen. Es war das Grauenhafteste, was sie je erlebt hatte. Ein schweres Schicksal erwartete sie. Das wusste sie nun nach dieser Nacht! Lena kannte bis daher keine Küsse und wusste nicht, was Liebe war. Sogleich wurde sie schwanger und erwartete ihr erstes Kind. Sie durfte niemanden von ihren Sorgen und Nöten erzählen; weder ihrer Mutter, noch ihren Brüdern. Niemand erfuhr, was sie alles ertragen musste.
Der Postbote brachte oft Briefe mit Bildern von Rankos Frau und Kind. Aber er leugnete immer wieder, dass er verheiratet sei. Und jedes Mal, wenn Lena nach der Frau und dem Kind auf den Fotos fragte, verprügelte Ranko sie. Erst viele Jahre später, kurz vor der Trennung von ihrem Mann, erfuhr Lena, dass er oft bei seiner Frau und ihrem Kind gewesen war und sogar mit seiner eigenen Tochter ein Kind gezeugt hatte. Seine erste Frau hatte er wiederholt so sehr geschlagen, dass sie an den Folgen der Verletzungen verstorben war.
Lena bekam mit Ranko zwei Kinder und hatte in fünfundzwanzig Jahren neun Abtreibungen. Ranko war es egal, ob sie ein Kind austrug oder es abtreiben ließ.