Dialektik des geisteswissenschaftlichen Universums. Horst-Joachim Rahn

Dialektik des geisteswissenschaftlichen Universums - Horst-Joachim Rahn


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Der Schweizer Journalist W. Ludin wirft die entscheidende Frage auf: „Es gibt Milliarden von Menschen. Warum gibt es so wenig Menschlichkeit?“ Wieso wird die oben gepriesene Menschlichkeit nicht überall im Kleinen und auch im Großen praktiziert? In Mikrosicht eruieren wir: „Bei den meisten Erfolgsmenschen ist Erfolg größer als die Menschlichkeit“ (D. du Maurier). In Makrosicht kann auch aktuell festgestellt werden: „Die fürchterlichen Massaker wurden niemals von Skeptikern oder Nihilisten verübt, sondern von Gläubigen und Utopisten, im Namen von mächtigen Idealen“ (R. Burger). Und für die Politik gilt: „Geschickte Reden und eine zurechtgemachte Erscheinung sind selten Zeichen der Mitmenschlichkeit“ (Konfuzius). Nicht wenige Menschen haben mit der Menschlichkeit nicht nur gute Erfahrungen gemacht: „Wer sich in unserer Gesellschaft menschlich zeigt, unterliegt der Gefahr, ausgenutzt zu werden.“* Deshalb kommt G. Uhlenbruck zu keinem erfreulichen Ergebnis: „Mensch zu sein, das ist heute ein Risikofaktor.“ In anderer Sicht wird Menschlichkeit vorgetäuscht, aber nicht dementsprechend gehandelt: „Sie trinken heimlich Wein. Und predigen öffentlich Wasser“ (H. Heine). Die deutsche Lyrikerin R. Bloch folgert: „Wir sind dort verloren, wo die Menschlichkeit ihr Gesicht verliert.“

      ► Mögliche Synthese mit Oscar Wilde, der liberal reagiert: „Jeder Mensch hat seinen wunden Punkt und erst das macht ihn menschlich.“ Diese Sicht trifft aber nur partiell zu. Die Menschlichkeit wird meistens erst dann zum wirklichen Thema, wenn wir Menschen sie entbehren müssen. Leider verzeichnen wir auch in unserer Gesellschaft eine zunehmende menschliche Kälte und teilweise einen Mangel an Menschlichkeit, beispielsweise wenn Menschen brutal zusammengetreten werden, obwohl sie hilflos am Boden liegen. Die Aggressionen von Menschen kommen hier an eine Schmerzgrenze.163 „Was nutzt das Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Würde des Menschen, wenn Menschenrechte mit Füßen getreten werden? Um der Menschlichkeit wieder mehr Geltung zu verschaffen, dürfen wir alle nicht müde werden, durch eigenes Vorbild und bewusstes und zielgerichtetes Verhalten gegen die Unmenschlichkeit anzugehen.“* Und wir stellen resignierend fest: „Solange Menschlichkeit nur von den anderen gefordert wird, wird das nichts.“* Außerdem: „Ohne den konsequenten Kampf gegen die sozialen Missstände in unserem Landes werden wir das Böse nicht in den Griff bekommen, zumal die Untugenden immer stärker vorankommen.“* Vor allem: „Menschlichkeit bedeutet Herzenswärme.“* Zum Schluss noch die Erkenntnis: „Jeder Mensch ist verdammt, bis in ihm die Menschlichkeit erwacht“ (W. Blake).

      Eine Untugend ist im Gegensatz zur Tugend die mangelnde Gesinnung eines Menschen. * Untugenden sind Laster, also die das übliche Maß überschreitenden Gewohnheiten, Neigungen und Willensrichtungen.164 Untugenden äußern sich in schlechten Angewohnheiten von Menschen und werden deshalb als für den Einzelnen und für die Gemeinschaft als schädlich angesehen. Was als Untugend bzw. als Laster angesehen wird, ist in hohem Maße von der Meinung innerhalb einer Gesellschaft abhängig. Beispiele für Untugenden sind Wollust, Zorn, Lüge, Eitelkeit, Geiz, Faulheit, Neid und Stolz.165 In der Welt des geisteswissenschaftlichen Universums sollten wir die Untugenden zwar kennen, aber zu meiden versuchen. Auch die Untugenden werden in dialektischer Sicht vorgestellt.

      Der Stolz bezeichnet das stark ausgeprägte Selbstwertgefühl eines Menschen. Die Ausprägungen des Stolzes reichen von der positiven Interpretation als berechtigte Freude über eine eigene Leistung (z. B. über einen erfolgreichen Studienabschluss) oder stolz auf einen Freund zu sein, bis hin zu negativer Wertung als übertriebenes Selbstbewusstsein, z. B. Hochmut, Eitelkeit, Hochnäsigkeit, Arroganz, Prahlerei, Überheblichkeit und Narzissmus.166 Der Stolz zählt als Untugend zu den 7 Todsünden. „Der Stolz ist vielfach gleich, verschieden sind nur die Mittel und die Art, ihn an den Tag zu legen“ (La Rochefoucauld). Der Stolz kann auf sich selbst, aber auch auf gesellschaftliche Anerkennung ausgerichtet sein. Er zeigt sich in Gebärden und Gesten, z. B. in einer aufrechten Körperhaltung (positiv) bzw. wenn „die Nase hoch getragen wird.“ Gibt es Zusammenhänge zwischen Stolz und Arroganz? „Arroganz entsteht, wenn der persönliche Erfolg schneller wächst als die eigene Persönlichkeit.“ (S. Kühne). „Arroganz ist die Karikatur des Stolzes“ (E. Freiherr von Feuchtersleben). Dagegen ist Selbstachtung eine positive Pflicht, um das Wertvolle zu erhalten und das Unwürdige zu entfernen. „Wird Stolz sich seiner bewusst, so ist er Eitelkeit“ (W. Rathenau). Das Gegenteil von Stolz ist Demut. „Man kann nicht früh genug die Erfahrung machen, wie entbehrlich man in der Welt ist“ (J.W. von Goethe). Demgegenüber gibt es leider auch den falschen Stolz: „Mancher ertrinkt lieber, als dass er um Hilfe ruft“ (W. Busch). Hochmut ist schwierig zu bekämpfen. Hier ist Selbsterkenntnis nötig. Hilft es, Bescheidenheit dagegenzusetzen? „Oft täuscht man sich, wenn man glaubt, durch Bescheidenheit den Hochmut bezwingen zu können“ (N. Machiavelli). Wie zeigt sich der Stolz?

      ► Der Stolz zeigt sich im Selbstwertgefühl des Menschen: „Stolz kommt von innen, er ist die direkte Hochschätzung unserer selbst“ (A. Schopenhauer). „Der Stolz ist die berechtigte Freude darüber, etwas Besonderes geleistet zu haben“ (unbekannt). Auf seine Höchstleistungen kann der Mensch stolz sein. Mancher lebt aber mit seinem Stolz in einer anderen Welt: „Traumprinzen wohnen in Luftschlössern“ (A. Adler). Oftmals kommt dann das Erwachen zu spät. Trotzdem muss auch eine Niederlage nicht in Depression enden: „Eine stolz getragene Niederlage ist auch ein Sieg“ (M. von Ebner-Eschenbach). Nach dem Motto: „Kopf hoch, wenn der Hals auch dreckig ist“ (Sprichwort).

      ► Demgegenüber sind Hochnäsigkeit und Überheblichkeit Untugenden, die dem Menschen schaden: „Wer von oben herabschaut, ist nicht stolz, sondern arrogant“ (E. Blanck). Noch besser: „Wer glaubt etwas zu sein, hat aufgehört, etwas zu werden“ (Sokrates). Ähnlich: „Dummheit, Stolz und Unverschämtheit sind Blutsverwandte“ (aus Russland). Wogegen müssen wir angehen? „Ärger, Stolz und Neid sind unsere wahren Gegner“ (Dalai Lama). Jeder sollte die Folgen seines Verhaltens durchdenken, denn man kann sehr tief fallen: „Wer abhebt, benötigt einen guten Fallschirm.“* Etwas deftiger: „Ein Esel bleibt immer ein Esel, auch wenn sein Sattel aus feinstem Leder ist“ (aus Türkei). Interessant ist auch die folgende Erkenntnis: „Stolze Menschen hassen Stolz bei anderen“ (B. Franklin). Deshalb verwundert uns nicht: „Unter den Stolzen ist immer Hader“ (Sprüche 13,10). Stolze reagieren oft falsch: „Demütigung beschleicht die Stolzen oft“ (J.W. von Goethe). Zum Schluss: „Der Stolze verzehrt sich selbst“ (Ch. W. von Gluck).

      ► Fazit: Der wirklich Erfolgreiche weiß: „Wer stolz auf sich selber ist, braucht wenig Komplimente“ (A. Marti). Auch gilt: „Ein stolzer Mensch verlangt von sich das Außerordentliche, ein hochmütiger schreibt es sich zu“ (M. von Ebner-Eschenbach). Es stimmt auch: „Dummheit und Stolz wachsen auf einem Holz“ (Sprichwort). Sie schaden uns: „Stolz ist das Haupthindernis auf dem Wege der Entwicklung“ (Dalai Lama). Geltung, Ansehen und Macht werden zur Bedrohung, wenn das Geltungs- und Machtstreben ausartet. Und es gilt: „Zu viel Stolz lässt kaum Platz für Weisheit“ (C.K. Rath). „Wer aus Geltungssucht zum Streber wird, denkt nur an seine Karriere und schiebt alles beiseite, was ihm im Wege steht. Er ist sogar bereit, seinen Glauben und seine Religion aufzugeben, wenn er dadurch sein Ziel erreichen kann“ (Auszug aus dem Katholischen Katechismus für Erwachsene). Merke: „Den Stolz hat Gott noch stets vernichtet und Demut immer aufgerichtet“ (K.L. Immermann). So mancher Hagestolz täuscht sich enorm:

       „Manche Hähne glauben,

       dass die Sonne ihretwegen aufgeht“

       (T. Fontane)

      Dazu Goethe: „Wie gerne säh ich jeden stolzieren, könnt er das Pfauenrad vollführen.“ Und: „In Wirklichkeit ist vielleicht keine unserer natürlichen Leidenschaften so schwer zu überwinden wie der Stolz“ (B. Franklin). Zum Nachdenken: „Wer über die Verächtlichkeit des Ruhmes Bücher schreibt, wird es


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