Herausforderung Migration. Hans Winkler
die ohne Aufenthaltstitel in den USA leben, wird ein Weg zur Legalisierung gesucht, es wurde aber noch keine politische Einigung zwischen den beiden Parteien einerseits und Union und Bundesstaaten andererseits erzielt.
Neun von zehn Flüchtlingen leben in Entwicklungsländern, sie sind lediglich in ein Nachbarland geflohen. Der weit größere Teil – 2014 waren es 38 Millionen – sind jedoch sogenannte Binnenvertriebene (Internally Displaced Persons – IDP). Sie verlassen ihren Heimatort, bleiben aber innerhalb der Grenzen ihres eigenen Staates. Die größte Zahl davon gibt es in Syrien und Kolumbien. Aber auch mitten in Europa gibt es Binnenflüchtlinge: Kaum beachtet sind die 646.500 Menschen, die in der Ukraine in der Folge der kriegerischen Auseinandersetzungen im Osten des Landes ihre Heimat verlassen mussten.
Da Binnenvertriebene – anders als Flüchtlinge – nicht durch internationale Abkommen geschützt sind, befinden sie sich oft in sehr ähnlichen Situationen wie Flüchtlinge und haben einen ähnlichen Hilfsbedarf. Insgesamt kümmert sich das UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR um 35,6 Millionen Menschen. Dazu zählen Flüchtlinge, Binnenflüchtlinge, Asylbewerber, Rückkehrer und Staatenlose.
Das Schicksal der aus Myanmar (Burma) geflohenen oder vertriebenen Angehörigen der muslimischen Minderheit der Rohingya hat die weltweite Aufmerksamkeit auf die Flüchtlings- und Migrationsbewegungen in Asien gelenkt. Laut einem UNO-Bericht sind die Rohingya die am „meisten verfolgte Minderheit“. Die noch 1,3 Millionen Menschen im mehrheitlich buddhistischen Myanmar leben an der Grenze zu Bangladesch. Die frühere Militärdiktatur hat ihnen die Staatsbürgerschaft mit der Begründung entzogen, sie seien aus Bangladesch eingewandert und eigentlich Bengalen. Angeblich haben in den letzten Jahrzehnten bereits 1,5 Millionen Rohingya das Land in Richtung der wohlhabenden Nachbarländer vor allem Malaysia und Thailand verlassen.
Australien verfolgt eine rigorose Politik zur Eindämmung des Schlepperunwesens und zur Verhinderung von illegaler Immigration. Die Regierung in Canberra hat Abkommen mit Kambodscha und Papua-Neuguinea abgeschlossen, die bereit sind, gegen Bezahlung Flüchtlinge und Migranten auf ihrem Territorium anzusiedeln. Ausgelegt ist das Abkommen auf vier Jahre, es sieht finanzielle Leistungen der australischen Regierung in Höhe von 28 Millionen Euro vor. Im Juni ist der erste Transport von Nauru nach Kambodscha abgegangen. Es hatten sich aber nur vier Personen dazu bereit erklärt. Die Mehrheit hofft immer noch, letztendlich doch in Australien zu landen und bleiben zu dürfen.
Migranten, die nicht nach Indonesien zurückgebracht werden können, wo die Schlepper mit ihnen gestartet sind, werden in Lager im Inselstaat Nauru und auf Neuguinea gebracht. Ein Plan, in Indonesien Fischerboote in großer Zahl aufzukaufen und dadurch den Schleppern ihre Transportmittel zu nehmen, wurde wieder fallengelassen, weil es in einem Land mit tausenden von Inseln einfach zu viele Boote gibt.
Australien hat auch eine große Kampagne mit Plakaten, Filmen und Zeitungsanzeigen in den Herkunftsländern von Migranten gestartet, um die Menschen davon abzuhalten, überhaupt nach Australien aufzubrechen. Dass Australien Schlepper dafür bezahlt, dass sie mit ihrer menschlichen Fracht wieder nach Indonesien zurückfahren, ist nicht bestätigt, aber auch nicht dementiert worden. Mit den drastischen Methoden der geheimen „operation sovereign borders“ ist es Australien gelungen, die illegale Immigration weitgehend zum Erliegen zu bringen.
Krieg, Vertreibung, Armut sind nicht die einzigen Ursachen, die Menschen dazu zwingen, aus Wohnung und Heimat zu fliehen und sie oft dauerhaft aufzugeben. Allein im Jahr 2012 mussten rund 25 Millionen nach Naturkatastrophen ihren Wohnsitz verlassen. In Nigeria, Pakistan, Indien, China und auf den Philippinen verursachten die in dem Jahr besonders heftige Regenzeit und der Monsun verheerende Überschwemmungen, die Millionen zur Flucht zwangen. In Ostasien kamen schwere Taifune dazu.
Das Geschäft mit der Flucht
Gambia – Das Land aus dem die Migranten kommen
Gambia ist eines der kleinsten Länder Afrikas und auch eines der ärmsten der Welt, es stellt aber das größte Kontingent von Migranten, die mit Schlauchbooten über das Mittelmeer nach Europa kommen wollen, obwohl es nur 1,9 Millionen Einwohner hat. Gambias größter Geldgeber ist die EU, die zwischen 2008 und 2013 rund 65 Millionen Euro an Fördergeldern zugesagt, einen Teil jedoch eingefroren hat, weil das Land sich weigert, die Todesstrafe abzuschaffen.
Das Land am Atlantik ist eine Enklave im Senegal und der westlichste Punkt der großen westafrikanischen Migrantenroute, die die Staaten Guinea, Mali, die Elfenbeinküste, Burkina Faso, Benin, Nigeria erfasst und über Niger an die Grenze Libyens und ans Mittelmeer führt. Wenn in Westafrika in manchen Dörfern alle jungen Männer weggehen und nur noch Frauen und alte Männer zurückbleiben, hat das auch etwas mit Niger zu tun. Denn dort sitzen die „Vermittler“, die die Männer, wenn sie es bis dorthin geschafft haben, auf den gefährlichsten und schwierigsten Teil der Reise durch die Sahara schicken. Diese Vermittler haben Kontakte bis in die entlegensten Winkel des tropischen Afrika. Von Deutschland haben die meisten jungen Leute auch schon etwas gehört. Bekannte und Freunde, die es bis dorthin geschafft haben, haben ihnen übers Handy erzählt, dass man dort „ein Haus bekommt“.
Umschlagplatz in der Wüste
Niger, fünfzehnmal so groß wie Österreich mit rund 17 Millionen Einwohnern, ist zur Drehscheibe der Migration und des Menschenhandels aus Westafrika nach Europa geworden. Dreiviertel des Landes sind Wüste, Niger gilt als das ärmste Land der Welt. Agadez im zentralen Niger ist das Tor zur Sahara. Die Tagestemperatur in der 120.000 Einwohner-Stadt kann in den Sommermonaten leicht 45 Grad im Schatten erreichen. Regen fällt kaum je. Nur wenige der von Müllhäufen gesäumten Straßen sind asphaltiert, Staubwolken hängen in der Luft.
Der einzige nennenswerte Wirtschaftszweig in der Stadt ist der Umschlag von Menschen, es gibt kaum jemanden, der nicht damit zu tun hat und daran verdient. Das können auch Migranten selbst sein, denen das Geld ausgegangen ist oder die von daheim keines mehr nachgeschickt bekommen. Sie bringen sich dann als Chauffeure, „Vermittler“ oder Dolmetscher durch, bis sie so viel verdient haben, dass sie weiterreisen können. Das kann für manche auch viele Monate dauern. „Schlepper“ und Klient können also durchaus derselbe sein.
Die Internationale Organisation für Migration IOM schätzt die Zahl derer, die pro Jahr durch die Stadt kommen, auf 100.000, neunzig Prozent davon aus Westafrika. Nicht alle haben das Ziel Europa, es sind auch welche darunter, die etwa aus dem östlich des Niger liegenden Tschad kommen und die Goldgräberstadt Djadou siebenhundertfünfzig Kilometer nördlich von Agadez erreichen wollen.
Agadez selbst ist freilich auch eine Goldgräberstadt. Seit Jahrhunderten lebt die Stadt vom Menschenhandel: Waren es früher Sklaven, sind es heute Migranten. Auch Banken, Geldüberweisungsbüros wie Western Union, Ärzte, Chauffeure, „Vermittler“ und die Eigentümer der als „Ghettos“ bezeichneten Höfe, in denen die Migranten untergebracht werden während sie auf den Weitertransport warten, verdienen gut. Dreihundert solcher Hinterhöfe soll es in Agadez geben. Sie bleiben von der Polizei unbehelligt, wenn der Besitzer entsprechend zahlt.
Das wirklich große Geschäft ist der Transport. Alle Busunternehmen, die die Routen zwischen Niger und Libyen bedienen, aber auch alle Tankstellen an der Strecke gehören arabischen oder Tuareg-Familien. Die Preise sind im Vergleich zu Billiganbietern in Europa nicht bescheiden. Die 1.500 Kilometer lange Fahrt im Bus von Agadez nach Sabha oder zur Kufra-Oase mitten in der libyschen Wüste, einem weiteren Knotenpunkt der Reise, kostet 200 Euro und mehr. Wo sie hinkommen, wissen die Flüchtlinge oft nicht vorher.
Der „skrupellose Schlepper, der sich am Elend anderer schamlos bereichert“, wie deutsche Grün-Politiker schrieben, ist eher eine idealtypische Figur. Es scheint so zu sein, dass „Schleppen“ ein dezentrales Geschäftsmodell ist, an dem viele Leute in verschiedenen Funktionen beteiligt sind und daran verdienen. Oft entscheidet auch der Zufall, an wen man gerät und wessen Telefonnummer man bekommen hat. Die Migranten, lauter junge Männer, besitzen meistens nicht mehr als sie am Leib tragen – und ein Mobiltelefon. In der Tasche tragen sie Zettel mit ein paar Adressen. Bei den Western Union-Büros an der Strecke holen sie sich die Rate für die jeweils nächste Etappe der Reise.
Niger und Städte wie Agadez