Beatrice – Rückkehr ins Buchland. Markus Walther
Als Ingo eintraf, um sie abzuholen, sprang Chaya wie eine aufgezogene Feder auf. Sie lachte, hüpfte, tanzte. Nicht wie Quirinus, nein, es war die fröhliche, kindliche Art, wie man es bei Grundschülern sieht, die zuvor etwas zu lange still bleiben mussten. Chaya warf singend ihren Kopf hin und her. Das diffuse Licht der Abenddämmerung zauberte dabei einen rötlichen Schimmer in ihre fliegenden Haare. Vielleicht waren die Haare auch tatsächlich leicht rot; Bea vermochte es nicht recht zu erkennen. „Darf ich mir das Buch bis morgen ausleihen?“, fragte Chaya, nahm es Bea aber schon aus der Hand, ohne die Antwort abzuwarten.
„Klar“, sagte Bea perplex und fragte sich insgeheim, wer die Kleine ausgewechselt hatte. Wie ein Wirbelwind stürmte Chaya nach draußen, an Ingo vorbei, der ihr ebenso erstaunt wie Bea hinterherblickte.
Er steckte den Kopf zur Tür herein, ohne jedoch seinen Füßen zu gestatten, ins Antiquariat zu schreiten. „War das diese Chaya?“, fragte er.
„Ja.“
„Hast du mir nicht erzählt, dass sie sehr passiv und vielleicht ein bisschen gaga ist?“
Bea schnappte sich ihre Jacke und den Ladenschlüssel. „Von gaga war nie die Rede“, sagte sie und schloss beim Hinausgehen sorgsam die Ladentür hinter sich ab. „Sie ist etwas … merkwürdig.“
„Ja, so hast du mir sie gestern beschrieben. Merkwürdig.“ Ingo gab ihr herausfordernd einen leichten Klaps auf den Po. „Das heißt mit anderen Worten gaga.“
„Für gaga bist du der Spezialist.“
„Oh, dieses Kompliment gebe ich gerne an dich zurück. Wie war es heute auf der Arbeit?“ Ingo reichte Bea den Arm und sie hakte sich bei ihm unter.
„Nichts Besonderes“, antwortete sie, „nur dass ich eine kleine Lesesession für Chaya gemacht habe. Sie scheint die Geschichte regelrecht aufzufressen. Ich kenne nur einen, der mir so konzentriert zugehört hat.“
„Lass mich raten.“ Ingos Stimmung wurde eine Nuance schlechter. „Herr Plana?“
„Warum sagst du das so komisch?“
Ingo seufzte. „Keine Ahnung. Vielleicht, weil Plana dir immer noch auf eine Art und Weise nahe ist, die ich nicht …“
Bea wartete kurz, ob Ingo den Satz beenden würde. Er tat es nicht. Offenbar war es ihm unangenehm. „Bist du eifersüchtig auf den alten Mann?“
„Nein“, beeilte sich Ingo zu sagen, „wie könnte ich eifersüchtig auf einen Toten sein?“
„Ja“, sagte Bea nachdenklich, „das frage ich mich gerade auch.“
„Was hältst du davon“, fragte Ingo, um möglichst schnell das Thema zu wechseln, „wenn wir uns das Kuriosum mal gemeinsam anschauen? Ich bin neugierig, was das für ein Laden ist. Als ich eben daran vorbeigekommen bin, war der Laden noch offen. Diesem Quirinus möchte ich gerne mal auf den Zahn fühlen.“
Bea blickte nach vorn. Chaya war schon außer Sicht. Ob sie Quirinus mit einer Umarmung begrüßen würde, um ihm dann voller Enthusiasmus von Pippi Langstrumpfs Abenteuern zu berichten? Wie würde Quirinus darauf reagieren? Bea stellte fest, dass sie das wirklich brennend interessierte. Vor allem, weil sie sich eine entsprechende Szenerie so überhaupt nicht ausmalen konnte. „Quirinus auf den Zahn fühlen? Das ist eine gute Idee.“
„Ich habe nur gute Ideen!“ Ingo schnalzte mit der Zunge und ließ die Augenbrauen bedeutungsvoll wippen. Dann ging er im Stechschritt los und zog Bea neben sich her.
Das letzte Licht des Tages mogelte sich an den Streifen der Markise vorbei ins Schaufenster. Die Auslage hatte sich innerhalb eines Tages komplett gewandelt. Auf rotem Samt standen nun unzählige Telefone. Die meisten davon waren uralt, hatten Wählscheiben, Kurbeln oder sogar beides. Der Apparat aus dem Antiquariat hätte sich hier problemlos einreihen können. Auch ein scheinbar prähistorisches Handy, groß wie ein Koffer und mit einer langen, langen Antenne lag dort. Um dem Anblick etwas Abwechslung zu verleihen, waren im Hintergrund einige Computer, Lochstreifen-Apparaturen und Magnetband-Lesegeräte installiert. Ganz in der Mitte, auf einem mit Samt ausgelegten Podest, stand ein modernes E-Book-Lesegerät. Ein kleines Verkaufsschild wies es als iRead aus. Der angegebene Preis war exorbitant.
Vor dem Laden gab es ebenfalls eine Neuerung: Eine weiße Parkbank war vor dem Fensterbrett platziert worden. Darauf saß, in äußerst männlicher Pose, Quirinus. Mit gespreizten, weit ausgestreckten Beinen, nach links und rechts über die Rückenlehne gelegten Armen, schaute er Bea und Ingo durch eine schwarze Ray Ban Sonnenbrille entgegen. Breit grinsend rief er: „Wie herrlich, dass so kurz vor Ladenschluss noch so zwei liebreizende Kunden den Weg zu mir finden. Je später der Abend, umso schöner die Gäste! Da ist was Wahres dran. Ich sehe Ihnen an, lieber Ingo, dass Sie heute ein grandioses Geschäft bei mir tätigen werden. Treten Sie nur heran. Mein fachkundiges Personal wird Ihnen Dinge zeigen, von denen Sie gar nicht wussten, dass Sie sie brauchen.“ Auch wenn die Worte mit Quirinus’ Mund gesprochen wurden; sie klangen nicht, als wären sie seine eigenen. Aufgesetzt und gespielt kam es rüber, als ob ein Prolet die Sprache feiner Herrschaften verwenden wollte.
„Woher weiß er meinen Vornamen?“, fragte Ingo leise, doch bevor Bea auch nur mit den Schultern zucken konnte, öffnete sich die Tür und der Verkäufer eilte auf die Straße. „Ah!“, machte dieser, löste Ingo aus Beas Arm, um ihn dann eilends in den Laden zu führen. „Ich vermute, ich habe genau das Richtige für Sie.“ Das Manöver geschah so schnell, dass an Gegenwehr nicht mal im Ansatz zu denken war.
„Setzen Sie sich an meine grüne Seite, Frau Liber. Genießen wir die Sonne, solange sie für uns noch scheint.“ Quirinus reckte den Hals, damit das letzte Sonnenlicht des Tages die Gelegenheit bekam, möglichst viel von seiner Person zu erwischen. Da er nicht gewillt war, etwas zur Seite zu rutschen und auch die Arme auf der Rückenlehne beließ, platzierte sich Bea soweit es ging nach außen. Deshalb saß sie recht unbequem auf einer Pobacke und stützte sich mit einem Bein ab.
„Kommen Sie ruhig etwas näher. Ich beiße nicht“, sagte Quirinus. Widerwillig gehorchte Bea den Gesetzen der Höflichkeit. Doch da der Kuriositätenhändler immer noch keine Anstalten machte, seinen Komfortbereich zu verkleinern, hatte Bea nun seine Hand fast im eigenen Nacken, was ihr äußerst unangenehm war.
Nachdem sie ein Weilchen schweigend dagesessen hatten, nahm Quirinus endlich die Hand fort und deutete vergnügt auf die andere Seite der Straße. Dort lag eine leere, rote Getränkedose. „Gesehen?“, fragte er lakonisch.
„Ja.“
„Ein Kuriosum, so eine Dose.“ Quirinus nahm die Hand runter und legte sie auf seinen Bauch, den er beiläufig zu streicheln begann. „Es hat lange gebraucht, bis erkannt wurde, dass es nichts Dämlicheres als diese Art der Verpackung gibt. Aluminium ist ein Umweltsünder hoch drei. Der Abbau ist eine Vergewaltigung der Natur. Und obwohl man das Metall wunderbar wiederverwenden könnte, ist es viele, viele Jahre in der Müllverbrennung gelandet. Ein Kuriosum. Weißblech ist übrigens kaum besser.“
„Ich wusste gar nicht, dass es Cola in Dosen noch zu kaufen gibt“, warf Bea ein.
„Vom Markt sind sie nicht. Auch ich habe immer ein paar Paletten im Sortiment“, merkte Quirinus an. „Direkt neben den Einwegplastikflaschen.“
„Die sind doch nicht selten“, stellte Bea verblüfft fest.
Quirinus grunzte belustigt. „Aber sie sind ein Kuriosum. – Ein Kuriosum, wenn man den gleichen Maßstab wie bei der Dose ansetzt. Wussten Sie, dass die Einwegflasche die Glaspfandflasche fast vollständig aus den Läden verdrängt hat? So knapp kann das Erdöl dann wohl nicht sein. Plastik hier. Plastik da.“
Ein Teenager näherte sich der Dose. „Jetzt kommt der spaßige Teil des Tages“, kommentierte Quirinus. Er beugte sich interessiert vor. „Eine Dose auf dem Bürgersteig plus ein Halbstarker auf dem Weg nach Hause. Was glauben Sie, Frau Liber, wird passieren?“
Bea verstand, was Quirinus meinte. Bevor sie antworten konnte, holte der junge Mann mit dem rechten Bein weit aus, um der Dose einen kräftigen Tritt zu versetzen.