Beatrice – Rückkehr ins Buchland. Markus Walther
Ein Auto hupte. Jemand schimpfte lautstark. Eine Stoßstange hatte sich unangenehm nahe vor ihrer Stirn platziert. Bea schöpfte tief Atem und stellte fest, dass sie auf dem Mittelstreifen der Straße kniete. Sie richtete sich auf und torkelte benommen auf den Bürgersteig. Auf der gegenüberliegenden Seite sah sie den Kuriositätenladen. Durch das Fenster erkannte sie Quirinus und seinen Gehilfen. Irgendwo dahinter stand Chaya, die man nur noch als Schatten erahnen konnte.
Die Drei schauten Bea nach, als sie ihren Weg Richtung Antiquariat fortsetzte.
Wenn sie nicht gestorben sind
Auf dem Brett vor dem Schaufenster des Antiquariats saß Ingo. Die Beine weit ausgestreckt und mit dem Kinn auf der Brust vermittelte er den Eindruck eines Passanten, der ein Päuschen für ein Nickerchen eingelegt hatte.
Bea kannte diese Pose besser. Ihr Mann dachte nach.
Und außerdem war er sauer. Stinksauer.
„Hi“, sagte Bea leise, als sie zu ihm herantrat.
Ingo blieb regungslos. „Kannst du mir bitte verraten, wo du gewesen bist? Ein Zettel in der Ladentür ist ja wohl nicht die richtige Methode, um mal eben früher Feierabend zu machen. Ich wollte dich eigentlich abholen, damit wir zeitig loslegen können. Ich habe hier zwei Stunden auf dich gewartet.“
„Loslegen?“ Bea war mit den Gedanken noch halb in Quirinus’ Laden. Zwei Stunden hatte dies doch gar nicht gedauert … Ihr Puls raste zwar nicht mehr so, aber dafür hatte sich ein unangenehmer Kopfschmerz hinter den Schläfen breitgemacht.
„Wir wollten in den Keller“, erinnerte Ingo sie genervt.
„Du wolltest mit mir ins Buchland?“, fragte Bea endgültig perplex. Sie fühlte sich vollkommen ausgepowert.
„Nein“, sagte Ingo gedehnt. „Ich meine den Keller unserer Wohnung. Wir wollten heute ausmisten.“ Endlich hob er den Kopf und schaute sie an. „Du bist ja total durch den Wind. Was ist passiert?“ Das klang jetzt ehrlich besorgt.
„Ich wollte nur Chaya noch schnell ein Eis spendieren und dann nach Hause bringen. Quirinus hat sie nicht abgeholt.“
„Wer ist Chaya? Und wer ist Quirinus?“ Ingo stand auf, um Bea sanft zu umarmen. „Du bist ja nassgeschwitzt!“
„Ich hatte eben so was, was man wohl einen Anfall nennt. Platzangst oder so.“
„Du zitterst.“
„Jetzt, wo du es sagst, fällt es mir auch …“ Ihre Beine gaben nach und wäre Ingo nicht da gewesen, um sie aufzufangen, hätte sie gleich ein zweites Mal Bekanntschaft mit dem Asphalt gemacht.
Ingo hatte Bea nach Hause gebracht und sie irgendwie die Treppe hoch geschafft. Sie lag nun auf der alten Couch im Wohnzimmer und schlürfte einen Beruhigungstee, den ihr Mann ihr gemacht hatte.
Sie fühlte sich immer noch leicht fiebrig, doch langsam aber sicher kam das Leben zurück in ihre Glieder.
„Tja“, sagte Ingo zögerlich. Er hatte sich ans Fußende gesetzt und massierte ihr die Waden. „Wie es aussieht, müssen wir unsere Aufräumaktion noch um einen Tag verschieben.“
„Prokrastinieren“, murmelte Bea.
„Pro kastrieren? Was redest du?“
Bea brachte ein dünnes Grinsen zustande. „Prokrastinieren. Das sagt man, wenn man unangenehme Dinge aufschiebt.“
„Ich sag’s ja: Du liest zu viel. Auf solche Worte kommt man nur, wenn der Sprachschatz aus der Truhe hüpft.“
„Bist du mir böse?“
„Wegen des Kastrierens?“
Bea schüttelte den Kopf. „Dummerchen. Wenn wir das Aufräumen verschieben, bist du mir dann böse?“
„Nur, wenn du mir nicht erzählst, was denn eigentlich passiert ist. Es scheint für dich ein ereignisreicher Tag gewesen zu sein.“
Der Abend kam schnell, die Nacht folgte rasch. Während die Sterne am Himmel hochkrochen, erzählte Bea Ingo alles der Reihe nach, überging aber weitestgehend ihren Ausflug in den Keller. Sie wusste, dass sie ihn damit nur verstören würde. Ingo hörte aufmerksam zu, nickte hin und wieder, blieb aber schweigsam bis zum Schluss. Schließlich endete ihre Erzählung.
„Hört sich an, als ob die Buchland-Geschichte doch noch weitergeht“, sagte Ingo. Er klang auf eine unbestimmte Art traurig. „Bist du dir sicher, dass du nicht schreibst?“
Ein Hauch von Empörung lag in Beas Stimme: „Was? Ja!“ Als ob sie ihm so was nicht erzählt hätte.
Ingo rieb sich nachdenklich den Nacken. „Ich weiß nicht. Ich kann mich an damals kaum noch erinnern. Unsere Zeit im Buchland, weißt du? Für mich verschwimmt das alles in einem Nebel. Mir kommt es manchmal vor, als wäre es nicht wirklich passiert.“
„Vielleicht ist es nicht wirklich passiert“, sagte Bea, die sich diesbezüglich selbst nie vollkommen sicher war. Das war auch der Grund, warum sie ihr eigenes Buch immer und immer wieder las. „Ich bin die Protagonistin in meiner eigenen Geschichte gewesen. Das geht doch nicht.“
„Irgendwie muss es ja passiert sein. Sonst würde uns jetzt nicht Planas Antiquariat gehören.“ Ingo zögerte. Doch da er sonst immer das Thema mied, wartete Bea ab, ob er noch mehr sagen wollte. Ein Seufzen leitete seinen nächsten Satz ein: „Das, was du geschrieben hast, wurde zur Realität. Deine Phantasie … Ähm. Nein …“ Er lächelte hilflos. Entweder konnte er es nicht in Worte fassen oder er wagte es nicht. „Bevor ich mich mit der Fortsetzung deines Romans auseinandersetze, sollte ich mich eventuell mit dem Original noch mal ins stille Kämmerlein begeben.“
„Du willst mein Buch lesen?“
„Wie sollen wir sonst vernünftig darüber reden?“
„Gar nicht. Nicht, wenn es dir um eine Fortsetzung geht. Ich werde keine Fortsetzung schreiben. Fortsetzungen sind meistens kacke. Nur weil Buchland ein Fantasyroman geworden ist, muss das Teil ja nicht gleich in Serie gehen. Nicht jeder Mist muss eine Trilogie werden.“
„Und was ist, wenn dir das Buchland gerade mitzuteilen versucht, dass du um das Schreiben der Geschichte nicht herumkommst?“
„Schon klar. Ich mache einen simplen Abklatsch vom ersten Teil. Aber halt! Geht ja nicht. Herr Plana ist ja aus dem Reigen der Figuren ausgeschieden.“
„Dafür hast du jetzt diesen Quirinus. Der könnte das Klugscheißen übernehmen.“
„Sorry, dem fehlt es eindeutig an Klasse.“
„Wenn es nicht um eine Fortsetzung geht, worum dann?“
„Es wird einfach Zufall sein. Mir ist bestimmt nur der Kreislauf abgesackt, nachdem ich im Kuriosum etwas zu viel nachgedacht habe. Neue Abenteuer brauche ich nicht. Mir reicht es, Bücher zu verkaufen.“
„Reicht das auch deinem Buchland? Und reicht es deinem Herrn Plana? Und reicht es dir wirklich? Ich nehme dir nicht ab, dass du nur Bücher verkaufen willst. Ich kenne dich dafür zu gut. Was willst du wirklich?“
Bea verstand zunächst nicht, worauf Ingo hinauswollte, doch dann fiel der Groschen. „Herr Plana hätte gewollt, dass ich seinen Platz einnehme.“
„Als Auktoral?“
„Als Auktoral.“
„Die eigentliche Frage war, was du willst.“
„Ich weiß nicht. Kennst du das Gefühl, dass man etwas mit aller Macht haben oder machen will, aber man weiß nicht, was es ist?“
Ingo blickte zum Kühlschrank, in dem früher allerhand Flaschen gestanden hatten. Er trank nicht mehr. – Nicht, weil er es nicht wollte, sondern weil er es nicht durfte. Doch das Verlangen nagte stetig an ihm. Manchmal zerfraß es ihn sogar. Er wusste also ganz genau, wonach es still in ihm schrie. Noch hatte er es im Griff, trotzdem