Es gotts(z)t mich an: Zufrieden ohne Gott. Helmut Bittner

Es gotts(z)t mich an: Zufrieden ohne Gott - Helmut Bittner


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Brutale Realität

      Es war Mitte Januar, an einem Wochenende. Meine Frau, damals 48 Jahre alt, und ich gingen wie gewohnt zu später Stunde ins Bett. Wir wünschten uns, wie immer, mit einer kleinen Zärtlichkeit eine gute Nacht. Dabei streichelte ich mit meiner linken Hand über ihre rechte Brust und tastete eine kleine derbe Geschwulst. Meine Frau bemerkte nichts von meiner sofort feststehenden Diagnose: Brustkrebs. Als Arzt, der lange Jahre in der klinischen Brustdiagnostik tätig war, ein zweifelsfreier Befund.

      Für mich ist es heute kaum vorstellbar, wie ich daraufhin reagierte und mir blitzschnell einen Verdrängungsmechanismus aufbaute. In Bruchteilen von Sekunden »blendete« ich ihr Schicksal, wie Operation, Bestrahlung, Chemotherapie, ungewisse Prognose (Voraussage einer künftigen Entwicklung) aus. Ich hatte keine Panik, keine Unruhe, keine Angst, keine Schlafstörung. Mein Verhalten war so, als gäbe es diese Diagnose nicht. Tagelang. – Grund für diese Entscheidung war, wir freuten uns auf einen seit langem geplanten »Galaabend« in einem exklusiven Hotel. Ich wollte ihr die unbefangene Vorfreude darauf und das Vergnügen in genau einer Woche nicht verderben.

      Bis heute habe ich keine Erklärung, wie mir das gelang. Später brachte mir diese Ignoranz der Krankheit den Vorwurf meiner Frau ein, ich hätte absichtlich die Therapie um eine Woche verzögert.

      Erst nach diesem Galaabend mit Freunden, wir haben getrunken, gelacht und getanzt, wurde mir klar, dass Edith die Diagnose erfahren musste. Wir sind spät in der Nacht, oder früh am Morgen nach Hause gekommen. Beim Gutenachtsagen fasste ich jetzt absichtlich mit meiner linken Hand über ihre rechte Brust: »Hier ist was!«… Kurzum, alle folgenden Untersuchungen bestätigten leider meinen Erstverdacht von vor einer Woche. – Wir umarmten uns…

      Jetzt mussten wir dem Schicksal ins Auge schauen und versuchen mit dieser Realität fertig zu werden. Wir hatten uns, wir liebten uns, wir wussten was kommt und unsere drei Kinder mussten informiert werden.

      Mit Angst und Panik suchte ich am nächsten Morgen, Sonntagvormittag, meinen Chef in seiner Privatwohnung auf. Seine beruhigenden, verständnisvollen Worte waren für mich wohltuend. Mit menschlicher Wärme und großer Umsicht tat er alles, um Edith schnell in unserem Krankenhaus aufzunehmen und sie auch persönlich zu operieren. – Er rief mich in den Operationssaal, um mir den sogenannten Operationssitus (Operationsbefund) meiner Frau zu demonstrieren. Er zeigte mir die weit aufgeschnittene Brust bis zur rechten Achselhöhle. Aufgrund des Befundes sei eine radikale Operation (Brustamputation) mit Entfernung von drei Lymphknoten, welche bis zu drei Zentimeter groß waren, erforderlich. Ich stimmte zu, und traute mich nicht, in die Gesichter meiner Kollegen zu schauen. Es war ein sehr eigenartig anmutendes Gefühl, als mich eine sehr liebenswerte Kollegin tröstend aus dem Operationssaal führte.

      Am Tag danach begann mein Arbeitstag wie jeden Morgen um sieben Uhr, erstmal mit einem Besuch bei meiner Frau. Der Wundheilungsverlauf war komplikationslos, das Allgemeinbefinden den Umständen entsprechend. Die computergesteuerte Bestrahlung und die Chemotherapie schlossen sich an. Die Chemotherapie vertrug sie schlecht und wurde deshalb stationär durchgeführt. Bei miserablem Allgemeinbefinden mit Übelkeit, Brechreiz und Erbrechen, Schweißausbrüchen und Mattigkeit kommentierte meine Frau ihren Zustand: »Weißt du, wenn es den Krebszellen so schlecht geht wie mir, haben die keine Chance«. Den Haarausfall haben wir mit einer Perücke überspielt.

      Meine Frau wurde nach all den Strapazen trotz der schlechten Prognose wieder gesund und konnte sogar wieder in ihrem Beruf als Ärztin arbeiten. Oft leben krebskranke Menschen intensiver, realistischer und berechtigt egoistischer. Sie genießen die Farben bunter, kontrastreicher, eindrucksvoller. Auch sie genoss jeden Tag intensiver! Vielleicht weil auch sie die Wiederkehr des Tumors lange fürchtete. Aber sie hatte diesen Brustkrebs überlebt. Für mich war klar, diese Krankheit verbindet uns für immer.

      Es kam anders: Wir trennten uns.

       Aber dieser Gott hatte noch nicht genug!

      Nach elf Jahren, 1999 bekam meine Frau in der linken Brust einen schwer zu erkennenden Krebs. Trotz Bestrahlung, Operation und Chemotherapie nahm dieser Krebs seinen qualvollen, tödlichen Verlauf. Die Hoffnung und ihr Optimismus waren bis zum Schluss ungebrochen. Unsere inzwischen erwachsenen Kinder haben sie betreut, aufopfernd und liebevoll gepflegt. Wir hatten über lange Zeit nur telefonischen Kontakt – ich war froh darüber. Die Erkrankung machte sie mir gegenüber nicht vertraulicher. Mir ging es trotz vieler Arbeit gut und für sie gab es eben keine Erwartungen mehr an das Leben.

      Wir telefonierten täglich miteinander. Ich wusste, sie hat Schmerzen, sie war körperlich schwach. Bei allen Unsachlichkeiten, Vorwürfen und Unzufriedenheiten von ihr, konnte ich nur mit Geduld und Toleranz reagieren.

      Ich habe selten einen solchen Krankheitsverlauf erlebt. Ihr gesamter Körper war übersät mit Metastasen (Tochtergeschwülste). Trotz der Geschwülste in der Lunge, im Hirn, im Schädeldach, in der Wirbelsäule, in den Rippen und den Bein – und Beckenknochen, saß sie noch im Rollstuhl. Als der linke Oberschenkelknochen spontan zerbrach, kam sie ins Krankenhaus. – Ob ihre Seele auch Metastasen hatte?

      Ich habe sie im Krankenhaus besucht. Wir hatten wieder ein vertrautes Verhältnis zueinander. Wir unterhielten uns über unsere Kinder und ich gab ihr mein Versprechen, immer für sie da zu sein.

      Meine Frau war wohl eine der stärksten, die ich je kannte. Sie hatte keine Angst vor dem Tode. Sie stand nicht mit Gott, sondern mit dem Tod auf Du und Du. Ich saß auf ihrem Bettrand, sie schmunzelte und sagte: »Weißt du eigentlich, dass du eine Einmannfrau hattest?« Den letzten Satz, den sie zu mir sagte, dabei strich sie mir mit ihrer rechten Hand über meinen linken Oberarm, war: »Weißt du, Großer, wenn die immer sagen, wenn es einem so schlecht geht (sie wollte nicht sterben sagen), wird man bekehrt oder man glaubt an einen Gott, – da musst du dir um mich keine Gedanken machen.«

      Bei meinem letzten Besuch, an ihrem Todestag, lag sie bewusstlos in ihrem Bett. Sie war eine gute Mutter und gute Ärztin, die vielen Patienten mit Worten und Taten geholfen hat. Ein wirklicher, gütiger Gott hätte sie nicht so leiden und sterben lassen.

       Doch dieser Gott wollte noch mehr! – Von mir.

      Meine zweite Frau Jaqui und ich waren unsere große Liebe bis zu ihrem frühen Tod.

      Wir hatten den Sommerurlaub bereits gebucht. Wegen unklarer Bauchbeschwerden ließen wir eine Darmspiegelung durchführen. Der untersuchende Kollege, unweit meiner Praxis, ließ mich zur Befunddemonstration rufen. Ungewisse Gedanken begleiteten mich auf dem kurzen Wege. Die Demonstration des Befundes zeigte eine den Darm einengende Geschwulst. Diagnose: Krebs. – Jaqui schlief noch. Sie sah wunderschön aus. Ich musste wieder in meine Praxis. Ich hatte Operationstag. – Als ich abends nach Hause kam, haben wir uns weinend umarmt.

      Die noch erforderlichen Voruntersuchungen, die stationäre Aufnahme und Operation verliefen reibungslos. Das Gespräch mit dem erfahrenen Operateur offenbarte, Jaqui hatte keine Chance die Krankheit zu besiegen. Wieder war mein, unser Schicksal besiegelt. Sie würde bis zu ihrem Tode mit dieser Krankheit und ich mit einer sterbenden Frau leben.

      Sie hat viele quälende Therapien über sich ergehen lassen, wenn auch nur ein Hauch Hoffnung bestand.

      Unser letztes gemeinsames Erlebnis war ein Konzert mit Harry Belafonte in der Arena Leipzig 2003. Sie saß rechts neben mir: mager, gelb, schwach. Ich habe diese Lieder lange Zeit nicht hören können.

      Zu einer der letzten stationären Behandlungen fuhr ich sie in ein zirka 40 Kilometer entferntes Krankenhaus, zu einer versuchten Spezialbehandlung, ohne Erfolg.

      Es war eine psychische Grausamkeit und Folter, meine abgemagerte, haarlose Jaqui mit ihren eingefallenen gelben Augen auf der Krankenstation abzugeben. Alle Patienten waren furchtbar anzusehen. Keiner dieser Patienten hatte eine reale Chance wieder gesund zu werden. Viele der Patienten waren abgemagert wie Insassen eines Konzentrationslagers.

      Mich erfasste das Gefühl der Unwirklichkeit, der Bedrückung und des Mitleides. Welche Gedanken quälten die Patienten? Ich versuchte zur Jaqui ganz normal zu sein und verabschiedete mich. Auf dem Weg zum Auto hatte ich das Gefühl, Jaquis Tod begleitet mich. Man fühlt sich bescheiden, man kann


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