Nibelungenweg. Rainer Schöffl
ich später auch die größeren Städte wie Duisburg, Krefeld oder Neuss.
Hinter dem Ortsausgang von Xanten fällt mir völlig unpassend Goethes Osterspaziergang ein:
»Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
Durch des Frühlings holden, belebenden Blick,
Im Tale grünet Hoffnungsglück;
Der alte Winter, in seiner Schwäche,
Zog sich in rauhe Berge zurück […]«
Trotz Ostermontag unpassend, weil schon seit gut zwei Wochen in Deutschland sommerliche Hitze herrscht, und auch heute steigen die Temperaturen schnell auf nahezu dreißig Grad. Diese Hitze spüre ich umso mehr, weil mein Weg auf asphaltierten Radwegen durch eine Landschaft verläuft, welche keinerlei Abwechslung bietet, ausgenommen die vielen Pferde auf den Weiden. Auf einer Koppel zähle ich gar 72 Stück. Glücklicherweise ersparen mir einzelne Baumgruppen und Wäldchen oft den trostlosen Ausblick. Auch schränken vereinzelnde Hügel und Hügelketten, maximal sechzig Meter hoch, den Fernblick ein. Diese Hügel heißen hier in maßloser Übertreibung »Berg«. Zum Ausgleich werden dafür Schlösser meist nur als »Haus« bezeichnet. Vor dem Ort Alpen studiere ich das Angebot des »Hundetreff Alpen«, welches eher an das Programm eines Sportvereins erinnert. Da gibt es Vormittagsgruppen, Junghundgruppen, Sport-Spiel-Spaß, Einzeltraining, Seminarabende und vieles mehr. Alpen scheint eine sehr aktive Hundepopulation zu haben. Der Ort selbst, obwohl historisch nicht unbedeutend und wohl schon im 7. Jahrhundert existent, erweist sich als reichlich nichtssagend. Immerhin gibt es eine Eisdiele, wo ich bei Eiskaffee Pause mache.
Nach acht Stunden komme ich schließlich in Kamp-Lintfort an, wo ich mich von meinem Navi zum nächstgelegenen Hotel führen lasse. Es ist ein großes, vornehmes Haus, und die Eingangshalle glänzt durch vollkommene Leere. Erst nach einiger Zeit taucht eine verhuschte Rezeptionistin auf, die auf meinen Wunsch nach einem Zimmer hin erst umständlich lange den Computer befragt. Völlig überflüssig, wie ich am nächsten Morgen beim Frühstück feststelle, denn es gibt nur vier Gäste. Offenbar mache ich keinen zuverlässigen Eindruck, denn ich muss das Zimmer gleich bezahlen. Beim Duschen spüre ich aufkeimenden Muskelkater, und Sonnenbrand habe ich auch.
Abends ist das Hotelrestaurant recht gut besucht. Ich wähle auf der Speisekarte aus der Rubrik »Typisch Niederrhein« Welsfilet in der Senfkruste auf Kartoffelpüree mit gebratenen Apfel- und Blutwurstscheiben und roter Zwiebelmarmelade. Diese in meinen Augen unmögliche Kombination hat mich neugierig gemacht. Im Nachhinein kann ich nur hoffen, dass selbiges Rezept auch in Zukunft auf den Raum Kamp-Lintfort beschränkt bleibt oder, noch besser, ganz in Vergessenheit gerät.
Der heutige Wandertag sieht mich wieder auf schattenlosen Radwegen und Landstraßen und in gesichtslosen, backsteinbraunen Orten mit stets gleich aussehender Kirche. Nur das »Haus Eyll«, eine ehemalige Wasserburg und alter Rittersitz in idyllischer Lage, bietet etwas Abwechslung.
Als ich einmal nicht aufpasse, weiche ich vom gewählten Weg ab und gerate dadurch, welch ein Glück, zur Tönisberger Mühle. Diese Mühle ist eine Besonderheit, denn es handelt sich um eine Kastenbockmühle, bei der die gesamte Mühle passend zum Wind gedreht wird. Die meisten Windmühlen in Deutschland sind Holländermühlen, bei denen nur die Haube mit den Flügeln gedreht wird, wie zum Beispiel bei der Kriemhildmühle in Xanten.
Als ich wieder auf meiner Planroute bin und lustlos die schnurgerade Straße vor mir in der Hitze flimmern sehe, steige ich in den gerade nahenden Linienbus und bin in wenigen Minuten in Kempen, meinem heutigen Zielort. Es ist ein überraschend nettes Städtchen mit vielen denkmalgeschützten Häusern aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Natürlich darf auch eine Windmühle nicht fehlen. Die autofreie Zone ist belebt von schwarzen Hollandfahrrädern, auf denen die Radler völlig aufrecht sitzen, einige sogar mit leichter Rücklage. Für mich aus München, wo Mountainbikes überwiegen, ein ungewohnter Anblick. Manche Frauen sehen in dieser Haltung fast schon sexy aus. Zumindest in meinen Augen.
Am nächsten Tag hat eine neue Marotte von mir Besitz ergriffen: Ich lese Busfahrpläne. Nicht, dass ich ständig einen Bus benutzen will. Aber es verleiht mir ein bestimmtes Gefühl der Sicherheit, zu wissen, wann ein Bus in meine Richtung fährt. Umgekehrt erhöht es meinen Stolz, auf eine günstige Fahrgelegenheit zu verzichten und stattdessen zu Fuß zu gehen. Wie gesagt: eine Marotte, die ich nebenbei bis zum Schluss beibehalten habe.
Die Morgenluft ist kühl und da wäre ein langärmliges Outdoorhemd, wie in einschlägigen Geschäften oft zu hohen Preisen angeboten, die richtige Kleidung. Da ich aber nicht alle Trends mitmache, fällt meine Wanderkleidung sehr einfach aus: T-Shirt und bei Bedarf Regenjacke. Als ich daheim meinen Rucksack packte, stand ich vor der Wahl, meine sündhaft teure High Tec-Allzweckjacke mitzunehmen oder ein älteres Modell, in Form und Farbe längst nicht mehr aktuell. Trotzdem fiel meine Wahl aus einem sehr einfachen Grund auf letzteres Stück: es ist 150 Gramm leichter als die High Tec-Jacke. An einem kühlen Tag wie heute hat meine einfache Kleiderordnung zur Folge, dass ich an den nackten Armen friere. Aber für die Jacke ist es weder ausreichend kalt noch nass genug. Den Rücken wärmt ohnehin der Rucksack. Ich habe mit dieser Kombination die gesamte Nibelungenwanderung ausgezeichnet überstanden. Tiefe Bräune an den Armen ist das Ergebnis.
Bald komme ich auf einen schattigen, unbefestigten Radweg, so wie ich ihn mir die letzten zwei Tage gewünscht hätte. Aber prompt meldet sich schon mein Navi mit einem Piepston um mich darauf aufmerksam zu machen, dass ich zwanzig Meter vorher hätte abbiegen müssen. Also wieder nichts mit unbefestigten Wegen, sondern weiter auf asphaltierter Straße. Ab und zu komme ich an großen Bauernhöfen vorüber, die wie Trutzburgen wirken und in die man nur durch eine einzige Toreinfahrt gelangt. Auf den ausgedehnten Ländereien werden hier statt Pflanzen für Diesel und Superbenzin noch Produkte für den menschlichen Verzehr angebaut, wie zum Beispiel auf schier endlosen Feldern grüner Salat. Statt »Brot zu Benzin« werden hier noch ganz offensichtlich Arbeitsplätze für Erntehelfer geboten.
Ich lese inzwischen nicht nur Busfahrpläne, sondern auch die Inschriften auf Gedenksteinen, Wegkreuzen und Infotafeln. Auf einer Infotafel des Pumpwerks Tönis erfahre ich deshalb im schönsten Amtsdeutsch, was man bei »größeren Regenereignissen« unternimmt. Ein solches Ereignis ereilt mich dann in Sankt Tönis, und der restliche Tag verläuft einigermaßen feucht. Es gibt hier viele Fasane, und wenn ich auch nicht alle zu Gesicht bekomme, so höre ich doch die lauten Rufe der Hähne. Irgendwann höre ich auch meinen ersten Kuckuck in diesem Jahr.
In der Nähe von Krefeld befasse ich mich längere Zeit mit dem Studium eines Denkmals, welches zur Erinnerung des Sieges der Truppen unter Prinz Ferdinand von Braunschweig über die Franzosen am 23. Juni 1758 errichtet worden war. Diese Schlacht war einer der Höhepunkte im Rheinland während des Siebenjährigen Krieges 1756 bis 1763. Beide Seiten hatten so viele Truppen zusammen gezogen (die Alliierten 32 000 Mann, die Franzosen 47 000 Mann), dass man erst einen geeigneten Platz suchen musste, um das Gefecht auszutragen.
Hierfür bot sich der Großraum um Krefeld an, der damals noch geräumiges Heideland mit wenigen Bäumen war. Im Gegensatz zu heute, wo hier ausgedehntes Waldgebiet vorherrscht. Man stelle sich vor, die Feldherren hätten kein passendes Gelände gefunden – was dann? Das Los entscheiden lassen oder wieder heimziehen? Nun, hier hatten sie also genug Raum für die übliche Schlachtordnung, die da hieß: sich einander gegenüberstellen und dann so lange aufeinander schießen, bis einer genug hat. Ferdinand von Braunschweig war jedoch so unfair, dass er den Gegner einfach umgangen und von hinten angegriffen hat. So also kam es zum Sieg über die zahlenmäßig überlegenen Franzosen und zu diesem Denkmal, dessen Adler finster nach Westen blickt.
Das letzte Stück meines Weges nach Korschenbroich muss ich mir im Regen mit Autos auf einer Bundesstraße teilen, auf der mich eine Leitplanke daran hindern würde, im Notfall auszuweichen. Vor meinen geistigen Augen sehe ich mich mit zerquetschten Beinen an der Leitplanke kleben. Wie sehr wünsche ich mir die Radwege zurück!
Der Weg ab Korschenbroich beginnt mit Wald, einem sehr schönen Laubwald voller Vogelstimmen. Die wenigen Spaziergänger, die mir begegnen (meist mit Hund), erwidern meinen Gruß nur unwirsch. Von rheinischer Fröhlichkeit ist hier nichts zu spüren.
Ich