Das Abenteuer meiner Jugend. Gerhart Hauptmann

Das Abenteuer meiner Jugend - Gerhart Hauptmann


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in der Un­ter­welt«, wo­bei die Mu­sik mir stö­rend war. Ich konn­te es kaum er­war­ten, bis wie­der ge­spro­chen wur­de. Eine Ra­ke­te, die beim Hin­ab­stei­gen des Or­pheus in die Un­ter­welt durch die Ver­sen­kung em­por­zisch­te und platz­te, be­deu­te­te für mich einen Hö­he­punkt.

      *

      Bei Va­ters Rück­kehr in den häus­li­chen Pf­lich­ten­kreis und den der Fa­mi­lie trat so­gleich die alte Ent­frem­dung wie­der ein. Mein Va­ter übte eine große Selbst­dis­zi­plin, mit­un­ter aber über­mann­te ihn die der gan­zen Fa­mi­lie ei­ge­ne leich­te Er­reg­bar­keit. Ir­gen­det­was moch­te von uns Kin­dern ver­fehlt wor­den sein, sei es, dass wir ein län­ge­res Aus­blei­ben durch eine Flun­ke­rei ent­schul­digt oder et­was, das er wis­sen muss­te, ver­heim­licht hat­ten. Er be­gann dann etwa mit den Wor­ten:

       Wer lügt, der trügt;

       wer trügt, der stiehlt;

       wer stiehlt, der kommt an den Gal­gen.

      Und nun wur­de mit der Wucht dro­hen­der Wor­te die Mög­lich­keit, ja die Wahr­schein­lich­keit ei­ner schreck­li­chen Zu­kunft im Ge­fäng­nis, im Zucht­haus und ei­nes grau­si­gen En­des un­ter dem Gal­gen oder auf dem Block aus­ge­malt. Man kann einen sol­chen Auf­wand, wie mein Va­ter ihn zu un­se­rem Schre­cken manch­mal trieb, un­mög­lich als pro­por­tio­nal der Ge­ring­fü­gig­keit un­se­rer Ver­ge­hen be­zeich­nen.

      *

      Mein Va­ter be­kämpf­te in uns die Furcht­sam­keit und be­son­ders auch die Ge­s­pens­ter­furcht. Wenn win­ters Geis­ter­ge­schich­ten er­zählt wur­den, was da­mals all­ge­mein üb­lich war, warf er meist nur sar­kas­ti­sche Bro­cken ein. Die Kor­ri­do­re al­ter Sch­lös­ser mit ih­ren ket­ten­schlep­pen­den wei­ßen Frau­en, die Er­schei­nung Ster­ben­der bei Ver­wand­ten, die hun­der­te Mei­len ent­fernt wohn­ten, im Au­gen­blick des To­des ge­nos­sen bei ihm kei­ne Glaub­haf­tig­keit. Ein be­stimm­ter Fall aber, den er sel­ber er­lebt hat­te, blieb auch für ihn un­auf­ge­klärt.

      Nachts bei Mond­schein im Herbst kam er nach Hau­se. Auf dem Platz zwi­schen Eli­sen­hal­le und El­tern­haus an­ge­langt, hör­te er sei­nen Na­men ru­fen. Als er mit »Hier bin ich!« geant­wor­tet hat­te, trat eine kur­ze Stil­le ein. Die Stim­me kam – oder schi­en zu kom­men – aus ei­nem düs­te­ren Wäld­chen auf dem Kro­nen­berg, der un­se­ren Vor­gar­ten fort­setz­te. Die­sem Wäld­chen ge­gen­über lag der Eli­sen­hof, ei­ner Fa­mi­lie Enke ge­hö­rig. Un­se­re Hin­ter­gär­ten grenz­ten an­ein­an­der Zaun an Zaun.

      Ein jun­ger und lei­der kran­ker Mensch aus die­ser Fa­mi­lie hat­te mit mei­nem Va­ter Freund­schaft ge­schlos­sen. Ich den­ke, das Gan­ze muss, als noch mei­nes Va­ters Va­ter, Groß­va­ter Haupt­mann, leb­te, vor­ge­fal­len sein. Nun also, der Ruf wie­der­hol­te sich, mein Va­ter emp­fand ihn als Hil­fe­ruf, und als er wie­der­um mit »Hier bin ich!« geant­wor­tet hat­te, rann­te er, wie um Hil­fe zu brin­gen, ge­gen das Wäld­chen hin­auf.

      Eine Wei­le ver­geb­li­chen Su­chens über­zeug­te ihn, dass er ei­ner Ge­hör­täu­schung un­ter­le­gen sei, in der Stil­le der Nacht nicht un­ge­wöhn­lich. So war er bis vor das Kro­nen­por­tal zu­rück­ge­kehrt und woll­te so­eben den schwe­ren Schlüs­sel im Schloss um­dre­hen, als es aber­mals klar und deut­lich »Ro­bert!«, sei­nen Vor­na­men, rief. Mit leich­tem Schau­der be­trat er das Haus, ohne wei­ter Rück­sicht zu neh­men.

      Am nächs­ten Mor­gen wur­de die Nach­richt ge­bracht, dass der jun­ge Enke ge­stor­ben sei. Und zwar in der Tat um die glei­che Zeit, in der mein Va­ter das Ru­fen ge­hört hat­te.

      Auch die­sen Fall ent­klei­de­te mein Va­ter nach und nach des Wun­der­ba­ren. »Ge­s­pens­ter, die sich all­zu mau­sig ma­chen, soll man ein­fach beim Kra­gen neh­men«, sag­te er, »oder ih­nen mit ei­nem tüch­ti­gen Stock zu­lei­be ge­hen.« Hie und da, be­son­ders im Herbst, wo er Zeit fand, sich uns zu wid­men, wur­den ent­spre­chen­de Mut­pro­ben mit uns an­ge­stellt. An den spä­te­ren Nach­mit­tagen, wenn die Nacht be­reits her­ein­ge­bro­chen war und Mond­schein sie zu schwa­chem Däm­mer auf­hell­te, tra­ten wir etwa aus dem Klei­nen Saal auf die Ter­ras­se hin­aus, um noch ein we­nig Luft zu at­men. Die Eli­sen­hal­le, mit ih­rem do­ri­schen Gie­bel­bau, warf ih­ren Schat­ten auf den Platz, kein Mensch war zu se­hen weit und breit und eben­so­we­nig ein Laut zu hö­ren.

      Da konn­te mein Va­ter plötz­lich be­haup­ten, dass er da und da, weit hin­ten auf ei­ner Bank der Eli­sen­hal­le, sei­nen Hut ver­ges­sen habe, und den Wunsch äu­ßern, ich möge se­hen, ob er noch dort lie­ge, und ihn wo­mög­lich zu­rück­brin­gen. Es wäre ein Pa­na­ma­hut oder ir­gend­so, und er wür­de ihn sehr un­gern ein­bü­ßen.

      Die Hal­le war of­fen nach Os­ten ge­gen den Park und ge­gen Wes­ten ge­schlos­sen. An die­ser Sei­te, hin­ter der un­mit­tel­bar die kup­fer­far­be­ne Salz­bach rausch­te, hat­te man nach Art ei­nes Ba­sars Ver­kaufs­lä­den ein­ge­baut.

      Wenn man über die große Freitrep­pe auf den lehm­ge­stampf­ten Bo­den des Tem­pel­bau­es trat, weck­te man lau­ten Wi­der­hall. Am Ende des Rau­mes traf man, nach­dem man über höl­zer­ne Stu­fen einen Holz­po­dest er­stie­gen hat­te, auf große Gla­stü­ren, die zum Kur­haus ge­hör­ten und des­sen Ge­sell­schafts­sä­le ab­schlos­sen. Rechts da­vor eine nied­ri­ge Tür führ­te in einen klei­nen, meist übel­rie­chen­den Raum, der auf der an­de­ren Sei­te durch ein glei­ches Tür­chen ver­schlos­sen war. Nicht ein­mal am Tage war es uns Kin­dern an­ge­nehm, durch die­sen »Sich­dich­für«, die­ses licht­lo­se Loch, hin­durch­zu­schlüp­fen. Es lief auf eine Brücke über die Salz­bach aus.

      Im Fa­mi­li­en­kreis galt ich als das ver­hät­schel­te, zu­tun­lich wei­che Nest­häk­chen. Man wuss­te hier nichts – und nicht ein­mal ich sel­ber wuss­te es – von dem Ruf, den ich auf der Gas­se ge­noss, wo ich als ein ver­we­ge­ner, durch­trie­be­ner, gänz­lich furcht­lo­ser Bur­sche ge­nom­men wur­de. Wie oft war die Nacht über un­se­rer wil­den Spie­le­rei her­ein­ge­bro­chen: der fins­ters­te Win­kel im Ei­fer des Kriegs­spiels schreck­te mich nicht.

      Jetzt, im an­de­ren See­len­ko­stüm, war ich scheu, ängst­lich, furcht­sam, ver­zär­telt, zim­per­lich. Nur mit he­ro­i­scher Über­win­dung konn­te ich dem Wun­sche des Va­ters nach­kom­men. Schon die Über­que­rung des Plat­zes, wo som­mers die Drosch­ken stan­den, war kei­ne Klei­nig­keit. Es kam dann das Er­stei­gen der Freitrep­pe mit dem tie­fen, düs­tern Rau­me als Hin­ter­grund. Kaum dass ich den hal­len­den Bo­den be­trat, auf dem die di­cken Schat­ten der Säu­len la­gen, fing ich auch schon zu lau­fen an, wor­auf so­gleich vom Schall mei­ner Soh­len Tau­sen­de dä­mo­ni­scher Stim­men laut wur­den. Sie schri­en und peitsch­ten all­sei­tig auf mich ein. Und nun ka­men die blin­den Gla­stü­ren der Kur­sä­le, die, ei­si­ge und lee­re Höh­len, da­hin­ter lau­er­ten. Das Kur­haus war im Win­ter ge­schlos­sen. Die Schei­ben klirr­ten von mei­nem Schritt, und un­ter mir tön­te hohl die Holz­die­le. Zur Rech­ten hat­te ich den scheuß­li­chen Sich­dich­für, worin ich mir et­was wie lau­ern­de mör­de­ri­sche Erin­nyen vor­stell­te. Wenn ich den Hut nun durch­aus nicht ent­de­cken konn­te, lief ich, viel­leicht mich an­ders be­sin­nend, nicht wie ge­hetzt da­von und zu­rück, son­dern be­weg­te mich steif und auf laut­los-furcht­sa­me Wei­se. Und nun tra­ten wohl vor die ver­na­gel­ten Lä­den die som­mer­li­chen In­ha­ber: das Ge­s­penst Ger­tisch­kes, des Por­zel­lan­ma­lers,


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