Das Abenteuer meiner Jugend. Gerhart Hauptmann
Emigrantin aus Zillertal, vor ihrem nach Tiroler Muster sauber erbauten Haus, und mein Vater fragte sie nach dem Wege. In Tiroler Mundart gab sie Bescheid, wobei sie meinen Vater mit du anredete, was für mich bei der Gegensätzlichkeit beider Gestalten eine höchst befremdliche Überraschung war. Der Umstand wurde dann zwischen Vater und mir sehr belacht, und so waren wir, von der Alten richtig gewiesen, in eine Allee hinter dem Buchwalder Schloss gelangt, wo mein Vater hinwollte. Einige Schritte erst hatten wir in dieser Allee zurückgelegt, als in ihrer sich mehr und mehr verjüngenden Tiefe ein Punkt erschien, in dem meine scharfen Augen einen Wagen mit zwei Pferden davor erkannten. Mein Vater, der ja kurzsichtig war, wollte wissen, wie der Wagen aussähe, was ich ihm aber genau nicht sagen konnte, da selbst für meine Augen die Entfernung zu groß war. Jedenfalls kam der Wagen auf uns zu, und man hatte ja dann Gelegenheit, sich über die Art des Gefährtes klarzuwerden.
Nach zwei Minuten konnte ich meinem Vater versichern, dass es sich um eine recht elegante Equipage handelte, einen der damals neuen Landauer.1 Der Kutscher auf dem Bock trug Livree, und jemand, ein Diener höchstwahrscheinlich, saß in steifer Haltung neben ihm. Es lag nah, an den Grafen X., den Besitzer von Buchwald, zu denken, da die schöne, mit alten Bäumen umsäumte herrschaftliche Zufahrt eine private war.
Kaum hatte ich dies bei mir selbst gedacht, als mein Vater mit einer gewissen Hast ebenderselben Meinung Ausdruck gab. »Gerhart«, hieß es, »raff dich zusammen, geh grade und grüße, wenn der Wagen vorbeifährt, es ist Graf X., und wir sind hier auf seinem Grund und Boden.« Das sah ich ein. Und als nun mein Vater noch das bei ihm übliche kurze Kommando »Brust raus, Bauch rein!« ertönen ließ, schritt ich, als ob ich einen Ladestock verschluckt hätte, neben ihm.
Inzwischen, als die Equipage mit zwei lebhaften Pferden näher und näher kam, wurde mir etwas an diesem Gefährt auf eine Weise, die ich mir nicht erklären konnte, wundersam. Das Befremden lag nun aber wieder darin, dass mir etwas daran bekannt erscheinen wollte. In diesem Augenblick wusste ich noch nicht, dass ich im nächsten den glücklichsten meiner Jugend erleben sollte: schon aber fing er sich im Dunkeln zu regen, zu grauen, zu dämmern und in einer plötzlichen Bestürzung übergrell blendend zu leuchten an. Und so, als ob man mit einem Blick mitten in die Sonne erblindete und aus dieser Blindheit trete ein gottgesandter Engel hervor, so sah ich plötzlich den Diener neben dem Kutscher in meinen ältesten Bruder Georg verwandelt, erkannte aber unseren eigenen Kutscher Friedrich immer noch nicht, unsere Pferde und unsern Wagen ebensowenig, bis ich, das Innere des offenen Landauers überblickend, immer noch meinen Augen nicht traute, als ich im Fond meine Mutter, meine Schwester Johanna und meinen Bruder Carl sitzen sah.
Es hätte damals wirklich nicht viel gefehlt, und ich wäre vor Freude närrisch geworden. Niemals hatte mich, wie erwähnt, Heimweh geplagt. Weder nach Mutter noch Geschwistern hatte ich Sehnsucht empfunden. Aber nun, wie ich mich selbst noch ganz genau zu erinnern vermag und wie Erzählungen in der Familie wieder und wieder bestätigten, sprang ich immer nur mit beiden Beinen in die Luft und war eine Viertelstunde lang nicht zu beruhigen.
Der psychische Prozess dieser Überraschung ist mit all seinem Drum und Dran in mein Inneres geprägt und noch heute wieder hervorzurufen. Er hat mir, wo es Überraschungen darzustellen galt, immer die gleichen guten Dienste geleistet.
*
Vielleicht waren die nun folgenden vier oder fünf Tage die am meisten harmonischen und die glücklichsten, die der Familie je beschieden gewesen sind.
Wir machten Fahrten statt Fußwanderungen, da wir ja nun unsere Equipage hatten, unter anderm auch nach der Josephinenhütte in Schreiberhau, wo mehrere Glasöfen in Betrieb waren und man die Glasbläser beobachten konnte. Wie wir Knaben an Strohhalmen unsere Seifenblasen, so bliesen sie durch metallene Röhren die in Weißglut brennenden Glasmassen auf und gestalteten sie zu allerlei Formen. Wenn ich von diesem Eindruck absehe, der sehr tief und nachhaltig war, blieb mir aus diesen Tagen wenig zurück. Gewiss, sie waren von ungetrübter Heiterkeit, außer dass ich allmählich begriff, die beste Zeit war trotzdem vorüber. Das innige Einvernehmen mit meinem Vater hatte sich in ein allgemeines verflacht, bei dem ich zwar ausgezeichnet und verwöhnt wurde, das mir aber den Vater und Freund eben doch entfremdete.
Bei alledem hatte ich meinen unterbrochenen dionysischen Rausch wieder aufgenommen, war wiederum Chingachgook, siegte in allen Wettrennen mit dem Steppenroß, war wiederum Wildtöter, Affe, Singvogel und führte morgens beim ersten Frühstück, wo mitunter die ganze Familie ein Geist des Übermuts ergriff, Solotänze aus, eine Kunst, von der nur meine Schwester gewusst hatte. Ich hatte mir eine Art Nijinski-Tanz selbst ausgedacht, oder besser: er war als instinktives Bedürfnis aus mir hervorgetreten. Dabei bewegte ich mich in rasanten Fußwirbeln, Sprüngen und dergleichen, wie ich glaube, mit ungewöhnlicher Vielfalt und Leichtigkeit.
So ist diese Badereise zu Ende gegangen.
*
Aus einer zweiten Badereise im Jahr darauf, die mich und den Vater nach Teplitz führte, würde, was unsre psychische Verfassung anlangt, nur eben das gleiche zu berichten sein. Ein Punkt vielleicht ist nicht ganz bedeutungslos, um als neu und besonders erwähnt zu werden, wenn man die Folgen durch ein ganzes Leben ins Auge fasst. Mein Vater gewöhnte mich ans Biertrinken.
Dem schönen böhmischen Bier, besonders dem aus Pilsen, ist die Schuld daran beizumessen. Überall wurde es serviert. Es leuchtete allzu freundlich kristallen-hell, schmeckte allzu edel und rein, um sich als ungesund zu erweisen.
Am dritten Tage verlangte ich schon mit Ungeduld, was mir am ersten noch widerstanden hatte. So kam es, dass neben Vaters vollem Glas immer das meine, ein ebenso großes, stand. Der Eigensinn meines Vaters ging darauf hinaus, mich auch gegen den Alkohol beizeiten fest zu machen.
Daraufhin sprach ihn eines Abends im Restaurant, wo wir saßen, ein Fremder an. Ob es für mich kleinen Knaben wohl gut sein könne, ein ganzes Glas Bier zu trinken. Ja, sagte mein Vater, ich wäre ein etwas blutarmes Kind, und dieses Gemisch von Malz, Hopfen und Alkohol sei als Medizin zu betrachten. Der Fremde schwieg und zuckte die Achseln. Mein Vater war ein zu streng aussehender, ernster Mann und benahm ihm den Mut, sich nach einer solchen Erklärung noch mit ihm einzulassen.
1 Ein Landauer ist eine viersitzige und vierrädrige Kutsche mit einem meist in der Mitte geteilten, klappbaren Verdeck. <<<