Das Abenteuer meiner Jugend. Gerhart Hauptmann
Auch in unserm Haus, das der Gasthof zur Preußischen Krone ist.
Aber was ist ein Gesunder, was ist ein Kranker? Wieso und woher wusste ich das? Wieso wusste ich tausende, abertausende Dinge, nach denen ich kaum irgendjemanden gefragt hatte? Die unendliche Vielfalt der Erscheinungen schenkte sich mir mit Leichtigkeit, es war allenthalben ein heiteres Aufnehmen.
Ich hatte am Dasein ununterbrochen leidenschaftliche Freude wie an einer über alle Begriffe herrlichen Festlichkeit. Ich sträubte mich, wenn ich sie abends durch den Schlaf unterbrechen sollte. Im Einschlafen packte mich Freude und Ungeduld in Gedanken an den kommenden Morgen.
Freilich, das Haus war traulich und nestartig wohltuend. Aber das Schönste daran waren die Fluglöcher. Ich genoss sie vollauf, als ich einer schnellen und selbstständig freien Bewegung fähig geworden war. Ich stürzte des Morgens mit einem Sprung und Freudenschrei ins Freie; manchmal wurde der Schrei nicht laut, sondern lag nur im überschäumenden Gefühl meines ganzen Wesens. Alles in der Natur schenkte sich mir: der Grashalm, die Blume, der Baum, der Strauch, die Berberitze, die rote Mehlbeere, der Holzapfel, alles und alles wurde mir damals zur Kostbarkeit. Dabei hatten sich bereits Höhepunkte des Erlebens meinem Geiste unverlierbar eingeprägt. Das Herumkrabbeln auf einem sonnenbeschienenen Abhang mit gelbem Laub und Leberblümchen unter kahlen Bäumen war ein solcher Höhepunkt. Ich hätte ihn gern zur Ewigkeit ausgedehnt, so wunschlos, so paradiesisch fühlte ich mich. Aber er blieb eine Einmaligkeit, ich suchte vergebens, ihn zu erneuern.
Einmal, ich kann nicht über zwei Jahre alt gewesen sein, überkam mich eine an Verzweiflung grenzende Traurigkeit, die sich in unaufhaltsamem Weinen äußerte und die meine Umgebung sich nicht zu erklären vermochte. Die Erinnerung auch daran befestigte sich in mir. Durch eine mit milchigem Wiesenschaumkraut durchsetzte Wiese angelockt, begab ich mich an das Blumenpflücken. Immer tiefer und tiefer, mich ganz vergessend, geriet ich in die Wiese hinein. Ich weiß nicht, wieso man mich ohne Aufsicht gelassen hatte, sodass ich wohl eine Stunde und länger meiner verträumten Beschäftigung nachgehen konnte. Ein Berg von Cardamine pratensis1 häufte sich. Ich hatte ihn unermüdlich fleißig am Rande der Wiese zusammengetragen.
Und nun auf einmal überkam mich diese allgemeine, ich möchte fast sagen kosmische Traurigkeit. Ich hatte alle diese Blüten, die da tot und welk übereinander lagen, tot gemacht. Wieso aber konnte ich das getan haben? War ich mir doch bewusst, dass ich aus Liebe zu ihnen gehandelt hatte und nicht in der Absicht, ihr Leben zu zerstören oder auch nur ihnen wehe zu tun. Ich wollte mir eben doch nur ihre Schönheit aneignen.
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Der Befehl eines menschlichen Gottes war meines Vaters Gebot.
Eine Mutter wird ihre Kleinen täglich viele Male vergeblich mit den Worten ermahnen: »Bettle nicht!« Die ersten Worte der Kleinsten sind: »Haben, haben!« Mein Vater aber wollte unbedingt vermieden sehen, dass unsere Begehrlichkeit etwa gar den Kurgästen zur Last fiele. Ich, ein besserer kleiner Adam, hielt mich mit bebendem Gehorsam an sein Bettelverbot. Eines Tages kam jedoch einem alten Kurgast, Ökonomierat Huhn, der Gedanke, mich mit einem Spielzeug zu beschenken, das ich mir selber beim Händler aussuchen sollte. Ich wählte einen herrlichen blauen Rollwagen mit Fässern darauf und vier Pferden davor, drückte das Riesengeschenk mit ausgebreiteten Armen an meine Brust und vermochte es kaum fortzuschleppen. Unterwegs nach Hause fiel mir des Vaters Verbot aufs Herz. Zwar gebettelt hatte ich nicht, aber man konnte es leicht voraussetzen, und schließlich sollten wir überhaupt von Fremden nichts annehmen. Bei dieser Erinnerung schrie ich sofort aus Leibeskräften, als ob mich das größte Unglück betroffen hätte. Eine solche tragikomische Mischung des Gefühls in der Brust eines Kindes ist vielleicht eine Seltenheit. Ungeheure Freude über den völlig märchenhaften Neubesitz ward von Entsetzen über den Bruch des Gehorsams überwogen. Ununterbrochen schreiend trat ich mit meinem Schatz ins Haus und vor meine verblüfften Eltern hin, die den scheinbaren Widersinn meines Betragens nicht durchschauen konnten.
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Den gartenmäßigen Ausbau der Kurpromenade nannte man Anlage. In diese Anlagen führte mich täglich meine Kinderfrau, wobei uns ein kleines Hündchen begleitete. Ich liebte es, wie natürlich, sehr. Noch eben hatte ich mit ihm schöngetan, als es in ein Boskett schlüpfte. Völlig verändert kam es heraus. Mit heller Kehle und langer Zunge Laut gebend, umkreiste es rasend in weitem Bogen mich und die Kinderfrau, die mich auf die Arme nahm und das Haus zu erreichen suchte. Das Hündchen aber in seiner kreisenden Raserei behielt uns als Mittelpunkt. Alles wurde auf den gefährlichen Vorgang aufmerksam, wer konnte, floh, auch mein Vater wurde benachrichtigt und zog uns schließlich durch eine Glastür ins innere Haus, wo wir vor dem wahrscheinlich von Tollwut befallenen Tier sicher waren.
Es war uns bis auf den Hausflur nachgefolgt, wo man es glücklicherweise abschließen und also unschädlich machen konnte. Ich sah durch die Scheiben seinen fortgesetzten, wütenden Todeslauf, immer im Kreis, über Stühle, Tische und Fensterbretter hinweg, ich weiß nicht wie lange, eh man es durch den Tod erlöste.
Ich bin diesen tiefen und grausigen Eindruck bis heut nicht losgeworden. Und immer, wenn später einer meiner Hunde in einem Boskett verschwunden ist, wurde ich unruhig und habe die Zwangsvorstellung zu bekämpfen gehabt, er werde schäumend und rasend herausstürzen.
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Ich weiß nicht, wann mir der immerwährende Wechsel von Tag und Nacht, ihre Gegensätzlichkeit im Bereich der Sinne, des Empfindens und der Vorstellung deutlich ins Bewusstsein gedrungen ist und wann sie mir zu bewusster Gewohnheit wurde. Nicht der Tag, aber der Abend und die Nacht sowie alles Dunkel waren mit Furcht verknüpft. Ein solcher Ausdruck der Furcht war schon das Abendgebet, das meine Mutter mich täglich im Bett sprechen ließ:
Müde bin ich, geh’ zur Ruh’,
schließe beide Äuglein zu.
Vater, lass die Augen dein
über meinem Bette sein!
Alle, die mir sind verwandt,
Gott, lass ruhn in deiner Hand …
und so fort.
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Die Furcht des Kindes ist Gespensterfurcht. Sein Tag kennt sie nicht, aber nachts, wenn es wach oder halbwach ist, umgeben es überall Dämonen. Da sie, woran das Kind nicht zweifelt, bösartig sind, gibt man dem geängstigten Knaben, dem furchtsamen Mädchen die Vorstellung eines Schutzengels.