Das Abenteuer meiner Jugend. Gerhart Hauptmann

Das Abenteuer meiner Jugend - Gerhart Hauptmann


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gab es Verzweif­lungs­auf­trit­te, die nach vie­lem gu­tem Zu­re­den mei­ner Beglei­te­rin, und nach­dem sie mich an der Schul­tür un­ter den dort ver­sam­mel­ten Kin­dern al­lein ge­las­sen hat­te, dump­fe Er­ge­bung ab­lös­te.

      Es gab eine kur­ze War­te­zeit, in der sich die klei­nen Lei­dens­ge­nos­sen tas­tend mit­ein­an­der be­kannt mach­ten. Im Haus­flur der Schu­le zu­sam­men­ge­pfercht, pirsch­te sich ein klei­ner Pix an mich her­an und konn­te sich gar nicht ge­nug tun in Ver­su­chen, die Angst zu stei­gern, die er bei mir mit Recht vor­aus­setz­te. Die­se klei­ne schmut­zi­ge Mil­be und Rotz­na­se hat­te mich zum Op­fer ih­res sa­dis­ti­schen In­stink­tes aus­ge­wählt. Sie schil­der­te mir das Schul­ver­fah­ren, das sie eben­so­we­nig kann­te wie ich, in­dem sie den Leh­rer als einen Fol­ter­knecht dar­stell­te und sich an dem gläu­bi­gen Aus­druck mei­nes angst­voll ver­wein­ten Ge­sichts wei­de­te. »Er haut, wenn du sprichst«, sag­te der klei­ne Lau­se­kerl. »Er haut, wenn du schweigst, wenn du nie­sen musst. Er haut dich, wenn du die Nase wischst. Wenn er dich ruft, so haut er schon. Pass auf, er haut, wenn du in die Stu­be trittst.«

      So ging es, ich weiß nicht wie lan­ge, fort, mit den Wor­ten und Wen­dun­gen des Volks­dia­lekts, in dem man sich auf der Stra­ße aus­drückt.

      Eine Stun­de da­nach war ich wie­der zu Haus, aß mit den El­tern ver­gnügt und re­nom­mis­tisch das Mit­tag­brot und stürz­te mich mit ver­dop­pel­ter Lust ins Freie, in die noch lan­ge nicht ver­lo­re­ne Welt mei­ner kind­li­chen Un­ge­bun­den­heit.

      Nein, die Dorf­schu­le mit dem al­ten, im­mer miss­ge­laun­ten Leh­rer Bren­del zer­brach mich nicht. Kaum wur­de mir et­was von mei­nem Le­bens­raum und mei­ner Frei­heit weg­ge­nom­men und gar nichts von mei­ner Le­bens­lust.

      Der Ge­bäu­de­kom­plex des Gast­hofs zur Preu­ßi­schen Kro­ne war im Lau­fe der Zei­ten durch An­bau­ten ent­stan­den. Schwer zu sa­gen, wel­cher sei­ner Tei­le mir zu­erst zu Be­wusst­sein ge­kom­men ist. Ich hat­te wohl erst ein all­ge­mei­nes Ge­fühl sei­ner Uner­gründ­lich­keit. In­so­weit blieb er mir lan­ge un­heim­lich. Ich den­ke auch hier an die Win­ter­zeit. Da war zu­nächst un­ser Win­ter­quar­tier im ers­ten Stock. Es wa­ren die Säle: der so­ge­nann­te Gro­ße Saal und der so­ge­nann­te Klei­ne Saal und end­lich der so­ge­nann­te Blaue Saal, der in Wahr­heit der kleins­te war. Da war fer­ner das Erd­ge­schoss: ein Schnitt­wa­ren­la­den lag dar­in, eine ver­pach­te­te, dem Stra­ßen­be­trieb of­fe­ne Bier­stu­be, die Woh­nung des Fuhr­werks­be­sit­zers Krau­se und die Kro­nen­quel­le, von der schon ge­spro­chen wur­de. Das Haupt­haus, der Klei­ne Saal, die Stal­lun­gen bil­de­ten und um­fass­ten drei­sei­tig einen Hof, des­sen vier­te Sei­te nach der Stra­ße of­fen war. Der Klei­ne Saal aber wur­de von gra­ni­te­nen Pfei­lern, so­ge­nann­ten »Säu­len«, ge­tra­gen. Den un­ter ihm ver­füg­ba­ren Wirt­schafts­raum be­zeich­ne­te man schlecht­hin als Un­term Saal. Über un­serm Win­ter­quar­tier lag ein zwei­ter Stock, wo wir Kin­der, som­mers vom Frem­den­be­trieb zu­rück­ge­drängt, in klei­nen Schlafräu­men un­ser ver­ges­se­nes Da­sein fris­te­ten. Schließ­lich war das Bo­den­ge­schoss mit den Dach­kam­mern ein be­son­de­res Mys­te­ri­um.

      Un­ter die­sen war eine, die so­ge­nann­te Sie­ben­kam­mer, die für uns Kin­der einen un­heim­lich-heim­li­chen Reiz be­saß, ob­gleich sie in Wahr­heit nichts an­de­res als die satt­sam be­kann­te Rum­pel­kam­mer sein woll­te. Wir hät­ten uns schwer­lich im Dun­keln hin­ein­ge­traut. Sonst aber über­traf ihre An­zie­hungs­kraft bei Wei­tem die Furcht, die uns im Ge­dan­ken an sie an­wan­del­te. Auch war die­se Furcht sel­ber an­zie­hend, gleich je­nem Gru­seln, das der Hand­werks­bur­sche im Mär­chen durch­aus ler­nen woll­te.

      Al­tes zer­bro­che­nes oder weg­ge­wor­fe­nes Spiel­zeug von Ge­ne­ra­tio­nen war dar­in in un­ent­wirr­ba­rer, ver­staub­ter Men­ge auf­ge­häuft: Gum­mi­bäl­le, Pup­pen, Haus­rat von Pup­pen­stu­ben, Ham­pel­män­ner, Pfer­de und Fracht­wa­gen, Tei­le von Schä­fe­rei­en und Me­na­ge­ri­en, Schau­kel­pfer­de, und so fort und so fort.

      Al­le­dem hauch­te der kind­li­che Geist be­son­ders im lan­gen Dun­kel der Win­ter­ta­ge fan­tas­ti­sches Le­ben ein. So war denn die Sie­ben­kam­mer – und ist es mir in ge­wis­sem Sin­ne noch heu­te – der Ort, wo auf ge­heim­nis­vol­le Wei­se Ko­bol­de, Feen, Knus­per­he­xen und Zau­be­rer, Hel­den und Men­schen­fres­ser sich Ren­dez­vous ga­ben und durch die Dach­lu­ke nachts beim Mond­schein aus und ein flo­gen. Ich brauch­te nur an sie zu den­ken, um ih­rem Mär­chen­zau­ber, ih­rer gren­zen­lo­sen Ma­gie mit der un­end­li­chen, bun­ten Viel­falt ih­rer Ge­stal­ten an­heim­zu­fal­len. Gehe ich fehl, wenn ich in ihr eine der wich­tigs­ten Rät­sel­quel­len mei­ner spä­te­ren Fa­bu­lier­lust sehe?

      Das Win­ter­quar­tier im ers­ten Stock be­stand aus fünf zu­sam­men­hän­gen­den Stu­ben, wel­che die Num­mern drei bis sie­ben als Tür­schil­der hat­ten. So spra­chen wir Kin­der von der Drei, der Vier, der Fünf, der Sechs und der Sie­ben. Und mit je­der die­ser Zah­len ver­bin­det sich noch heut für mich die Vor­stel­lung ei­nes be­son­ders be­seel­ten Raums. Von al­len strahl­te die Vier viel­leicht die meis­te herz­li­che Wär­me aus, die Fünf und die Sechs wa­ren nicht so trau­lich. Der Cha­rak­ter der klei­nen Sie­ben hat­te sei­ne Be­son­der­heit. Es wa­ren dar­in Rou­le­aus, auf de­nen bun­te Spa­nie­rin­nen mit Frucht­kör­ben auf den Köp­fen zu se­hen wa­ren.

      Die See­len die­ser fünf Räu­me tau­chen noch heut ge­le­gent­lich in mei­nen Träu­men auf, mit man­cher­lei an­de­ren Ele­men­ten ver­bun­den.

      Die Tür der Sie­ben war der Ab­schluss ei­nes län­ge­ren Gangs, dem Fens­ter nach dem Hofe Licht ga­ben. Da­ge­gen hat­te ein klei­ner Al­ko­ven, in dem win­ters Va­ter, Mut­ter und ich schlie­fen, nur ein Fens­ter nach die­sem Flur hin­aus.

      Ein oder zwei Win­ter aus­ge­nom­men, hat sich das Le­ben der Fa­mi­lie haupt­säch­lich in die­sem Teil des Hau­ses ab­ge­spielt.

      Ich sag­te schon, dass mein sonst stren­ger Va­ter mir eine au­ßer­ge­wöhn­li­che Be­we­gungs­frei­heit zu­bil­lig­te, was von Ver­wand­ten und Freun­den viel­fach ge­rügt wur­de. Un­ge­bun­den und über­all neu­gie­rig ging ich dem­nach auf Ent­de­ckungs­fahr­ten aus und wuss­te bald über je­den Win­kel des Hau­ses Be­scheid. Fast täg­lich durch­streif­te ich alle Stock­wer­ke, war da­heim in Gar­ten und Hof, kann­te die ent­le­gens­ten Räu­me, von de­nen ei­ni­ge selt­sam ge­nug und hin­rei­chend un­heim­lich wa­ren.

      Das lei­den­schaft­li­che Le­ben, dem ich da­mals un­ter­lag und das mei­nen zar­ten Or­ga­nis­mus wie ein über­star­ker elek­tri­scher Strom be­wegt ha­ben muss, er­klärt sich nur durch eine un­ge­dul­di­ge Le­bens­gier, die über­all et­was zu ver­säu­men fürch­te­te. »Ger­hart, ren­ne doch nicht so!« sag­te mei­ne Mut­ter. – »Rase doch nicht im­mer so!« sag­te mein Va­ter. – »Du rennst dir die Schwind­sucht an den Hals!« mahn­te mein On­kel Straeh­ler, der schö­ne, von den Da­men ver­göt­ter­te Ba­de­arzt, wo er im Frei­en mei­ner an­sich­tig wur­de. Frau Krau­se, Frau des Fuhr­werks­be­sit­zers im Erd­ge­schoss, die ro­bus­te Bau­ers­frau, hielt sich wie­der und wie­der die Ohren zu und sag­te da­bei: »Hör auf, hör auf, dein Schrei­en macht mich ver­rückt, Jun­ge!«

      Der Wahr­heit ge­mäß wäre viel­leicht zu sa­gen, dass ich um jene


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