Geschichte der Demokratischen Schule. Karl Geller
auf Deutschland entstanden.
Aus sprachlichen, zeitlichen und organisatorischen Gründen wurde ein Fokus auf die westliche Welt gelegt, insbesondere auf Deutschland. Dennoch enthält diese Arbeit so gut wie möglich Informationen zu Schulen aus anderen Teilen der Welt, z. B. Japan, Brasilien, Argentinien, Thailand, Indien und Ägypten.
1. Begriffsklärung
1.1 Übersicht
In der akademischen Literatur finden sich einige stark 1 2 3 4Werteorientierte Definitionen demokratischer Bildung. Es findet sich jedoch keine Definition für Demokratische Schule mit Anspruch auf Vollständigkeit, die eine klare Trennung der Schulen in eindeutig Demokratische und eindeutig nicht Demokratische Schulen zulassen würde und sich gleichzeitig mit dem Selbstverständnis aller Schulen, welche sich explizit der Bewegung Demokratischer Schulen zugehörig fühlen, deckt.
Hattendorf fasst unter Berufung auf Kamp 2006 das pädagogische Grundgerüst Demokratischer Schulen so zusammen:
5»Die beiden zentralen Prinzipien sind persönliche Freiheit und gemeinsame Lösungs- und Entscheidungsfindung. Quer dazu verläuft die grundlegende Annahme der Gleichheit aller Individuen: Jeder hat die gleiche Freiheit und den gleichen Anteil an Entscheidungen.«
Selbst Yaacov Hecht, der den Begriff Demokratische Schule erst etabliert hat, äußert sich in seinem einzigen Buch nicht zu einer Definition6. Er schreibt im Gegenteil, dass es der Schulversammlung der Hadera Democratic School lange nicht gelungen ist, eine Schulverfassung zufriedenstellend aufzuschreiben. Zusätzlich zur demokratischen Schulversammlung als oberstes Entscheidungsgremium wurde deshalb die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als Schulverfassung festgeschrieben.
Er wiederholt diese zwei Grundpfeiler öfters, ohne konkret auf die praktische Bedeutung einzugehen. 7»Of course when we say democratic education, we do not only mean maintaining democratic procedures in a school, but first and foremost the democratic essence which is expressed in the safeguarding of human rights.«
Diese Unschärfe in der Definition ist zum Teil dadurch begründet, dass sich erst 1987 ein Selbstverständnis unterschiedlicher demokratiepädagogischer Schulen als »Demokratische Schule« entwickelte (vgl. Kapitel 3), die heute noch nicht abgeschlossen ist (vgl. Kapitel 2.5.2.2).
8Auch Prof. Dr. Klemm, der vielleicht bekannteste Forscher zu radikalen Schulversuchen im deutschsprachigen Raum, sieht diese Unschärfe insbesondere zu anderen reformpädagogischen Schulen:
»Eine Abgrenzung ist oftmals schwierig, da bewusst und unbewusst Elemente übernommen werden und es unklar bleibt, wer, der oder die ›Erste‹ war. Es kann vielmehr festgestellt werden, dass eine ganze Reihe von inhaltlichen, methodischen und didaktischen Elementen aus reformpädagogischen und Freien Demokratischen Schulen identisch sind. So ist es auch schwierig, hier oftmals eine klare Differenzierung oder Trennung vorzunehmen.«
Einige Demokratische Schulen haben verschiedene Phasen und Modelle der demokratischen Organisation ausprobiert und sich dabei sehr gewandelt. Besonders gut ist dies bei den Pionieren der Demokratischen Schulen zu beobachten, die von der Existenz anderer Demokratischer Schulen nichts wussten. Dabei ist es nicht immer klar, ab welchem Zeitpunkt der jahrelangen internen Schulentwicklung der Status einer »vollwertigen« Demokratische Schule erreicht ist, bzw. verloren ging.
1.2 Zentrale Merkmale Demokratischer Schulen
9Prof. Ulrich Klemm schlägt (statt einer Definition) daher vor, Demokratische Schulen anhand sechs konkreter Merkmale, die sie notwendigerweise erfüllen müssen, zu charakterisieren. Laut ihm erfüllen moderne Demokratische Schulen folgende Aspekte:
1 Keine Noten und keine fremdbestimmten Beurteilungen
2 Altersmischung
3 Bildungs- und Lernfreiheit»Freiheit bedeutet in Demokratischen Schulen, dass jeder das lernt, was er lernen möchte. Dass jeder dann lernt, wann er lernen möchte und dass jeder mit dem zusammen lernt, mit dem er zusammen lernen möchte. Zeit, Raum, Inhalt und Partnerin und Partner beim Lernen sind individuelle Angelegenheiten.«
4 Selbstregulierung und Menschenrechte – Rechte für KinderSo wie Janusz Korczak sein Waisenheim Dom Sierot als folgerichtige Umsetzung der (von ihm formulierten) Kinderrechte sah, so sind auch heute noch Demokratische Schulen darauf bedacht Kinder, ihre fundamentalen Rechte in der Schule zu garantieren. Die Democratic School of Hadera hat eine Art Verfassungsgericht, das Entscheidungen des Lösungskomitees (vgl. Kapitel 2.2.2) im Fall von Menschenrechtsverletzungen aufheben kann.
5 Heterogenität, Vielfalt und Individualität sowie Vernetzung und Institutionalisierung»Transparenz, Vernetzung, Offenheit sind wichtige Basiselemente der Struktur Demokratischer Schulen. Dies zeigt sich einmal im Bezug zu ihrer unmittelbaren Umgebung. Als Demokratische Schulen verstehen sie sich als aktiven Bestandteil der demokratischen Gesellschaft und öffnen sich für den Alltag außerhalb der Schule.«
6. Regelmäßig tagende Schulversammlung
»[…] die 10 ›oberste Autorität‹ ist die Schulversammlung, d. h. eine Vollversammlung aller Schülerinnen und Schüler und Lehrerinnen und Lehrer, die regelmäßig stattfindet und sowohl relevante pädagogische, soziale als auch disziplinarische Fragen erörtert, Entscheidungen trifft und Regeln festlegt.«
11Maria Schiffner macht außerdem darauf aufmerksam, dass nicht die Schulversammlung der rechtliche Träger der Schule ist, sondern eine Rechtsform die demokratisch sein kann (z. B. ein e. V.), aber nicht sein muss (z. B. gGmbH). In jedem Fall kann der Träger der Schule die Meinung der Schulversammlung ignorieren, wenn deren Kompetenz nicht explizit festgeschrieben ist. Auch die assembly der Sudbury Valley School und der Top-kring einiger Soziokratischer Schulen stehen über der Schulversammlung (in der nur Schüler und Lehrer Mitglied sind). In Summerhill war A. S. Neill Eigentümer und oberster Entscheider. Er beschloss Regeln (in seltenen Fällen) auch mal gegen die Autorität der Schulversammlung.
Die Schulversammlung delegiert an den meisten, insbesondere größeren Schulen Aufgaben und Verantwortung an Komitees und Einzelpersonen. Abseits der Kinderrepubliken liest man zuerst bei Sudbury von solchen Komitees, wobei es als wahrscheinlich angesehen werden kann, dass sie zumindest temporär schon vorher existiert haben, um nicht jedes Detail vor der versammelten Gemeinschaft besprechen zu müssen.
Demokratische Schulen haben sowohl Legislative (Schulversammlung, Kreise, …), Judikative (Lösungskomitee, Tribunal, …), als auch Exekutive (12Beddies Officier, Musikraumbeauftragter, …).
13Insofern herrscht eine primitive Gewaltenteilung, die auf freiwilligem Engagement aufbaut.
1.3 Definition der European Democratic
Education Community – EUDEC
14Die EUDEC definiert Demokratische Schulen durch drei Merkmale.
Firm foundations in a values culture of equality and shared responsibility.
Übersetzung: Eine stabile Kultur der Gleichwertigkeit und der gegenseitigen Verantwortung.
Collective decision-making where all members of the community, regardless of age or status, have an equal say over significant decisions such as school rules, curricula, projects, the hiring of staff and even budgetary matters.
Übersetzung: Entscheidungen werden kollektiv von allen Mitgliedern der Gemeinschaft unabhängig von Alter oder Status getroffen. Jeder hat ein gleiches Mitspracherecht zu wichtigen Entscheidungen, wie zum Beispiel Schulregeln, Lerninhalte, Projekte, Anstellung des Schulpersonals und Finanzen.
Self-directed discovery; Learners choose what they learn, when, how and with whom they learn it. Learning can happen inside or outside of the classroom, through play as well as conventional study. The key is that the learning is following the students intrinsic motivation and pursuing their interests.
Übersetzung: Selbstbestimmtes