Geschichte der Demokratischen Schule. Karl Geller
kann innerhalb oder außerhalb des Klassenzimmers geschehen, durch Spiel, ebenso wie durch klassisches lernen/studieren und forschen. Lernen muss der intrinsischen Motivation der Schüler folgen und auf ihre Interessen abzielen.
1.4 Stufen der Demokratie-Entwicklung
an Demokratischen Schulen
Historisch ist es sinnvoll die Demokratischen Schulen im Sinne ihrer Vorläufer mit gleichem Menschenbild (bzw. Kinderbild) weiter zu fassen und auch Schulen ohne (regelmäßige) Schulversammlung zu erwähnen.15
Beispielsweise sind die meisten libertären Schulen (vgl. Kapitel 2.1) keine Demokratischen Schulen nach der Definition aus Kapitel 1.3, in denen die Schulleiter und Lehrer die Entscheidungsmacht auf die Schulversammlung übertragen haben. Dennoch gibt es zahlreiche demokratische Entscheidungsprozesse der Schulgemeinschaft zu Aspekten, die die Gemeinschaft in wichtigen Punkten betreffen. Dies ist allerdings nicht die Norm, sondern die (mehr oder weniger häufige) Ausnahme.
Ein zentrales Anliegen aller in dieser Arbeit erwähnten ideengeschichtlichen Zweige ist ihr Wunsch nach einer Schule, in der ein demokratisches Klima und große individuelle Freiheit herrscht. Ein passender wenngleich unscharfer Überbegriff wäre vielleicht Selbstbestimmung. Außerdem basieren sie alle auf einem ähnlichen Menschenbild. Dieses Menschenbild zieht keine klare Linie zwischen Kind(esalter) und Erwachsenen(alter). Entgegengebrachtes Vertrauen, Rechte und Pflichten hängen daher von der individuellen Situation, dem Wissens- und Könnenstand und nicht vom Alter ab. Die Kinder haben das Recht sich für ihren Weg zu entscheiden. Sie sind frei, ihren Bildungsweg selbständig zu wählen und zu gestalten. Diesen ungefragt zu bewerten ist nicht die Aufgabe der Lehrer, im Gegenteil ist es ihre Aufgabe diesen Weg zu unterstützen, 16 »auch dann, wenn sie den Vorstellungen des Erziehers zuwiderlaufen.«
Es gibt (außer durch staatlichen oder elterlichen Druck) keine Hierarchie der Unterrichtsinhalte und -fächer. Prinzipiell ist alles Wissen gleichwertig. Strafen sind die absolute Ausnahme und kommen sie doch zur Anwendung, dann sind sie vergleichsweise milde oder bestehen aus Wiedergutmachung (z. B. Reparatur zerstörter Gegenstände) statt reiner Bestrafung.
Der Mindestkonsens der Demokratischen Schulen und ihrer direkten Vorläufer ist daher nicht immer die demokratische Schulversammlung, sondern Demokratie als ein Verständnis von Zusammenleben, aufbauend auf gegenseitigem Respekt und größtmöglicher Freiheit des Individuums. Dieser Mindestkonsens bedingt die etwas konkreteren Merkmale, wie sie von Klemm genannt werden (vgl. Kapitel 1.3). Die Merkmale 3, 4 und 6 folgen offensichtlich.
Wenn sich Kinder und Erwachsene mit größtem Respekt und Achtung der persönlichen Freiheit begegnen, dann entstehen ständig neue Gruppenkonstellationen und Aktivitäten. Weswegen eine strenge Alters-, Geschlechter oder andersartige -Trennung sehr unlogisch und deutlich unpraktikabler als eine »natürliche« Trennung nach Sympathie oder Interessen vorkommt (Merkmal 2). Denn Interesse und Sympathie dürfte wohl kaum allein am Alter oder an einem anderen singulären äußeren Merkmal festgemacht werden können (Merkmal 5).
Ebenso unnatürlich wirkt eine ungefragte Bewertung nach standardisierten Maßstäben, wenn sich Lehrer und Schüler auf Augenhöhe begegnen und kein allgemeines Curriculum zu Grunde legen (Merkmal 1). Wobei letzteres direkt aus der individuellen Lernfreiheit folgt.
Kein Curriculum bedeutet in der praktischen Konsequenz, dass Kinder ihren natürlichen Interessen folgen und erklärt die von Klemm genannte Vernetzung nach Außen (Merkmal 5).
Konkret gibt es zwei Aspekte dieses Mindestkonsens und damit wesentliche Merkmale Demokratischer Schulen, die unterschiedlich stark ausgeprägt sein können und sich beide im Verlauf der Geschichte spürbar stärker ausgeprägt haben.
1. Freiheit
Freiheit vor allem im Sinne von Lernfreiheit, also die Freiheit was, wann, wie, wo, mit wem und ob gelernt wird selbst zu entscheiden. Einige andere Schulen der Reformpädagogik, darunter insbesondere die Montessorischulen haben bereits das Wie, Wann und mit Wem deutlich freier gestaltet, als es die staatlichen Schulen getan haben. Was aber gelernt wird, bzw. ob überhaupt gelernt werden muss, haben nur die wenigsten Schulen ihren Schülern freigestellt.
2. Demokratische Entscheidungskultur
Die zweite historische Entwicklung ist die der Etablierung der demokratischen Entscheidungskultur. Dies kann von situativen Gemeinschaftsentscheidungen und situativer Beachtung der Kinderwünsche durch die Pädagogen bis zur Schulversammlung als höchstes beschlussfähiges Organ der Schule gehen. Die ersten Schulen und Kinderrepubliken mit Parlament, wie Summerhill und die George Junior Republic waren auch im Alltag stark durch die Gründerväter geprägt, die sich (wenn auch selten) gegen den Willen der Mehrheit stellten. Eher beeinflussten sie Mehrheitsentscheidungen durch ihre Position und ihr Charisma, manchmal stellten sie sich aber auch ganz offen gegen eine getroffene Entscheidung. Darüber hinaus gab und gibt es an manchen Schulen Fragen, die grundsätzlich nicht von der Schulversammlung entschieden werden können, wie die Einstellung der Lehrer in Summerhill. Wichtig für alle Demokratischen Schulen ist aber, dass jedes Mitglied der Schulgemeinschaft Teil der Schulversammlung ist. Lediglich die Soziokratischen Schulen funktionieren mit imperativen Mandaten für das höchste beschlussfähige Organ. Allerdings reicht zur Wahl der Vertreter keine einfache Mehrheit aus. Es braucht einen Konsent (vgl. Kapitel 2.5.1), wodurch indirekt wieder alle an der Entscheidung beteiligt sind.
Jüngere Schulgründungen schafften immer häufiger »den Sprung« von der Schülermitbestimmung zur selbstorganisierten Schule mit der Schulversammlung als höchstes Gremium, oder wurden gleich so gegründet. Dies ist sehr wahrscheinlich vor allem der Sudbury School und ihren vielen Nachfolgern zu verdanken. Methodos e. V. (vgl. Kapitel 2.6.2), besetzte Schulen (vgl. Kapitel 2.7) und die Schule für Erwachsenenbildung (vgl. Kapitel 2.7.2) zeigen, wie Lehrer sogar komplett oder weitestgehend aus der Organisation der Schule herausgehalten werden können.
Auffällig ist, dass es keine Schule mit Schulversammlung zu geben scheint in der selbstbestimmtes Lernen nicht erlaubt ist, wenn gleichzeitig die Schulversammlung mit umfassenden Kompetenzen ausgestattet ist. Eventuell Ausnahmen davon sind das Dom Sierot (vgl. Kapitel 2.3) und Paideia (vgl. Kapitel 2.1.4). Allerdings habe ich hier den Eindruck, dass ein Schüler der selbstbewusst formuliert was er lernen oder nicht lernen möchte keine strafenden Konsequenzen befürchten muss. Auch wenn ich es für wahrscheinlich halte, dass Lehrer in manchen Fällen versuchen argumentativ auf den Schüler einzuwirken etwas (anderes) zu lernen. Die ausgewertete Quellenlage ist dazu leider nicht eindeutig.
Darüber hinaus unterscheiden sich die Schulversammlungen durch die Art der Entscheidungsfindung. Mit dem Aufkommen der Soziokratischen Schulen entstand eine Alternative zur Mehrheitswahl: der Konsent (vgl. Kapitel 2.5.1).
Die Mehrheitswahl verhindert zumindest in der Theorie die Herrschaft einer Minderheit (z. B. Lehrer) gegenüber der Mehrheit (z. B. Schüler). Der Konsent hat zudem den Anspruch auch die Minderheit vor der Mehrheitsmeinung zu schützen. Dennoch beschränkt eine voll entwickelte Soziokratie in der Praxis das direkte Mitspracherecht in Kreisen, in die man nicht delegiert wurde und/oder auf Grund der damit einhergehenden Verpflichtung nicht delegiert werden wollte.
Es gibt Agile Learning Center, deren Schulversammlung mit eingeschränkter Entscheidungskompetenz ausgestattet ist und im Konsent entscheidet und Sudbury-Schulen die in ihrer Schulversammlung (hier höchstes Organ der Selbstverwaltung) mit Mehrheit entscheiden. Bei beiden ist offensichtlich ein höherer Grad an Demokratie erkennbar, als bei einer Schule deren Schulversammlung eingeschränkte Kompetenzen hat und per Mehrheitsbeschluss entscheidet. Ein Vergleich der beiden Modelle in Bezug auf den Grad ihrer Demokratisierung macht pauschal allerdings keinen Sinn. Wenn überhaupt dann ist dies im Einzelfall sinnvoll und möglich.
Ich schlage deshalb eine Wertebasis und drei aufsteigende Demokratisierungs-Stufen für die Einteilung Demokratischer Schule vor:
0. Selbstbestimmtes Lernen ohne Schulversammlung
1. Schulversammlung mit eingeschränkter Entscheidungskompetenz (Organisation des Alltags und des Lernens)
2. Schulversammlung als höchstes Organ der Selbstverwaltung