Achtsamkeit für alle. Jon Kabat-Zinn

Achtsamkeit für alle - Jon Kabat-Zinn


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in Verbindung setzen und vielleicht helfen zu wollen. Aber dem Impuls geht ein Moment nicht-begrifflichen Erkennens voraus, ein spontanes Erkennen, bevor Gedanken auftauchen, dass von uns irgendetwas erwartet wird – vielleicht einfach nur, dass wir jemandem in einem heiklen Moment ein Lächeln schicken, oder auch mehr, dass wir vielleicht einem anderen unbemerkt etwas Großzügiges zukommen lassen. Dieses Erkennen ist ein Moment unaufgeforderten Wahrnehmens, der aus der Bewusstheit selber entspringt. Das ist Achtsamkeit.

      Die Initiative könnte von allem ausgehen, was im jeweiligen Moment eine herzerfüllte und herzliche Antwort entstehen lässt: sei es nun eine nahestehende Person (vielleicht Ihr Kind) oder aber eine Obdachlose auf der Straße oder im Straßenverkehr die Person im nächsten Auto. Der Akt selber ist nicht so wichtig. Das Erkennen ist wichtig. Und diese Erkenntnisfähigkeit ist angeboren. Sie ist unsere menschliche Grundausstattung. Dieser Moment des Erkennens ist ein Moment spontaner Achtsamkeit. Er ist ein Moment des Nicht-Isoliert-Seins. Er ist nicht durch Gedanken vermittelt, obwohl er später natürlich durch Gedanken verstärkt und abgerundet werden kann. Er ist ein direktes, sich im Moment entfaltendes Auffassen, dem spontan eine direkte, (hoffentlich) angemessene Aktivität folgt, falls Aktivität gefragt ist oder entsteht (was nicht immer der Fall sein muss).

      Zu dieser Art des Erkennens im gegenwärtigen Moment sind wir alle fähig. Wir sind von vornherein schon darin aktiv, wenn die Umstände es von uns verlangen. Warum es also nicht jeden Moment tun? Warum nicht Moment für Moment erkennen, was sich in der Wirklichkeit in Ihnen und um Sie herum entfaltet? Das ist Achtsamkeit. Es ist diese in uns angelegte Fähigkeit, zu erkennen, was im Moment am meisten ins Auge springt, am wichtigsten ist, am dringendsten gefragt ist. Sie werden erleben, dass diese Fähigkeit zutiefst vertrauenswürdig ist.

      Und wir haben sie schon, oder wir könnten sagen: Wir sind sie schon. Es ist im Grunde genau diese Fähigkeit – einfach zu sehen, was zu sehen ist, und dann zu handeln! Dieses Handeln auf der Basis dessen, was wir erfassen, was wir erkennen, sieht manchmal so aus, als würden wir in diesem Moment der Bewusstheit gar nichts tun. Es ist aber nicht so, sogar wenn Sie gar nichts machen, nicht einmal lächeln. Warum? Weil sich in Ihnen schon etwas gerührt hat. Warum diese angeborene Fähigkeit zum Erkennen der Dinge, wie sie sind, nicht anerkennen? – jenseits aller Etiketten und Gedanken über sie, jenseits von Namen und Formen, sondern vorstoßend zur Essenz dessen, was im Moment vor sich geht, ohne Begriffe, bevor das Denken einsetzt, oder hinter den aufsteigenden Gedanken?

      Und warum nicht dieses Erkennen fördern, damit es sich in andere Bereiche unseres Lebens ausbreitet? Warum diesen latenten Keim in uns nicht nähren? Er ist schließlich eine Form der Intelligenz! Gut möglich, dass er sogar unsere liebenswerteste Qualität darstellt, von allen unseren menschlichen Qualitäten, die Fähigkeit, die in diesem Moment unserer Entwicklung vielleicht den entscheidenden Beitrag leistet, dass wir uns als Spezies weiterentwickeln können. Natürlich werden dann ein paar geschäftstüchtige Leute bald »Herzensgüte«-Armbändchen oder -seminare anbieten. Aber warum etwas kaufen oder zur Ware machen, was man bereits besitzt? Etwas, was bereits zur Grundausstattung unseres Wesens gehört? Warum sich nicht einfach damit anfreunden? Warum es nicht als Kompass benutzen und sich im Leben davon leiten lassen?

      Oder, um die Metaphern zu wechseln: Warum die Welt nicht durch das Objektiv direkter Wahrnehmung sehen – des Erkennens –, und im Einklang mit den eigenen, lebendig verkörperten Werten leben? Warum sich nicht mit anderen zusammentun, denen dieselben Dinge am Herzen liegen wie Ihnen, und neue und kreative Wege finden, um verständiger mit unseren Lebensmomenten und den Chancen, für uns und andere eine Hilfe zu sein, in Beziehung zu treten? Um die Gesellschaft umzugestalten und nicht nur das Nicht-Verletzen als Leitprinzip in allen Beziehungen zu etablieren (wie beim Hippokratischen Eid in der Medizin, wenn er ernst genommen wird), sondern auch konkrete Schritte zu unternehmen, die Wunden im sozialen Gewebe zu heilen, die Wunden des Rassismus, der Ungleichheit, des Unrechts und der Armut, so gut es uns möglich ist, indem wir ganz bewusst die archaischen Impulse unseres Stammesdenkens niederringen und sie, so ist zu hoffen, in Momenten der Klarheit überwinden? Unser »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns«, bei dem wir diejenigen begünstigen, die uns ähnlich scheinen, und diejenigen dämonisieren, entmenschlichen, beschimpfen oder ignorieren, die anders sind – und damit letztendlich, unwillkürlich, uns selbst.

       Demokratie 2.0 – ein dringend benötigtes Update mittels Achtsamkeit und Herzerfülltheit

      In diesem Buch geht es um die Verwirklichung der Achtsamkeit nicht nur im persönlichen Leben, sondern in der größeren Welt, die wir zusammen bewohnen. Thomas Jefferson sagte einmal: »Dem kollektiven Körper ist Freiheit das, was dem Körper des Einzelnen die Gesundheit ist. Ohne Gesundheit kann der Mensch sich keines Vergnügens erfreuen; ohne Freiheit kann die Gesellschaft sich keines Glückes erfreuen.« Sicher hatte er recht. Und gleichzeitig war er ein Sklavenhalter, der trotz seiner Worte in der Unabhängigkeitserklärung, alle Menschen seien gleich geschaffen, anderen menschlichen Wesen die Freiheit verweigerte. Wir haben hier also eine ziemliche Ironie und Widersprüchlichkeit vor uns und den schmerzhaften Beweis, wie langsam der Prozess hin zu echter Demokratie vor sich geht, und wie mühsam es ist, aus den zahlreichen, schwer zu erkennenden Zwängen der eigenen Zeitumstände auszubrechen, die die Evolution und die Verwirklichung solch einer Abstraktion behindern, wie nobel und ehrwürdig sie auch immer sein mag. Die Errungenschaften der Zivilisation verwirklichen sich nie für alle. Den Versklavten ist ihr Sklavendasein stets bewusst. Für sie lässt es sich mit hehrer Rhetorik nicht übertünchen. Sie kennen die Wahrheit, weil sie die Unterdrückung erleben. Sogar im alten Athen, dem wir die Idee der Demokratie verdanken, war die Sklaverei ein wesentliches Element der sozialen Struktur. Und wenn wir über Sklaverei sprechen, dieses absolute Gegenteil von Freiheit: Wer kann sich auch nur ansatzweise vorstellen, welches Leid sie in die Welt gebracht hat und immer noch bringt? Dasselbe könnte vom Status der Frauen gesagt werden, denn die Athener Frauen waren vom demokratischen Prozess ebenfalls ausgeschlossen. Und was das betrifft: Noch vor weniger als hundert Jahren existierte eine verheiratete Frau in den USA ohne ihren Ehemann rechtlich gar nicht.

      Das ist einer der Hauptgründe, warum die Demokratie selbst und die Befreiung aller Mitglieder der menschlichen Gesellschaft und der menschlichen Familie normalerweise ein Evolutionsprozess über mehrere Generationen ist, im Moment noch sehr stark »in Arbeit«, ohne Erfolgsgarantie (wie immer der Erfolg auch aussehen könnte in einer Welt, in der das einzige Beständige der Wandel ist).

      Allerdings beschleunigt sich dieser kulturelle Evolutionsprozess11 so, wie die Zeit selber und die Umwälzungen, die Wissenschaft und Technik mit sich gebracht haben und in der Zukunft noch viel mehr mit sich bringen werden – während unserer Lebensspanne und in der unserer Kinder und Enkelkinder. Zu dem, was also nötig werden wird, gehören demokratisch beschlossene Gesetze, die die Institutionen der Teilhabe in der politischen Körperschaft des Gemeinwesens und die elementare Selbstbestimmung aller seiner Mitglieder schützen, die – wenn Sie so wollen – in jedem Land (und letztendlich auf dem ganzen Planeten) die Körperzellen des politischen Gemein-»Wesens« oder »-Körpers« sind.

      Wir könnten diese sich abzeichnende Möglichkeit vielleicht »Demokratie 2.0« nennen. Das wäre ein »Upgrade«, das die vielen Widersprüche und Machenschaften erkennt und verhindert, die wir im Laufe der Jahrhunderte erlebt haben, und die öfters, ja heute noch, manchen Mitgliedern der Gesellschaft auf Kosten von anderen maßlose Privilegien eingeräumt haben.12 Das geschieht auf vielfältige Weise: vom Genozid und der nackten Versklavung bis hin zur strukturellen Gewalt durch Gesetze, die einige Wenige begünstigen – durch ererbten Reichtum, Machtstellung, Bildung oder pure Willkür – auf Kosten der vielen, die nicht in den Genuss solcher Vorteile kommen. Treibende Kraft hinter solchen Asymmetrien ist letztendlich immer Gier oder Hass oder Verblendung; ein Protektionismus in Bezug auf die eigenen Privilegien und eine fundamentale Missachtung gegenüber der Idee der Chancengleichheit. Solche Elemente beschneiden das Recht aller Mitglieder der Gesellschaft (und Bewohnerinnen des Planeten) auf ein Leben ohne unfaire und ungerechtfertigte Zwänge, egal ob rechtlich, wirtschaftlich oder die Bildung betreffend. Diese Asymmetrien anzugehen, wird gesellschaftlich noch wichtiger werden, wenn viele Formen menschlicher Arbeit zunehmend von Algorithmen und Robotern übernommen werden.

      Natürlich hat es in den letzten zweihundert Jahren beim Lebensstandard,


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